Protocol of the Session on March 9, 2005

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Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.)

Paula Karpinski, langjährige Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft und erste Senatorin im ersten gewählten Senat der Freien und Hansestadt Hamburg im Nachkriegsdeutschland, ist gestern im Alter von 107 Jahren verstorben. Frau Senatorin a. D. Karpinski gehörte der Bürgerschaft als SPD-Abgeordnete von 1931 bis 1933 und von 1946 bis 1966 an. Die Bürgerschaft trauert um eine großartige Politikerin und Parlamentarierin. Als Frauen noch selten waren in der politischen Landschaft, war sie bereits 1931 Mitglied der Bürgerschaft. Im Juni 1933 wurde die Sozialdemokratin verhaftet und wenige Tage später entlassen. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 war sie sieben Wochen im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. Aber sie ist ihren politischen Weg unbeirrbar weitergegangen.

In einer Zeit, als die Stadt in Trümmern lag, als Kleidung und Nahrung Mangelware waren, hat sie den Kindern, Jugendlichen und Kriegswaisen dieser Stadt durch ihren hohen persönlichen Einsatz für die Jugendpolitik Hoffnung gegeben. Durch Fleiß, Geduld und große Sachkenntnis hat sie sich als Mitglied der Bürgerschaft und des Senates große Anerkennung über die Parteigrenzen hinweg erworben. Sie war eine Pionierin der Politik, die sich immer für die Belange der Frauen, Sozial-, Familien- und Jugendpolitik eingesetzt hat. Bis heute finden sich die Zeugnisse ihres politischen Wirkens, insbesondere in der Hamburger Jugendpolitik.

"Dort, wo ich meine Füße unter den Tisch stecke, fangen Gleichberechtigung und Demokratie an",

war einer ihrer markanten Aussprüche. Welch hoher Anspruch, welch nachahmenswertes Ziel. Wir werden sie als engagierte Politikerin in Erinnerung behalten und ihr ein ehrendes Angedenken bewahren. Ich bitte Sie, in einer Minute des Schweigens der Verstorbenen zu gedenken.

Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.

Abweichend von der Empfehlung des Ältestenrates haben die Fraktionen vereinbart, dass die Tagesordnung um drei Punkte ergänzt werden soll. Es handelt sich um die Wahl einer oder eines Deputierten der Finanzbehörde, Drucksache 18/1919. Diese wurde als Tagesordnungspunkt 3 b nachträglich in die Tagesordnung aufgenommen. Außerdem handelt es sich um einen gemeinsamen Bericht des Europaausschusses und des Familien-, Kinder- und Jugendausschusses, Drucksache 18/1920. Er wurde als Tagesordnungspunkt 28 a nachträglich in die Tagesordnung eingestellt. Schließlich wurde die Tagesordnung um einen interfraktionellen Antrag ergänzt, nämlich um die Drucksache 18/1927. Sie wurde als Tagesordnungspunkt 53 nachträglich aufgenommen. Darüber hinaus sind die Fraktionen übereingekommen, dass Tagesordnungspunkt 3 vertagt werden soll. Es handelt sich um die Wahl eines Mitgliedes des Hamburgischen Verfassungsgerichtes.

Meine Damen und Herren! Wir kommen nun zur

Aktuellen Stunde

Dazu haben die drei Fraktionen gemeinsam ein Thema angemeldet, und zwar

Vernachlässigung von Kindern – was muss Politik tun?

Ich bin gebeten worden mitzuteilen, dass die vom Bürgermeister geleitete Delegation nach Jordanien aufgrund unvorhersehbarer Schwierigkeiten sich leider verspäten wird. Wird das Wort gewünscht? – Das ist der Fall. Der Abgeordnete Weinberg hat es.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Hamburg trauert und Hamburg ist fassungslos über den Tod des siebenjährigen Mädchens, der kleinen Jessica. Wir alle sind noch mitgenommen und bewegt von dem, was wir in den letzten Tagen zu erleben hatten. Ein Mädchen, gerade sieben Jahre alt, das noch nicht einmal die Schönheit dieser Welt kennen gelernt hat, schlimmer noch die Vorstellung, nicht einmal die Sonne gesehen hat. Das wirkt wie ein Roman aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit der Industrialisierung und das Schlimme ist, dass es hier und heute passiert.

