Protocol of the Session on June 25, 2003

Login to download PDF

Die Krankheit beginnt schleichend und wird fast immer erst erkannt, wenn das Kind oder der Jugendliche schon erkrankt ist. Dann erst mit therapeutischen Maßnahmen zu beginnen, ist deutlich zu spät.

Bulimie und Magersucht könnten schon vollständig im Vorfeld der Erkrankung verhindert werden, wenn rechtzeitig Maßnahmen zur Prävention ergriffen würden. Jede Präventionskampagne in diesem Bereich kostet die Allgemeinheit weniger als die Kosten für die ambulante und spätere stationäre psychiatrische Behandlung.

(Unruhe im Hause – Glocke)

Herr Barth-Völkel, einen Augenblick. – Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, Ihre Unterhaltungen draußen vor den Parlamentstüren fortzusetzen, damit Herr BarthVölkel hier zu Wort kommt.

– Vielen Dank, Frau Präsidentin.

Dazu kommen außerdem die Kosten für die Behandlung der Folgeerkrankungen.

Aufgabe der Eltern, der Schule, aber eben auch der gesundheitlichen Vorsorge muss es sein, diesem gefährlichen Trend Einhalt zu gebieten. Nur durch rechtzeitige Aufklärung über die Gefahren und Folgen des Raubbaus am eigenen Körper und ein Schönheitsideal gelingt es, Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, geeignete Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Eine Aufklärungskampagne in den Schulen und Jugendeinrichtungen soll die Kinder sensibilisieren, im eigenen Umfeld bei Geschwistern und Freunden, aber auch bei sich selbst Symptome einer Essstörung zu bemerken, und gleichzeitig auf die vorhandenen Hilfsangebote hinweisen und diese möglichst breit bekannt machen.

Nur wenn es nicht mehr als schick gilt, bis auf die Knochen abgemagert zu sein, wird diese Krankheit verschwinden. Das können wir nicht erreichen und dürfen es auch nicht erwarten, was wir aber sehr wohl können, ist, die Jugendlichen zum Denken anzuregen. Wir müssen ihnen klar machen, nicht blind den Vorbildern bei MTV oder im Musikgeschäft zu folgen, sondern sich selbst so zu akzeptieren, wie sie sind.

Auf der anderen Seite müssen wir den Jugendlichen auch klar machen, welche Folgen der Diätenwahn für sie haben kann. Die Stadt Hamburg verfügt noch nicht einmal über eine breit angelegte öffentliche Kampagne, die das Thema Magersucht und Bulimie mit dem nötigen Nachdruck und der nötigen Intensität in die Schulen und Jugendeinrichtungen und damit direkt zu den Jugendlichen trägt.

Der Grund dafür liegt in der verfehlten Politik des Vorgängersenats – ich möchte jetzt nicht über 40 oder 44 Jahre reden –, dessen Schwerpunkt das Thema Drogen und Sucht war. Wir werden andere Prioritäten setzen. Wir alle müssen zur Kenntnis nehmen, dass es neue Probleme und Krankheitsformen gibt, denen wir uns widmen müssen. Magersucht und Bulimie werden immer mehr zur Volkskrankheit und wir wollen dieses nicht länger tatenlos hinnehmen.

In einer Sendung im ZDF, Frontal, wurde ganz klar zitiert:

„An Magersucht sterben mehr Menschen als an jeder anderen psychosomatischen Krankheit und auch die Bulimie führt zu schweren chronischen Folgeschäden. 10 000 Euro kostet ein Behandlungsmonat, doch ohne Behandlung fristen sie ein Leben wie Drogenabhängige.“

Vielen Dank.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Frau Koop, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Barth-Völkel hat das alles schon sehr ausführlich dargestellt, das kann ich mir also sparen.

Wir wissen aus den gängigen Kindergesundheitsberichten, dass wir diese erschreckende Zunahme an Übergewichtigen haben, wir wissen auf der anderen Seite aber auch, dass sich die Bevölkerung insgesamt – vielleicht nicht wir hier, wir sind vielleicht etwas ernährungsbewusster – im Grunde genommen zu süß und zu fett ernährt und zu viel isst. Wir kennen diesen Hang zur falschen Ernährung und die Vorliebe für Junkfood. Wer Kinder hat, weiß auch, in welchem Maße sich dagegen gestemmt werden muss, dem nicht nachzugeben. Ich gebe zu, dass auch ich hin und wieder aus Bequemlichkeitsgründen dazu neige, es durchgehen zu lassen.

