Herr Präsident, meine Damen und Herren! Passend zur heutigen Debatte titelte das "Hamburger Abendblatt" am letzten Freitag "15 Prozent weniger Unfälle mit Kindern". Das ist in der Tat ein Anlass zur Freude, aber ausdrücklich kein Grund zur Entwarnung, denn hoffentlich freuen wir uns nicht zu früh. Schließlich warnt auch der Leiter der Verkehrsdirektion, Herr Kneupper, vor zu viel Euphorie, denn genau jetzt – und ich zitiere ihn da –
Das Niveau, auf dem sich Hamburgs Unfälle mit Kindern ereignen, ist immer noch erschreckend hoch. Die Basis, von der wir ausgehen, sind 477 von 100 000 Kindern, die 2002 auf Hamburgs Straßen verunglückt sind. Damit ist das Risiko für Kinder, in Hamburg im Straßenverkehr zu verunglücken, deutlich höher als im Bundesdurchschnitt, der bei 340 von 100 000 Kindern liegt. Ein bisschen plastischer ausgedrückt: Das Risiko eines Kindes, in Hamburg zu verunglücken, ist 40 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt.
Die Vermutung, dass es sich hierbei um ein Großstadtphänomen handeln könnte, widerlegen die Zahlen aus Berlin, die sich exakt auf dem Bundesdurchschnitt bewegen. Selbst wenn ein erheblicher Rückgang, so wie eingangs erwähnt, in Hamburg eintreten sollte, wären die Unfallzahlen Hamburgs immer noch deutlich über dem Stand von Berlin. Damit ist das Risiko eines Kindes, in Hamburg zu verunglücken, deutlich größer als in anderen vergleichbaren Großstädten.
In der Antwort des Senats auf unsere Große Anfrage räumt dieser freimütig ein, dass ihm keine plausiblen
Erklärungen dafür vorliegen, und weil er keine Erklärungen hat, ist leider in der Folge auch von einer Strategie gegen diese Unfälle überhaupt keine Spur.
Am Tag der Einweihung der Verkehrsdirektion in der Stresemannstraße sprach Polizeipräsident Nagel richtigerweise davon, dass jedes Kind, das Opfer eines Verkehrsunfalls wird, eines zu viel sei. Um dann fortzufahren, wie schwierig es sei, die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten und gleichzeitig den Verkehrsfluss – und damit meint er natürlich nur den Verkehrsfluss der Autos – zu beschleunigen, was politische Vorgabe sei. Da haben Sie es aus berufenem Munde, die Polizei kann diesen inhaltlichen Widerspruch doch gar nicht auflösen. Fragen Sie sich doch einmal ehrlich, meine Damen und Herren, warum sich immer mehr Eltern nicht trauen, ihre Kinder zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule oder in den Kindergarten zu schicken und sie stattdessen dorthin chauffieren. Welches Klima herrscht denn in der Stadt, wenn in demselben "Abendblatt"-Artikel steht, dass innerhalb von nur sieben Minuten neun Geschwindigkeitsverstöße gemessen werden, und zwar an einem Fußgängerüberweg direkt vor einer Grundschule, und das völlig unverdeckt messend. Was für ein Rasereiklima haben wir in der Stadt, das Kinder nachhaltig bedroht.
Der Senat, Herr Ehlers, setzt sein Hauptaugenmerk in der Verkehrspolitik auf die Beschleunigung des Autoverkehrs, durch Entpollerung, grünen Pfeil und Heraufsetzung der Höchstgeschwindigkeit. Immerhin wird nun – dank des Eingriffs von Herrn Nockemann – nicht mehr die Toleranzgrenze pauschal angehoben, aber das war ja auch nur die Spitze des Eisberges. Die Chefsache "Entpollerung" soll nach jüngsten Auskünften unvermindert weiter betrieben werden, obwohl bereits jetzt im Bezirk Mitte großflächig zu sehen ist, wie nicht mehr geschützte Grünflächen, Fuß- und Radwege als Parkplätze missbraucht werden. Der grüne Pfeil besitzt, wie die Uni Kaiserslautern jüngst feststellte, ein nicht unerhebliches Gefährdungspotential für Fußgängerinnen und Radfahrerinnen, weil es immer wieder zu unklaren Situationen kommt, und die überfordern ganz besonders das Verkehrsverständnis von Kindern. Wenn gegenüber der Universität sogar darauf verwiesen wird, dass – ich zitiere –
"… bei Überwachung durch die Polizei die Auseinandersetzung mit den Autofahrern ganz wesentlich erleichtert wird durch das Schild, das sie zur Anhaltepflicht mahnt",
dann macht das doch überdeutlich, wie gering die Regeltreue ist, wenn die Polizei nicht da ist. Versuchen Sie doch mal, einem Autofahrer klarzumachen, dass er dort anhalten soll. Der biegt dann um die Ecke und ist weg.
