Protocol of the Session on June 4, 2003

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[Antrag der Fraktion der GAL: Prävention lohnt sich! Pilotprojekt gegen das Schulschwänzen! – Drs. 17/2706 –]

Diese Drucksache möchte die GAL-Fraktion an den Schulausschuss überweisen. Wer wünscht das Wort? – Die Abgeordnete Goetsch hat es.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die wissenschaftlichen Belege sind ganz eindeutig, dass sich Prävention lohnt. Prävention lohnt sich, das heißt, die Vorsorgemaßnahmen gegen Gewalt und Delinquenz unter Jugendlichen, die seit Jahren in Schulen und bei der Jugendhilfe eingesetzt wurden, haben zu einer positiven Trendwende geführt. Wir haben schon in der letzten Bürgerschaftssitzung in einem Antrag, der gestern im Jugend- und Sportausschuss behandelt wurde, gefordert, dass die Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, das in den Jahren 1998 und 2000 unter Leitung von Professor Wetzels eine repräsentative Befragung unter Schülerinnen und Schülern zu Gewalt und Jugendkriminalität durchgeführt hat, diese Tendenz deutlich oder sichtbar gemacht hat, dass auch die hamburgspezifischen Auswertungen...

(Unruhe im Hause – Glocke)

Meine Damen und Herren! Ich darf um etwas mehr Ruhe bitten.

Es handelt sich jetzt natürlich um ein ernsthaftes, ruhigeres Thema und wir sind vielleicht nicht mehr so emotionsgeladen. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir uns dieser Sacharbeit widmen.

Interessant ist dabei, dass diese Trendwende im Kontext mit Gewalt und Jugendkriminalität nicht erst im letzten Jahr eingesetzt hat, sondern bereits 1999 aufgrund von Maßnahmen begonnen hat. Der Rückgang – laut Kriminalstatistik um circa 19,1 Prozent im Jahre 2002 – ist also das Ergebnis eines lange begonnenen Prozesses. Deshalb ist der Weg der Prävention richtig. Er muss fortgeführt werden und darf in diesem Bereich auch aus Spargesichtspunkten nicht aus dem Blickfeld geraten.

Wir haben, wie eben schon gesagt, in der letzten Bürgerschaftssitzung einen Zusatzantrag zur Großen Anfrage der CDU eingereicht. Ich habe gerade eben gehört, dass gestern im Jugend- und Sportausschuss leider nicht beschlossen wurde, diese Studie in Selbstbefassung zu diskutieren. Ich bedauere das sehr, denn das Thema Jugendkriminalität, Jugendgewalt ist sehr ernst.

Jetzt zu dem heutigen Antrag, der sich konkret aus dieser Studie ergibt. Das brisanteste Ergebnis dieser Studie ist, dass ein Zusammenhang zwischen massivem Schulschwänzen und delinquentem Verhalten von Jugendlichen besteht. Gemeint ist nicht, was auch einige aus meiner Fraktion schmunzelnd sagen, dass man irgendwann einmal eine Chorstunde in der sechsten Stunde

oder eine stinklangweilige Lateinstunde geschwänzt hat. Das wird sicherlich nicht schon der Beginn einer kriminellen Karriere sein. Darum geht es nicht.

(Dr. Willfried Maier GAL: Doch, so geht's los!)

Es geht hier um regelmäßige Schulschwänzer, die der Verband Bildung und Erziehung als "Potenzial gesellschaftlicher Sprengsätze" bezeichnet hat.

Ein signifikantes Ergebnis ist, dass bei Jugendlichen, die im letzten Schulhalbjahr eines Schuljahres mehr als zehn Tage geschwänzt haben, die Täterrate viermal höher ist als bei Nichtschwänzern. Es ist auch dabei herausgekommen, dass sich das Schwänzen in den Haupt- und Sonderschulen epidemieartig ausgebreitet hat. Bis zu 20 Prozent der Schüler fehlen mehrere Stunden in der Woche. Die Zahlen in Hamburg bestätigen diesen Bundestrend. Allein 41 Prozent aller Schulpflichtsverletzungen – so heißt das im offiziellen Jargon –, das sind die, die auch bei REBUS gemeldet werden, zwischen Februar 2001 und 2002, verteilen sich auf Hauptschulen, 18 Prozent sind es in Grundschulen, 18 Prozent in Gesamtschulen, 5 Prozent im Gymnasium; nur um einen Vergleich zu haben.