Dem stehen natürlich – und auch das hat Herr Barth-Völkel ausgeführt – die Schönheitsideale in den Medien entgegen und wenn wir uns selbst kritisch angucken, wissen wir, dass wir diesem nicht unbedingt genügen. Es ist aber die Frage, ob wir dem genügen müssen. Ich habe mich dagegen entschieden und deswegen lebe ich vielleicht auch etwas fröhlicher.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der FDP und bei Dr. Andrea Hilgers SPD und bei Dr. Dorothee Freudenberg und Jens Kerstan, beide GAL)

Dieser Steigerung – schlank, schlanker, bis zum dürren Erscheinungsbild –, diesem kritischen Gesichtspunkt werden die Menschen und damit auch die Kinder immer früher ausgesetzt. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um die selbstkritische Betrachtung, sondern häufig führt auch der Gruppendruck dazu, bestimmte Verhaltensweisen zu übernehmen. Dabei ist beispielsweise zu beobachten, dass junge Mädchen immer früher anfangen zu rauchen, weil sie damit ihr Hungergefühl unterdrücken können. Aber diese Verhaltensweisen Rauchen, Hungern und dann letztendlich, wenn die Kinder und Jugendlichen es nicht mehr unter Kontrolle haben, die Bulimie – das Erbrechen und die Heißhungerattacken – sind Dinge, die natürlich von den Eltern nicht immer sofort bemerkt werden, auch das haben wir gehört. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Eltern dieses aus Hilflosigkeit und dem Nichtwissen, wie sie diesem begegnen sollen, mehr oder weniger bewusst ignorieren.

Wissen Sie, ich hatte auch einen übergewichtigen Sohn und war sehr froh, als er vierzehnjährig anfing abzunehmen. Das sind aber nicht die normalen Wege. Er ist nicht in die Magersucht abgedriftet, was auch eher ein typisches Erscheinungsbild bei Frauen ist. Sicherlich ist jeder über eine Gewichtsreduktion erfreut, aber es ist eine

schmale Gratwanderung: Wann handelt es sich noch um eine Gewichtsreduktion und wann ist es schon eine Selbstkasteiung, die nicht mehr gesteuert werden kann.

Das zu erkennen, kann natürlich in Form von einer Kampagne hilfreich sein. Diese Aufklärungskampagne alleine kann aber nicht so stehen bleiben. Wir unterstützen das selbstverständlich, aber es muss weiterhin zur körpergerechten und gesunden Ernährung erzogen werden.

Wenn ich sehe, dass dies in den Lehrplänen der Grundschulen auch ausgewiesen wird, bin ich froh darüber. Aber dies darf natürlich nicht nur im Grundschulbereich so sein, sondern es muss weitergeführt werden und in den anderen Lehrplänen wieder auftauchen. Darüber hinaus müssen auch die Eltern und Therapeuten geschult werden. Ohne diese begleitenden Maßnahmen ist diese Kampagne nur die Hälfte wert. Es gibt über die Kampagne hinaus noch viel Handlungsbedarf.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Frau Dr. Freudenberg.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Zweifellos handelt es sich bei Essstörungen um sehr schwere psychische Erkrankungen im Jugendalter. Aber die Sache ist nicht so einfach, wie Sie es hier darstellen.

Es ist eine schwere Störung mit komplexer Ursache. Abmagern und gestörtes Essverhalten sind nur die Symptome, aber erklären nicht das Ganze, was es ausmacht. Es muss klar sein, dass Aufklärung allein nicht funktionieren kann. Wenn es so einfach wäre, hätte ich eine Ausbildung als Werbegraphikerin gemacht und mich nicht durch die Facharztausbildung in Psychiatrie und die Psychotherapie gequält.

(Stephan Müller Partei Rechtsstaatlicher Offen- sive: Besser wär's vielleicht gewesen! – Ekkehard Rumpf FDP: Da hätten Sie viel Geld verdienen können!)

Essstörungen sind sehr schwer zu behandeln und sehr gefährlich für einen Teil der Mädchen, aber auch häufig nur ein Symptom für andere Störungen, zum Beispiel Depressionen und Zwangserkrankungen, die sich daraus entwickeln können.