Dann gibt es noch dieses schöne Thema Tempo 60 auf Hauptverkehrsstraßen, das nicht einmal den Autofahrerinnen selbst etwas nützt. Wissenschaftlich nachgewiesen ist ein maximaler Effekt von 3 Prozent effektiver Verkehrsbeschleunigung. Im Gegenzug steigt aber die Gefahr von Unfällen und ihre Schwere überproportional an. Jetzt greift der Senat endlich gegen Raserei durch – solange die von Radfahrern betrieben wird.
Der Sicherheits- und Ordnungsdienst verhängt nun Strafen zwischen 30 und 75 Euro gegen Radfahrerinnen, die von Radwegen auf Fußwege ausweichen. Das wird Pi mal Daumen geschätzt, wie schnell die gefahren sind. Von den Aussprüchen, in denen Geschwindigkeitskontrollen des Autoverkehrs als Abzocke verunglimpft worden sind, hat sich der Senat dagegen niemals distanziert. Fußgängerinnen und Radfahrerinnen werden von diesem Senat eben definitiv nicht als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmerinnen betrachtet. Denn im Detail betrachtet offenbart der Verkehrsbericht 2002, dass vor allem die Gruppe der Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren besonders gefährdet ist. Deren Unfallhäufigkeit schnellte um satte 16 Prozent in die Höhe.
Und was macht diese Gruppe so besonders? Das sind die Kinder, die anfangen Rad zu fahren, und es sind allgemein Fußgänger und Radfahrer, die die Leidtragenden dieser Politik sind, denn sie verunglücken insgesamt zu 28 Prozent im Straßenverkehr. Das ist schon etwas höher, als ihr Verkehrsanteil ist, aber bei der Zahl der getöteten Verkehrsopfer, da geht ihr Anteil auf 50 Prozent hoch. Bei der Zahl der Schwerverletzten steigt er sogar auf über 50 Prozent. Das bedeutet: Wer sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad in der Stadt bewegt, wer sich stadtverträglich bewegt, wer zu den Schwachen im Verkehr gezählt werden muss, der ist überproportional gefährdet in der Stadt, und das sind eben die Kinder, die überwiegend mit dem Rad fahren und zu Fuß durch die Stadt gehen.
Was wir in Hamburg brauchen, ist eine umfassende Strategie zur Unfallvermeidung. Und was bietet der Senat uns an? Jetzt wird die Kampagne "Rücksicht auf Kinder... kommt an" als großer Erfolg gewertet. In der Antwort auf die Große Anfrage unserer Fraktion hieß es noch:
"Als Indikatoren für den Erfolg von Verkehrssicherheitsaktionen können nur indirekte Größen... herangezogen werden."
Da war man sich also noch gar nicht sicher, was der Wert einer Kampagne ist. Und die Bundesanstalt für Straßenwesen stellt dagegen ganz eindeutig fest, dass Kampagnen durchaus geeignet sind, mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz kurzfristig Erfolge zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zu erzielen – das erleben wir hier –, aber dann warnt die Bundesanstalt im Weiteren, die Erfolge durch Baumaßnahmen und ernsthaft verschärfte Kontrollen seien dagegen dauerhafter. Wir müssen also befürchten, dass sich dieser Erfolg der Kampagne sehr schnell abschleifen wird.
Der Senat interpretiert übrigens die Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen unter dem Titel "Verkehrssicherheitsmaßnahmen für Kinder" so, dass Maßnahmen im Bereich Verkehrserziehung mehrheitlich im Vordergrund stünden, und listet dann die verkehrserzieherischen Maßnahmen in Hamburg auf. Tatsächlich müssen wir feststellen, was die Polizei und die Schulbehörde im Bereich Verkehrserziehung in Hamburg leisten, das ist auf bundesweit hoch anerkanntem Niveau, und da lässt sich in der Tat gar nicht viel mehr machen. Der einzige Vorschlag, der dazu von der planerischen Seite kommt, ist der, die Förderung von Psychomotorik an Schulen zu verbessern, denn die Bundesanstalt führt hierzu aus:
"Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder aus Gründen ihrer motorischen Entwicklung gar nicht fähig sind, sich verkehrsgerecht zu verhalten. Hinzu kommt,"
"dass die derzeitige Verkehrssituation die Ausbildung verkehrsnotwendiger motorischer Fähigkeiten massiv einschränkt. Kinder können sich aufgrund des Straßenverkehrs weniger frei und ungezwungen bewegen, als dies für ihren Entwicklungsstand angemessen wäre. Durch diese fehlende Bewegung sind sie jedoch als Verkehrsteilnehmerinnen noch gefährdeter."