Darüber sachlich zu reden fällt schwer und man darf es auch nicht. Der Tod eines Kindes ist nicht sachlich. Es ist die schlimmste gesellschaftliche Urkatastrophe. Aus der Trauer heraus und mit der Trauer müssen und werden wir arbeiten. Daraus muss das Entsetzen und die Wut hergeleitet werden und die Motivation, einen Zustand zu ändern, der möglicherweise dieses gesellschaftliche Ereignis hervorgerufen hat, denn bei der Bewertung von Gesellschaften fragt man sich, wie diese mit ihren Kindern umgeht und was möglicherweise gesellschaftlich auf uns zukommen kann. Ist möglicherweise der Tod der kleinen Jessica nur die berühmte traurige Spitze des Eisberges? Was spielt sich hinter den großen Häusern ab? Welche Tendenzen der sozialen Verwahrlosung gibt es, der familiären Vernachlässigung und der moralisch-kulturellen Armut in dieser Stadt? Hier müssen wir uns mit dem Problem beschäftigen, dem Problem der Anonymität einer Gesellschaft, aber auch mit der Frage von Fehlern in einem Hilfesystem, denn – und das steht fest und man darf es nicht leugnen und nicht tabuisieren – es sind Fehler passiert, auch im Fall der kleinen Jessica. Hierüber ist offen zu reden. Man darf nicht verdrängen, denn wer verdrängt, der vergisst und wer vergisst, der wiederholt.

Wie konnte es sein, dass dreimal geklingelt wurde und dann ein Bußgeldbescheid eingerufen wurde? Wie konnte es sein, dass es keine Hinweise darauf gab, dass es bereits in Zeiten davor Probleme in der Familie gab? Warum gab es keine Vorstellung dieses Kindes bei den entsprechenden Stellen? Welche Verrücktheit ist es, dass die Couch geliefert, die Katze genährt und das Kind verhungert ist? Das sind die Fragen der nächsten Tage, Wochen und Monate, die wir uns auch hier politisch stellen müssen. Eine Gesellschaft kann es bei aller Veränderung, bei aller Anonymität, nicht zulassen, dass staatlicherseits möglicherweise Fehler im System liegen. Diese Fragen werden gestellt werden. Wir werden diese Fragen politisch aufarbeiten.

Das hat nichts mit Schuldzuweisungen zu tun, sondern die Frage ist, ob ein System so gut ist, wenn es dieses zulässt? Ist das System von REBUS so gut, dass es funktioniert hat oder möglicherweise versagt hat? Dieses wird passieren und daraus müssen Konsequenzen abgeleitet werden. Hier müssen Ziele definiert, keine Beden

ken geäußert werden, man muss konsequent sein und darf in dieser Frage nichts relativieren. Wir müssen dafür sorgen, dass, wenn Kinder zum 1. August eines Jahres zur Schule angemeldet werden, frühestens zwei Wochen nach Schulbeginn auch klar ist, wo diese Kinder sind. In einer Stadt wie Hamburg kann es nicht sein, dass über Monate hinweg Kinder nicht auftauchen.

Wir wollen und müssen darüber diskutieren, ob wir ein Netzwerk der einzelnen Institutionen der Hilfe schaffen, der Sozialhilfe, des Jugendamtes und der schulischen Hilfe. Wir müssen die Prävention ausbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass von Zeit zu Zeit – so wie in Holland – Kinder auch vorgestellt werden, und zwar verbindlich vorgestellt werden, dass man weiß, dass es diesen Kindern gut geht, und wir müssen über Restriktionen nachdenken. All das erfordert eine Diskussion in dieser Stadt und hier sollte sich Politik auch nicht in kleinkarierte Rederei zurückziehen. Man sollte nicht versuchen, Vorwürfe zu machen, um sie politisch zu nutzen. Wer will denn der Erste sein, der den berühmten Stein schmeißt?

