Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Friedrich Engel, dem die Teilnahme an der Erschießung italienischer Geiseln vorgeworfen wird – 1944 –, lebt seit Jahrzehnten unbehelligt in Hamburg. Er wurde 1999 in Abwesenheit von einem italienischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat:
Erstens: Welche Maßnahmen hat die Staatsanwaltschaft Hamburg ergriffen seit Bekanntwerden der Tatsache, daß Friedrich Engel nach wie vor in Hamburg lebt?
Frau Abgeordnete Dr. Kähler. Ich muß zur Beantwortung der ersten Frage etwas weiter ausholen. Das hängt natürlich zusammen mit dem langen historischen Vorlauf.
Seit 1969 weiß die Staatsanwaltschaft Hamburg, daß Dr. Engel in Hamburg lebt. Damals war der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige aus dem privaten Umfeld von Engel übersandt worden. Der Anzeigende berichtet in diesem handschriftlichen Brief über ein Gerücht, wonach ein in Hamburg lebender Dr. Engel als SS-Standartenführer an den Geiselerschießungen in Oberitalien beteiligt gewesen sein soll. Der Anzeigende fährt in der Anzeige, die mir vorliegt, fort, er habe keinerlei Beweise für seine Behauptung.
Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin mit Vorermittlungen begonnen, und es hat sich herausgestellt, daß nur allgemeine Erkenntnisse über die Funktionen des Engel herausgefunden wurden, nämlich die Funktionen, die Engel im Nazi-Deutschland ausgeübt hatte. Außerdem ergab sich aus einem Bericht der Kriminalpolizei, daß Engel in drei Verfahren bei anderen Staatsanwaltschaften als Zeuge vernommen worden war. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat das Verfahren, nachdem sich ausdrücklich aus den Mitteilungen der Kriminalpolizei ergab, daß keinerlei konkreter Verdacht gegen Engel habe ermittelt werden können, im Juli 1969 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Zur Begründung hat die Staatsanwaltschaft sich darauf bezogen, daß keine der Vernehmungen Engels zu einer Verfahrenseinleitung gegen ihn geführt hätten, weder in Hamburg noch außerhalb Hamburgs.
Heute wissen wir, daß die italienischen Ermittlungsbehörden Hunderte von Akten betreffend deutsche Kriegsverbrechen – darunter war auch die Akte Engel – jahrzehntelang im „Schrank der Schande“ haben verschwinden lassen, und, was fast noch schlimmer ist, sie haben diese Akten auch aus allen Registern gelöscht. Dieser Umstand führte dazu, daß alle Bitten deutscher Staatsanwaltschaften aus den sechziger Jahren um Übersendung von Kriegsverbrecherakten abgelehnt wurden mit dem Hinweis, solche Akten gebe es nicht. Diese Akten waren also nicht auffindbar. Das führte dazu, daß jede Aufklärung dieser Taten in Deutschland bis weit in die neunziger Jahre hinein unmöglich gemacht wurde. Erst Anfang der neunziger Jahre öffneten die Italiener diesen „Schrank der Schande“, also 50 Jahre nach Begehung der Taten.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg wurde erst im Mai 1997 erneut auf den Fall Engel aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt ging über das italienische Justizministerium ein Rechtshilfeersuchen der Militärstaatsanwaltschaft in Turin ein. Dort wurde um die Vernehmung von Engel im Zusammenhang mit Beschuldigungen wegen Kriegsverbrechen aus der Zeit 1944/1945 gebeten. Natürlich hat die Hamburger Staatsanwaltschaft oder in diesem Fall die Hamburger Justizbehörde, die für Rechtshilfeersuchen zuständig ist, diesem Ersuchen entsprochen. Engel ist vor die Staatsanwaltschaft geladen worden, und er ist dort am 23. Oktober 1997 erschienen. Er hat erklärt, er sei aussagebereit, aber er erbitte zuvor Akteneinsicht. Dies ist ein selbstverständliches Recht eines jeden Beschuldigten.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat ihm erklärt, das gehe in Ordnung, allerdings müsse er dazu einen Rechtsanwalt beauftragen. Das hat er umgehend getan. Schon eine Woche später hat sich ein deutscher Rechtsanwalt für Engel zur Akte legitimiert und um Akteneinsicht gebeten.
Diese Akteneinsicht – es ging um italienische Unterlagen – konnte die Staatsanwaltschaft Hamburg nicht ohne weiteres gestatten. Sie hat in Italien zurückgefragt, ob Engel Akteneinsicht in die italienischen Unterlagen erteilt werden dürfe.