Deswegen schlägt die Bundesanstalt eine Bewegungswerkstatt an Schulen vor, die tägliche Bewegungszeiten, bewegte Pausen und eine so genannte Motopädagogik einführt.
Das ist doch mal ein Weg, wie wir in der Verkehrserziehung noch einen Schritt weitergehen können über das hinaus, was hier sehr erfolgreich läuft. Aber das Thema Verkehrserziehung wird alleine nicht richten können, was durch die Beschleunigungspolitik des Senats auf anderer Seite wieder umgekippt wird, denn die BASt kommt in ihrer Studie auch zu dem gegenteiligen Schluss der Senatsantwort. Hier heißt es:
"Als eine mögliche Neuausrichtung der Verkehrssicherheitsarbeit wurde in Experteninterviews eine stärkere Betonung des Engineering, also der verkehrsplanerischen und verkehrstechnischen Maßnahmen, und überdies eine erhöhte Verkehrsüberwachung und kontrolle angeregt, deren Möglichkeiten noch nicht hinreichend genutzt werden."
Hier geht der Hamburger Senat mit seinen Appellen an das Verantwortungsbewusstsein der Autofahrerinnen leider den ganz falschen Weg. Er zeigt ihnen immer nur auf, dass über Verbesserungen des Verkehrsflusses und Abbau von so genannten Verkehrsschikanen der Anspruch von Autofahrerinnen doch berechtigt sei, schneller durch die Stadt fahren zu wollen. Ganz im Gegenteil ist es doch aber so, dass wir eine Strategie brauchen, die vier Dinge sicherstellt:
Erstens müssen Kinder im Straßenverkehr besser gesehen werden. Zweitens brauchen wir mehr gesicherte Querungshilfen über Straßen in dieser Stadt, das heißt mehr Zebrastreifen und auch mehr baulich gesicherte Querungen. Drittens müssen Fuß- und Radwege in Hamburg überall dauerhaft davor gesichert werden, dass sie als Parkplätze missbraucht werden, und viertens müssen Autofahrerinnen disziplinierter fahren.
(Beifall bei der GAL und bei Holger Kahlbohm SPD – Rolf Gerhard Rutter Partei Rechtsstaatli- cher Offensive: Von der Straßenverkehrsordnung haben die noch nichts gehört!)
Dafür dürfen wir uns nicht im Vorwege der wirkungsvollsten Instrumente berauben, sondern sollten gemeinsam an einer Strategieentwicklung arbeiten, die eben nicht die wirklichen Mittel im Vorhinein politisch ausschließt. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lieber Herr Lühmann, das war genau die erwartete Rede. Insofern konnte ich mich auch problemlos hierauf einstellen.
Wenn Sie nun das Ganze wiederum so darstellen, als sei das Auto etwas, was in Hamburg eigentlich menschliches Leben so gut wie unmöglich mache,
dann sind wir auf der üblichen Schiene. Natürlich schränkt das Auto die ungehinderte Mobilität von Kindern ein, es schränkt auch die ungehinderte Mobilität von Erwachsenen ein,
aber ebenso ermöglicht das Auto überhaupt erst Mobilität und für diese Stadt in vielen Fällen überhaupt erst ein Erreichen notwendiger Ziele und wirtschaftliches Handeln.
Wenn Sie sagen, dass in Hamburg die Zahl der Verkehrsunfälle mit Kindern deutlich höher liegt als in anderen Städten, muss ich Ihnen Recht geben. Die Zahlen stimmen. Ob der aktuelle Trend mit dem Rückgang auch tatsächlich ein dauerhafter ist,
können wir nur hoffen, aber wir alle können nicht fest davon ausgehen. Tatsache ist aber auch – Sie haben gerade Berlin als Vergleich herangezogen –, dass Hamburg eine deutlich höhere Kfz-Dichte pro 1000 Einwohner hat, als das in Berlin der Fall ist. Sie können nicht einfach nur Einwohnerzahlen mit Unfällen vergleichen. Sie müssen hier auch die Zahl der Kfz mit einkalkulieren.
Lieber Herr Lühmann, ich bestreite Ihnen gar nicht, dass es Unfälle zwischen Kindern und Kfz gibt. Ich bestreite auch nicht, dass daran in vielen Fällen unaufmerksame Autofahrer schuld sind und in anderen Fällen überforderte Kinder. Aber wenn es überforderte Kinder sind, dann, glaube ich, ist es oft auch ein Versäumnis der Eltern, ihre Kinder auf die Situation richtig vorzubereiten,