Also, trauern wir und aus dieser Trauer heraus gilt es, über das Entsetzen, dass hier etwas falsch gelaufen ist, die möglichen politischen Folgerungen, die Konsequenzen zu ziehen. Also Aufklärung und Konsequenzen. Das ist das, was es jetzt einzufordern gilt und das ist das Mindeste, was wir der kleinen Jessica noch schuldig sind. – Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Neumann.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen, meine Herren! Der Tod der kleinen Jessica hat uns Hamburger tief betroffen und macht uns fassungslos. Wir können und ich will mir auch gar nicht vorstellen, welche Leiden, welche Schmerzen dieser kleine Mensch hat durchmachen müssen. Ich stelle mir immer wieder die Frage, was wir hätten tun müssen, um dieses Kind zu retten. Ich stelle mir auch die Frage – ähnlich wie Herr Weinberg –, wie viele Kinder es in unserer Stadt gibt, die ähnlich furchtbare Schicksale erleiden oder erlitten haben und von denen wir auch nichts wissen. Von denen wir erst erfahren werden, wenn es zu spät ist und wenn vielleicht jemand Feuerwehr oder Polizei alarmiert. Es ist für mich auch nicht hinnehmbar, dass der Tod dieses Kindes unausweichlich gewesen sein soll. Es ist für mich nicht akzeptabel, dass alle alles richtig gemacht haben sollen, denn wenn alle alles richtig gemacht hätten, unabhängig von dem, was in Gesetzen steht, was in Vorschriften steht, dann würde dieses Kind heute noch leben.

Wir werden Gesetze ändern. Dazu sind wir gemeinsam bereit. Doch mögen wir sie verschärfen, mögen wir sie konsequenter auslegen, mögen wir auch Richtlinien noch konkreter formulieren, was bleibt, ist doch die traurige Gewissheit, dass wir Weichen in unserer Stadt auch politisch falsch gestellt haben. Das betrifft auch in Teilen die Rhetorik dieses Hauses.

Ich glaube, die These, Familie soll es für sich alleine richten, ist falsch, wie wir spätestens jetzt wissen. Natürlich stehen Familien in erster Linie in der Verantwortung. Wenn Familien dies aber nicht können, dann steht der Staat in der Pflicht. Wir haben in der Vergangenheit auch

Sätze gehört, die lauteten, Sozialhilfeempfänger brauchen keine Kinderbetreuung, die können sich selbst kümmern. Ich glaube, das war falsch. Wenn wir jetzt in der ganzen Stadt – auch vom Bürgermeister – Appelle für mehr Zivilcourage, für mehr Aufmerksamkeit, für mehr Nachbarschaft in Hamburg hören, dann sage ich, dass es bei diesen Appellen nicht bleiben darf. Wir dürfen uns nicht nur dem modischen Lamento über fehlende Zivilcourage und veränderte Werte hingeben, sondern wir müssen auch hier als Politikerinnen und Politiker zur Verantwortung stehen und uns dazu bekennen. Wir dürfen auch nicht den Datenschutz, Verwaltungsvorschriften als Rechtfertigung für staatliches Nichthandeln oder auch für Staatsversagen vorschieben.

Wir leben in einer Zeit, in der es modern geworden ist, von Eigenverantwortung, von Privatisierung und dem Rückzug des Staates zu reden. Aber ein kleiner Mensch kann eben keine Eigenverantwortung übernehmen und es sind die Kinder, die schwächsten und wehrlosesten, für die unser Staat, für die wir auch in diesem Parlament Verantwortung tragen. Wir dürfen nach außen nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns drücken, diese Verantwortung wahrzunehmen. Deswegen muss jeder von uns auch die Frage beantworten: Haben wir unsere Pflicht getan? Haben wir die Erwartungen, die unser Amt, die wir auch an uns selbst stellen, erfüllt? Sind wir unserer Verantwortung vor und nach dem Tod der kleinen Jessica nachgekommen? Haben wir uns anständig verhalten? Das ist eine Frage, die wichtig ist für die politische Kultur unserer Stadt und das sind wir allen Kindern schuldig.

Deshalb möchten wir Ihnen vorschlagen, dass die Verwaltung, die Behörde aufklärt, dass sie Arbeitsgruppen einsetzt, sodass auch wir als Bürgerschaft das zum Anlass nehmen, das nicht gleich wieder politisch mit Enquete-Kommissionen und parlamentarischen Untersuchungs-ausschüssen zu bewegen, sondern einen gemeinsamen Sonderausschuss einzusetzen, der die Hintergründe, die Ursachen dieser Tragödie aufklären soll und muss und damit in Zukunft, zumindest nach menschlichem Ermessen, eine Wiederholung ausschließt.