Aus Italien ist auf diese Bitte, die mehrfach wiederholt worden ist, zu keiner Zeit geantwortet worden. Inzwischen kamen parallellaufend Anfragen aus Rom über Interpol und über das BKA, und am 30. März 1998 fragte das BKA bei uns nach dem Sachstand. Wir konnten nur darauf hinweisen, daß wir in Italien zurückgefragt und bis heute, trotz vieler Rückfragen, keine Antwort bekommen haben.
Im September 1998 übersandte die Staatsanwaltschaft Dortmund – jetzt kommt ein parallellaufender Vorgang, der mit den italienischen Unterlagen überhaupt nichts zu tun hat – an die Hamburger Staatsanwaltschaft ein dort eingeleitetes Vorermittlungsverfahren gegen Angehörige der SS in Genua. Auch dort ging es um Exekutionen aus den Jahren 1944 und 1945. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Hamburg im Oktober 1998 – also noch lange vor der Verurteilung Engels in Italien – ein sogenanntes Vorermittlungsverfahren ein. Sie trug natürlich zunächst Erkenntnisse aus hier anhängig gewesenen Verfahren – zum Beispiel die Zeugenvernehmung Engels – zusammen.
Ich will in diesem Zusammenhang erwähnen, es gibt ein großes Verfahren gegen den Nazi-Verbrecher Streckenbach, und in dem Zusammenhang war auch Engel vernommen worden. Das ist deswegen wichtig, weil wir dort später auch die „kleine“ Akte Engel aus 1969 als Beiakte ermittelt haben.
Im November 1999 richtete die Staatsanwaltschaft im Rahmen des eingeleiteten Vorermittlungsverfahrens wiederum ein Auskunftsersuchen an Italien. Es wurde um Auskunft über den Sachstand des dortigen Verfahrens gebeten. Es wurde um Übersendung von Unterlagen und Mitteilung der näheren Tathergänge gebeten. Diese Bitte wurde fünf Monate später, im März 2000, erfüllt. Es kamen einige Unterlagen. Das inzwischen ergangene Urteil aus November – am 15. November war dort in Abwesenheit ein Urteil gegen Engel ergangen – wurde übersandt und 200 Seiten aus den italienischen Unterlagen.
Die Staatsanwaltschaft sichtete zunächst diese Unterlagen, nahm eine vorläufige Bewertung vor und beauftragte im September ein qualifiziertes Dolmetscherbüro. Natürlich kann man an italienischen Unterlagen nicht ohne weiteres erkennen, ob sie für uns relevant sind. Dort wird teilweise nach ganz anderen Gesichtspunkten vorgegangen. Im Januar 2001 stieß die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem eben von mir schon erwähnten Verfahren Streckenbach auf Seite 6170 auf einen Vermerk aus 1969. Darin wird berichtet, daß das Vorermittlungsverfahren gegen Engel in 1969 eingestellt war. Diese Akte ist im April 2001 als Beiakte bei dem Streckenbach-Verfahren aufgefunden worden.
Im März 2001 erteilte die Staatsanwaltschaft einen Auftrag an das mit der Sache befaßte Dolmetscherbüro zur Übersetzung aller 200 Seiten. Darin befinden sich Protokolle von Zeugenaussagen aus der Hauptverhandlung gegen Engel. Seit sechs Tagen liegen diese übersetzten Unterlagen vor und werden derzeit ausgewertet.
Zur zweiten Frage: Die Staatsanwaltschaft führt das Verfahren gegen Dr. Engel inzwischen nicht mehr als Vor-, sondern als Ermittlungsverfahren. Ich sagte eben schon, die vorliegenden Übersetzungen werden derzeit ausgewertet. Das Landeskriminalamt 821 ist vor fünf Tagen beauftragt worden, die einschlägigen bundesdeutschen Archive zu durchforsten, um alles, was dort eventuell gegen Engel vorliegen könnte, herauszusuchen. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft Kontakt mit den Staatsanwaltschaften Dortmund und Osnabrück aufgenommen, weil dort Parallelverfahren gegen SS-Führer aus Genua ermittelt worden sind. Diese Unterlagen sind vor zwei Tagen bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt also und geht davon aus, daß sie die Ermittlungen in wenigen Monaten wird abgeschlossen haben können.
Wie viele Personen arbeiten an den Ermittlungen, und sind das Leute, die sich mit NS-Verfahren auskennen und damit Erfahrung haben?
Tätig an der Ermittlung ist der Abteilungs- und Hauptabteilungsleiter, der auch in der Vergangenheit mit NS-Verfahren beschäftigt war. Es sind also Fachleute.
Meine zweite Frage: Was unterscheidet nach Ihrer Kenntnis den Ermittlungsstand in 1969 von dem Ermittlungsstand in Dortmund, erhebliche Jahre später, und vor allem aber von den Vorermittlungen in 1998? Was weiß man heute, was man damals nicht schon hätte wissen können?