Bei diesen Kindern und Jugendlichen handelt es sich aber um die ganz harten Schulschwänzer, bei denen schon viel in den Brunnen gefallen ist. Darunter sind keine, die mal fünf Tage geschwänzt haben. Darüber gibt es auch noch eine Statistik in dieser Untersuchung. Es sind Schülerinnen und Schüler, die einerseits massivste Probleme im Elternhaus haben und/oder schon delinquent geworden sind. Und die Dunkelziffer ist noch viel höher. Da kann man nicht zugucken, da müssen wir handeln, und das beweist diese Studie signifikant.

Hier setzt das Pilotprojekt präventiv ein, was unser Antrag in Anlehnung an das niedersächsische Modell fordert. Es gibt drei wichtige Maßnahmen: Erstens den Bereich innerhalb der Schule, zweitens verbindliche Kooperation von Jugendhilfe und Schule und drittens kriminalpräventive Maßnahmen der Polizei.

Lassen Sie mich zu erstens ganz konkret ein Beispiel nennen. Es ist klar, dass in Schulen Lehrer, Eltern, Schüler alle zusammen verpflichtet sind, sich über fehlende Schüler Gedanken zu machen. Es ist natürlich dringend erforderlich, dass Lehrer Schulschwänzer melden und dafür sorgen, dass man sich um sie kümmert. Der Alltag sieht aber so aus: Man gibt beispielsweise in einer Klasse nur einmal in der Woche eine Doppelstunde Physik. Ein Schüler fehlt einmal, zweimal, dreimal. Nun müsste man eigentlich sofort dem Klassenlehrer Bescheid sagen und dieser müsste umgehend die Eltern informieren. Aber da geht in der Alltagspraxis oft einiges unter. Dann müsste mit den Erziehungsberechtigten gesprochen und mit ihnen verbindlich festgelegt werden, was passiert wenn und so weiter. Das sind die pädagogischen Maßnahmen, die selbstredend in der Schule passieren. Wenn aber diese Maßnahmen nicht greifen und erfolglos bleiben – das ist in dieser Prozentzahl, die ich nannte, der Fall –, muss frühzeitig die Jugendhilfe eingreifen, und zwar verbindlich kooperieren. Das wird in keiner Stadt dieser Republik systematisch gemacht. Das steht nicht auf der Tagesordnung.

Das kostet kein zusätzliches Geld. Ich komme noch darauf zurück. Eine Hamburger Sonntagszeitung hat fälschlicherweise über unseren Antrag geschrieben, die wollen

jetzt schon wieder etwas Neues und das bei diesen knappen Kassen.

Wenn alle staatlichen und freien Träger der Jugendhilfe über Leistungsvereinbarungen ein bestimmtes Zeitbudget in der Schule als Unterstützer und als Ansprechpartner verbindlich vor Ort tätig wären, könnten viele sich krisenhaft abzeichnende Lebensläufe von Jugendlichen frühzeitig wieder auf die rechte Bahn gebracht werden.

Zweitens: Präsenz der Jugendhilfe in der Schule ist angesagt. Diese Helferteams könnten sofort gebildet und wie beispielsweise in Skandinavien eingesetzt werden. Wir haben jetzt schon an jeder Schule einen Beratungslehrer oder eine Beratungslehrerin, wir haben an jeder Schule einen Vertrauenslehrer oder Vertrauenslehrerin. Wir haben an vielen Schulen – an den Gesamtschulen und an einem Teil der HR-Schulen – Sonderpädagogen, zum Teil Schulpsychologen. Wenn wir dann die Jugendhilfe verbindlich haben, nicht nur in den Einrichtungen, sondern vor Ort, gerade im Kontext mit Ganztagsschulen, hätten wir schon ein Netz dieser Helferteams. Das ist machbar und würde – Herr Peiner, keine Angst – keine einzige Neueinstellung kosten, sondern es ist nur eine Frage der systematischen Verfolgung in Richtung Jugendhilfe und Schule und hätte Synergieeffekte.

Beispielsweise gibt es schon in den Stadtteilschulen das berühmte "NaSchEi" – Nachbarschaft und Schule in Eimsbüttel – oder in Altona "SchuNa" – Schule und Nachbarschaft –, wo diese Erfahrungen gemacht worden sind.