Es reicht auch nicht aufzuklären, weil die Eltern ein Teil des Problems sind. Das sind Familien, bei denen das Essen eine bestimmte Funktion hat, weshalb es nicht ausreicht, die Eltern aufzuklären, ihre Kinder anders zu ernähren, denn dieses Essen steht für sehr viel anderes. An diesen Kern müssen wir ran.

Es mutet merkwürdig an, wenn Sie sagen, Rotgrün hat hier viel versäumt, weil wir immer noch keine große Aufklärungskampagne haben. Rotgrün hat dafür gesorgt, dass wir das Psychotherapeutengesetz haben, wodurch der Zugang zur Psychotherapie deutlich erleichtert ist. Was diese jungen Mädchen und oft auch ihre Familien brauchen, ist eine Psychotherapie und Familientherapie – oft auch über einen längeren Zeitraum.

(Beifall bei der GAL und bei Dr. Andrea Hilgers SPD)

Zu der Besonderheit Ihres Antrages: Das ist ein Antrag nach dem Fielmann-Modell – von Fielmann haben wir vorhin schon gesprochen –: Und Papi hat keinen Pfennig dazubezahlt. Sie schreiben einen Antrag, dass eine große Kampagne gemacht, aber nur mit Spendengeldern finanziert werden solle und darüber möchten Sie einen Bericht.

Wenn Sie Sponsoren finden, die darüber aufklären wollen – und gesundheitliche Aufklärung ist immer sinnvoll –, ist es gut und wir freuen uns. Aber wir können keinen Bericht darüber verlangen, wenn wir das nicht selbst mitfinanzieren. Das ist absurd.

(Beifall bei der GAL)

Ich bin aber dafür, dass wir diesen Antrag – so schwach er auch ist – an den Gesundheitsausschuss überweisen, denn es ist sinnvoll, sich über die Möglichkeit der Früherkennung von psychischen Störungen bei Jugendlichen Gedanken zu machen und wie die verschiedenen Akteure, auch die Schule, sensibler sein können. Es geht nicht nur um Magersucht, sondern auch um schwere schizophrene Psychosen und Suchterkrankungen, die früher erkannt werden müssten. Darum hoffe ich, dass wir uns gemeinsam entscheiden, diesen Antrag zu überweisen und dann anfangen, darüber nachzudenken.

(Beifall bei der GAL und bei Dr. Andrea Hilgers SPD)

Herr Dr. Schinnenburg, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es ist eigentlich paradox: Menschen kommen in Gefahr, weil sie von ausreichend vorhandenen Lebensmitteln – es ist ja anders als in der Dritten Welt – nicht genügend zu sich nehmen oder dass sie dieses nachher wieder erbrechen. Wenn ein Mensch in der Dritten Welt danach gefragt würde, würde der antworten, das kann doch nicht sein, wir würden gerne mehr essen und mehr bekommen, die dort haben genug, essen es aber nicht.

Mit solchen Erkenntnissen ist Betroffenen nicht geholfen und auch Parolen: Du musst einfach mehr essen! führen nicht weiter. Bulimie und Anorexie sind Krankheiten, die mit gutem Zureden nicht zu heilen sind.

Nun ist es aber nicht so, dass diese Krankheiten und die Erkenntnisse darum neu sind. Ich habe das Buch von Hilde Bruch, deutsche Übersetzung von 1991, das bereits 1973 – also vor über 30 Jahren – in den USA veröffentlicht wurde, mitgebracht. Hilde Bruch ist deutschstämmig, wurde von den Nazis vertrieben und hat in den USA weit reichende Forschungen zu diesem Thema vorgenommen. Wenigstens seit 30 Jahren ist dies ein Thema.

(Dr. Dorothee Freudenberg GAL: Seit 1880!)

Sehen Sie! Insofern ist es gut, dass wir hier darüber diskutieren.

Ich bin für diese Aufklärungskampagne, nur dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, wir hätten vor zwei Jahren etwas Tolles entdeckt, das es bis dato nicht gegeben habe. Dieses Problem gibt es schon sehr viel länger, als ich es selbst angenommen habe.

In diesem Buch und anhand der Forschung wird etwas zu den Ursachen gesagt. Einmal ist es der Schlankheits