Aber es sind eben nicht nur Gesetze, es sind nicht nur Verordnungen, es geht auch um den Geist in unserer Stadt. Es geht darum, wie es in Hamburg politisch, moralisch weitergehen soll. Deshalb will ich auch ein klares Bekenntnis dafür ablegen, dass wir gesellschaftliche Verantwortung brauchen, dass wir aber auch den starken Staat brauchen, der mutig, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, der nicht wegschaut und der die Schwachen und Wehrlosen schützt und sie nicht ihrem furchtbaren Schicksal überlässt. – Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort erhält die Abgeordnete Goetsch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Kinderschutz in Hamburg hat versagt. Wenn wir heute hier auf politischer Ebene debattieren, dann gibt es nur zwei grundsätzliche Fragen zu klären: Wo ist versagt worden und was ist zu tun, das in Zukunft zu verhindern? Es sind immer noch viele Einzelfragen offen: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Kind ein halbes Jahr lang nicht in der Schule erscheint, wie kann ein Kind in der Großstadt verschwinden? Wie konnte es sein, dass außer wiederholtem Klingeln an der verschlos

senen Tür der Elternwohnung durch Mitarbeiter der Schulbehörde und außer einem Bußgeldverfahren nichts weiter unternommen wurde? Wie wird die Tätigkeit von REBUS beaufsichtigt? Wie ist die Rückmeldung an die Schulen, die Zusammenarbeit der Jugendämter und der Polizei geregelt? Wieso hat keiner der Beteiligten erkannt, dass das Nichterscheinen des Kindes ein Alarmzeichen war? Bisher haben wir die Informationen darüber in erster Linie der Presse entnommen. Die offenen Fragen und weiteren Details müssen aber Schulbehörde und Sozialbehörde gemeinsam aufklären und öffentlich darstellen und das wird spätestens nach Ostern in der Sondersitzung des Schul- und Jugendausschusses passieren. Das System hat, meine Damen und Herren, in diesem Fall versagt. Das gilt auch, wenn Einzelne Fehler gemacht haben, weil dann anscheinend Rückkoppelungen und Kontrollmechanismen nicht ausreichen.

Was folgt daraus? Politik und Behörden müssen alles tun, dass dieses nicht noch einmal passieren kann. Jetzt gibt es seit gestern, vor allem aus der Schulbehördenleitung, eine Menge Forderungen, vom Schulzwang bis zu einer neuen Datenbank. Aus unserer Sicht greift der Schulzwang zu kurz. Solider wäre eine ausführliche Analyse der Schwachstellen und Darstellung der Fehlerquellen gemeinsam mit allen Beteiligten auf Landes- und Bezirksebene. Das ist gestern durch eine Arbeitsgruppe vom Senat initiiert worden und das ist auch der richtige Weg. Dann müssen daraus Konsequenzen gezogen werden, sei es, systemische Fehler abzustellen und die verbindliche Koordination zwischen den Ämtern anzuweisen, sei es die Verpflichtung für Schule und Jugendamt einzuführen, regelmäßig zusammenzuarbeiten, wie es bereits in Schleswig-Holstein und Bayern vorgeschrieben ist, sei es zum Beispiel Hilfe aus einer Hand zu organisieren, dass nicht an verschiedenen Stellen unterschiedliche Akten geführt werden, sei es auch – das würden wir als GAL-Fraktion ausdrücklich unterstützen, das muss allerdings auf Bundesebene geregelt werden – Frühindikatoren mit einzubeziehen, zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen von der Geburt an verpflichtend einzuführen und die Kinderärzte als Partner in ein Netz der Prävention mit einzubeziehen, sie dafür zu gewinnen, natürlich auch mit der Verbindlichkeit, dann an das Jugendamt heranzutreten, wenn die Eltern nicht kommen und sei es, nicht nachzulassen, die soziale Stadtteilentwicklung weiter zu betreiben, um kurze Wege für schnelle Hilfe gerade auch für solche psychiatrisch kranke oder unfähige Eltern zu ermöglichen.