Frau Abgeordnete Uhl, die Ermittlungen pflegt nicht der Staatsanwalt zu machen, sondern das LKA. Ich habe berichtet, das LKA ist auch hier selbstverständlich im einzelnen beauftragt und tätig, aber die beiden Staatsanwälte sind Herren des Ermittlungsverfahrens und kümmern sich selbstverständlich intensiv darum. Es wäre aber ein Irrtum zu meinen, das machten alles nur die Staatsanwälte. Das ist 1969 nicht so gewesen und auch in Dortmund und Osnabrück nicht.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe ausgeführt, daß die Unterlagen, die überhaupt etwas darüber aussagen, was Engel und anderen deutschen Kriegsverbrechern zur Last gelegt wird – ungefähr 700 Akten sind in Italien zurückgehalten worden –, überhaupt erstmals 1997/1998 in Deutschland aufgetaucht sind. Damals hat Dortmund angefangen zu ermitteln und andere Staatsanwaltschaften auch.
Frau Senatorin! Sie haben dargestellt, daß jetzt andere Archive – ich vermute, auch die Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen, Ludwigsburg – herangezogen wurden, um weitere Informationen zu bekommen. Deswegen möchte ich Sie fragen, warum dies nicht 1969, 1997 und 1998 bereits geschehen ist?
Meine zweite Frage: Nachdem Italien 1997 nicht auf die Bitte geantwortet hat, Akten für die Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen, warum ist nicht ein Staatsanwalt aus Hamburg nach Italien gefahren, um das Verfahren zu beschleunigen?
Herr Abgeordneter Zamory! Wir haben anderenorts schon darüber gesprochen, daß die Ermittlungen, die 1969 geführt wurden, nicht weitergeführt haben. Es hat damals Frau Staatsanwältin Grabitz die Ermittlungen geführt, heute Oberstaatsanwältin, die als integre und außerordentlich engagierte Verfolgerin von NS-Verbrechen in der gesamten Bundesrepublik und weit darüber hinaus bekannt ist. Ich habe Frau Grabitz in Judenmord-Prozessen Anfang der siebziger Jahre, an denen ich teilgenommen habe, erlebt. Es gab kaum eine gefürchtetere Ermittlerin als sie. Sie hat das auch entsprechend dokumentiert. Das ist in der ganzen Welt, insbesondere auch in Israel, hochanerkannt. Wenn diese Staatsanwältin 1969 zum Ergebnis kommt, es kann gegen Engel keine weiteren Ermittlungen geben, dann sind wir nicht in der Lage, über 30 Jahre später zu sagen, aus unserer Kenntnis des Heutigen zu sagen – niemand wußte, daß diese Akten in Italien zurückgehalten
wurden, sie waren ja verschwunden –, die Staatsanwaltschaft habe damals einen Fehler gemacht. Ich habe Ihnen kürzlich bei anderer Gelegenheit gesagt, selbstverständlich wird Frau Grabitz sofort als erstes in Ludwigsburg angefragt haben, denn sie arbeitete ständig mit Ludwigsburg zusammen. Ich habe sie jetzt nicht erreichen können, ich weiß aber, daß im Zusammenhang mit den hier auftauchenden Berichten Frau Grabitz angesprochen worden ist, zum Beispiel auf die Frage, ob sie vielleicht wisse, wo die Akte aus 1969 sein könnte. Sie hat auch wertvolle Hinweise gegeben.
„Nach dem Ermittlungsbericht der Kripo-Sonderkommission ist der Beschuldigte (Engel) in zwei Verfahren wegen Erschießungen in Italien sowie im Reichssicherheitshauptamtsverfahren als Zeuge vernommen worden. Hierbei ist er jeweils auch zu seiner eigenen Tätigkeit vernommen worden. Keine dieser Vernehmungen hat dazu geführt, daß gegen den Beschuldigten Verfahren eingeleitet worden sind. Die Tatsache, daß der Beschuldigte ab Januar 1944 als SS-Sturmbannführer Leiter des Außenkommandos (AK) Genua war, reicht nicht aus, um aufgrund des durch keinerlei Beweise konkretisierten Verdachts des Anzeigenden ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten zu führen.“
Es bringt uns nicht weiter, wenn wir sagen, aus heutiger Sicht hätte man weitermachen müssen. Alle Bemühungen, um an diese Unterlagen zu kommen, wären im Sande verlaufen. Wir wissen aus vielen Verfahren, daß Mitte der sechziger Jahre deutsche Behörden versucht haben, an diese Akten zu kommen. Damit meine ich die 700 zurückgehaltenen. Das ist in keinem Fall gelungen. Das zu Ihrer ersten Frage.
Meine erste Frage ist noch nicht vollständig beantwortet, weil die Frage war, warum 1997 und 1998 nicht mit Ludwigsburg Kontakt aufgenommen wurde.