Drittens: Hinzu kommen flankierende kriminalpräventive Aufgaben, die die Polizei wahrzunehmen hat. Wir haben den so genannten Kontaktbereichsbeamten in der Schule. An diesem Modellprojekt ist aber besonders interessant, dass aufgrund des festgestellten Zusammenhangs von Schulschwänzen und Delinquenz geschulte Beamte im Stadtteil vor Ort sind – beispielsweise in Kaufhäusern, in Altona im Mercado, in Spielhallen –, und zwar zu der Zeit, in der Schule stattfindet. Sie führen Gespräche, wenn sich dort offensichtlich schulpflichtige Kinder aufhalten. Wenn man während der Schulzeit Jugendliche in den Kaufhäusern an den Computerspielen sieht, müsste man sich eigentlich fragen, ob nicht der Einzelhandel sagt, liebe Leute, Computerspiele stehen in der Schulzeit nicht zur Verfügung. Das wird übrigens in dem Modellprojekt in Niedersachsen so gehandhabt.

Wenn diese drei Maßnahmen konsequent durchgeführt würden, könnten wir die Jugendkriminalität weiterhin präventiv senken. Niedersachsen ist ein gutes Beispiel. Was für Niedersachsen gut ist und was die neue Regierung in Niedersachsen, Herr Dr. Freytag, auch weitermacht, kann für Hamburg nur gut sein. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn wir diesen Antrag an den Schulausschuss überweisen, dort die Experten, die das jetzt in Niedersachsen praktizieren, anhören, uns selbst befassen und schauen, wie wir kostenneutral, verbindlich und systematisch eine vernünftige Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule hinbekommen. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort bekommt die Abgeordnete Hilgers.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Schulschwänzen ist ein ernst zu nehmendes Problem. Es hat als nahe liegende Konsequenz, dass

Unterricht versäumt wird, der Bildungsabschluss gefährdet sein kann und die Jugendlichen aus ihrer Normalität herausfallen. Schulpflichtverletzungen können verschiedene Formen annehmen: von der Schulverweigerung, gelegentlichem oder häufigem Schwänzen, Schulentzug durch die Eltern, bis hin zu so genannten Ferienverlängerungen.

Häufiges Schulschwänzen deutet auf tiefer liegende Ursachen hin und kann mit zusätzlichen Problemen einhergehen. Frau Goetsch hat es bereits gesagt, dass die empirischen Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen auf den Zusammenhang von häufigem Schulschwänzen und delinquentem Verhalten der Jugendlichen hingewiesen haben.

Was sind die Ursachen für Schwänzen des Unterrichts? Die Ursachen können schulisch, sozial oder familiär bedingt sein. Sicher, gerade in der Pubertät kommt eine gewisse Neigung zum Ausprobieren der Grenzen, zum provozierenden Regelverstoß dazu, aber auch schlechter Unterricht, Ärger mit den LehrerInnen, Probleme im Elternhaus oder mit den Mitschülerinnen. Schulabsentismus ist aber häufig ein Signal, das auf einen Hilfebedarf hinweist. Dies macht klar, allein repressiv auf den einzelnen Schüler, die einzelne Schülerin zu reagieren, wird nicht ausreichen. Der Konflikt mit den Lehrerinnen bleibt, die Eltern werden nicht ausreichend mit angesprochen. Wichtig ist eine frühzeitige Reaktion. Schulen haben die Präsenz von Schülerinnen und Schülern als ein herausragendes Qualitätsmerkmal ihrer Arbeit zu begreifen. Die Reaktion der Schule muss den Jugendlichen daher verdeutlichen, dass sie sich selber schaden. Sie muss aber auch die Ursachen für das Fernbleiben vom Unterricht mit in den Blick bekommen. Eltern und Lehrerinnen, gegebenenfalls auch die Jugendhilfe, müssen mitarbeiten, um das Fernbleiben nicht zu einem chronischen Problem werden zu lassen. Wenn die Schule – das ist auch jetzt schon so – von Treffpunkten wie Kaufhäusern oder Bahnhöfen weiß, an denen sich die Jugendlichen aufhalten, so soll sie auch über das Jugendamt Kontakt mit der Polizei aufnehmen, um präventiv gegen die Gefährdung von Jugendlichen zu arbeiten.