Wir brauchen in jedem Fall staatliche Aufsicht und Kontrolle. Die Stadt hat dann eben die Verantwortung und die Pflicht, bei Hilfebedarf oder drohender Verwahrlosung einzugreifen, um des Kindeswohl, wie es in der Fachsprache heißt. Dann muss Staat, Jugendamt, entscheiden, ob ein Ganztagesplatz in der Krippe ausreicht, ob ein Platz im Kinderschutzhaus angemessen ist oder ob auch ambulante Hilfen durch aufsuchende Sozialarbeiter zusätzlich nötig ist. Aber wichtig ist vor allem eines, auch meine Damen und Herren von der Regierung, dass wir nicht nur Daten brauchen, sondern eine ausreichende Zahl von Plätzen, von Personal, von Sozialarbeitern für vernachlässigte Kinder und Jugendliche, damit sie nicht aus unserem Blick geraten. – Danke.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort erhält Senatorin Dinges-Dierig.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Jessica, ein Hamburger Kind aus unserer Mitte kam nach Jahren grausamer Misshandlungen ums Leben. Wir alle sind erschüttert und fassungslos. Wir alle fragen uns, wie das geschehen konnte. Wir alle fragen uns, ob es Möglichkeiten gegeben hätte, Jessica dieses Schicksal zu ersparen. Der Tod Jessicas führt uns drastisch vor Augen, dass wir das Netz der öffentlichen Hand, dessen Funktion immer auch ein Schutz vor Versagen im privaten Bereich ist, engmaschiger knüpfen müssen.

Was wissen wir heute über das Schicksal von Jessica nach einer Woche Aufklärungsarbeit? Was können wir alle tun, damit sich solche Schicksale nicht wiederholen?

Wir wissen heute, dass Jessica bereits vor der Geburt ein schweres Schicksal vorgezeichnet war. Als viertes Kind einer Mutter, die vermutlich – nach heutiger Sachlage – nicht in der Lage war und ist, Kinder in Verantwortung großzuziehen, kam Jessica 1997 zur Welt. Das erste Kind der allein erziehenden Mutter wurde im Alter von acht Monaten mit bereits erkennbaren Zeichen von Entwicklungsrückständen durch Verwahrlosung zur Adoption freigegeben. Die zwei Kinder aus erster Ehe wurden, nachdem der Ehemann die Scheidung mit der Begründung eingereicht hatte, seine Frau kümmere sich nicht genug um die Kinder, dem Vater zugesprochen. Wir wissen heute, dass auch Jessica keine Chance durch ihre Eltern bekam. Anzeichen für Auffälligkeiten im Leben dieser Familie in den ersten Lebensjahren des Kindes hat es gegeben, die heute jedoch nicht mehr rekonstruiert werden können.

Meine Damen und Herren! Den Versuch, sowohl die Anmeldung zur Schule als auch die Beschuldung Jessicas zu erzwingen, unternahm im Januar und Februar 2004 die Schule Oppelner Straße mit – wie Sie wissen – insgesamt drei Schreiben. Dabei wurde ein Schüler der achten Klasse, der im gleichen Haus der Familie Schmidt wohnt, gebeten, dort den dritten Brief abzugeben. Der Schüler, obwohl er im gleichen Haus lebte, kannte Jessica auf Nachfrage nicht. Die Briefe blieben ohne Reaktion. Die Schule gab den Fall daraufhin an REBUS ab. Ein Mitarbeiter von REBUS in Billstedt versuchte im April dreimal erfolglos durch Hausbesuche die Familie zu kontaktieren. Er verbrachte einen Nachmittag mit der ergebnislosen Suche nach Informationen über Jessica im Haus, deren Anmeldung die Meldebehörde dort bestätigt hatte. Nachdem all dies erfolglos war, leitete der REBUSMitarbeiter Ende April ein Bußgeldverfahren ein, das ab Ende Mai lief.

Meine Damen und Herren! Dass dieses Verfahren hier ohne Einschaltung des Jugendamtes eingeleitet wurde, war aus heutiger Sicht eindeutig ein tragischer Irrtum, ein fataler Fehler, den ich zutiefst bedauere. Dieser Fehler führt uns zur Beantwortung der Frage, warum die Gefahr, in der sich Jessica, wie wir heute wissen, befand, nicht erkannt worden ist. Der REBUS-Mitarbeiter hat sein Urteil über diesen Fall von Schulabstinenz auf der Grundlage von Erfahrungswerten gefällt. Danach sind in Hamburg im vergangenen Jahr von 360 Erstklässlern, die trotz Aufforderung nicht angemeldet wurden, allein 170 Meldefehler gewesen. Fast jeder zweite Fall ist also einer, in dem nachlässige oder absichtlich falsche Anmeldung zu diesem Problem führt. Dieser Erfahrungswert und die Tatsache, dass vor Ort niemand und nichts über Jessica bekannt war, ja im Gegenteil, es gab Nachbarn, die davon

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