Mit der vom Vorgängersenat im Dezember 2000 erlassenen Richtlinie für den Umgang mit Schulpflichtverletzungen wurde den regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen – abgekürzt: REBUS – eine zentrale Rolle bei der Sicherung der Schulpflicht zugewiesen. Es wäre an der Zeit, die praktische Wirkung dieser Richtlinie in den Schulen und in der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe zu überprüfen.

Zum Antrag der GAL. Das Anliegen des GAL-Antrags ist in Ordnung, wir halten aber den Ansatz eines Pilotprojekts für falsch. Wenn die empirischen Fakten auf dem Tisch liegen – und das tun sie – und sich die beteiligten Instanzen auf ein gemeinsames Verfahren einigen, sollte man das insgesamt anwenden und nicht mit einer Vergleichsgruppe pilotieren, bei der dann nichts stattfindet. Das ist modellhaft auch in Reinkultur nicht durchzuhalten, denn man müsste eventuell Schulen davon abhalten, aktiv zu werden, was nicht Sinn und Zweck der Veranstaltung sein kann.

Insofern ist es gut, wenn wir den Antrag einvernehmlich an den Ausschuss überweisen, um die Hamburger Erfahrungen mit der Zweitausenderrichtlinie, die empirischen Befunde und Vorgehensweisen aus anderen Bundes

ländern am besten mit Expertinnen und Experten zu diskutieren. – Danke.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Drews.

(Wilfried Buss SPD: Hat der auch mal den Unter- richt geschwänzt? Wolfgang Drews CDU: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Grundsätzlich stellt sich das Schul- schwänzen – oder wissenschaftlich ausgedrückt von Frau Dr. Hilgers: Absentismus – als Fehlverhalten und in schweren Fällen sogar als ein Problem dar, welches natürlich unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. (Dr. Willfried Maier GAL: Absentismus erleben wir hier bei den Abgeordneten bei Reden!)

Insbesondere bei den Wiederholungsfällen muss frühzeitig interveniert werden, um dem im Antrag dargestellten bestehenden Zusammenhang zwischen häufigem Schulschwänzen und dem erhöhten Risiko des Beginns einer kriminellen Karriere wirkungsvoll begegnen zu können. Allerdings, Frau Goetsch, können wir das, was Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, den Bezug zur kriminellen Karriere oder zu Risiken – das Kriminalistische Forschungsinstitut Niedersachsen, KFN, sprach vom drohenden Risiko – in der dargestellten Form nicht teilen. Wir sollten schon genauer hingucken, was vom KFN kommt. Wir werden der Thematik nicht gerecht, wenn wir in der Diskussion im Zusammenhang mit Absentismus generell versuchen zu verhindern, dass kriminelle Karrieren oder Ähnliches entstehen. Das Thema zu diskutieren, ist in Ordnung, aber wir müssen verhindern, dass damit möglicherweise eine Stigmatisierung erreicht wird. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie das wollten, aber diese Problematik sollten wir uns hier nicht zu eigen machen.

(Beifall bei der CDU)

Frau Dr. Hilgers hat völlig zu Recht gesagt, dass hinter Schulschwänzen auch Probleme stehen könnten und dass sie in der Diskussion häufig ernsthaft unter den Tisch fallen.

Aber lassen Sie uns den Umfang dieser Schulpflichtverletzung in Hamburg genauer betrachten, um zu sehen, ob ein Bedarf für das, was Sie im Antrag fordern, besteht.

Während in den Jahren 1997 und 1998 jährlich über 1000 Schulpflichtverletzungen registriert wurden – das können wir der Drs. 16/2685 entnehmen –, betrug die Zahl bereits für einen Jahreszeitraum 2001 und 2002 nur noch konkret 722 Fälle. Auch diese Zahl, da sind wir uns einig, ist selbstverständlich zu hoch, aber die Entwicklung zeigt einen deutlichen Rückgang von über 30 Prozent. Sie zeigt auch auf, dass der neue Senat das Problem erkannt hat, mit wirksamen Maßnahmen interveniert

(Dr. Andrea Hilgers SPD: 2000!)

und das bestehende Instrumentarium auch anwendet. REBUS ist ein Instrumentarium, aber es kommen noch weitere. Insofern, Herr Buss, warten Sie. Zumindest in diesem Punkt ist es hier wie im Schlussverkauf: Das Beste kommt zum Schluss.

Bereits im Jahre 2000, also auch zu Zeiten von Rotgrün, ist die Richtlinie für den Umgang mit Schulpflicht