überzeugt waren, dass es in dieser Wohnung noch nie ein Kind gab, hat zu dem furchtbaren Irrtum geführt. Dies hat den REBUS-Mitarbeiter davon abgehalten, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen, wie es der Ermessensspielraum nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz als Möglichkeit vorsieht.
Meine Damen und Herren! Was können die Behörden im Bereich Schule tun, um einen solch tragischen Irrtum und seine furchtbaren Folgen in Zukunft soweit wie möglich auszuschließen? Ich denke, wir müssen zunächst einmal vorhandene Ermessensspielräume an wichtigen Stellen einschränken, und zwar so, wie ich in der vergangenen Woche gesagt habe, dass das Jugendamt in Zukunft immer einzuschalten ist, und zwar unverzüglich und schriftlich. Diesen Ermessensspielraum darf es hier nicht mehr geben.
Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage kann das Jugendamt eine Nachschau in der Wohnung beziehungsweise in Gewahrsamnahme des Kindes bei Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls nach Einzelfallprüfung veranlassen. Sie sehen, dass wir auch hier darüber nachdenken müssen, wie wir diesen Ermessensspielraum vielleicht doch einschränken.
Weiterhin wird der Senat der Bürgerschaft auf meine Initiative hin vorschlagen, das Schulgesetz um eine Norm "Schulzwang" zu ergänzen. Dann können Kinder, deren Eltern sich der schriftlichen Aufforderung zur Vorstellung oder Anmeldung zur Schule widersetzen, oder auch Kinder und Jugendliche, die die Schulpflicht verletzen, durch die Bildungsbehörde mit Hilfe von Vollstreckungsbeamten, auch mit Hilfe der Polizei und Feuerwehr, vorgeführt werden. Das bedeutet eindeutig Zeitgewinn, wichtige Zeit, und das bedeutet auch, dass der Fall in den Händen einer verantwortlichen Stelle bleibt.
Meine Damen und Herren! Das wird jedoch nicht reichen, denn als Jessica schulpflichtig wurde, hatte sie bereits sechs lange Jahre Leiden hinter sich. Das dürfen und können wir so nicht hinnehmen. Deshalb ist es wichtig, dass wir Informationen über gefährdete Kinder und Familien, die in verschiedenen Behörden, teilweise über verschiedene Bezirke über die Jahre entstehen, besser vernetzen und den Mitarbeitern vor Ort, wie zum Beispiel REBUS-Mitarbeitern, den Zugriff auf diese Informationen erleichtern. Wir alle sind aufgefordert, zum Datenschutz ein differenzierteres Verhältnis aufzubauen. Ich denke, das Schicksal Jessicas beweist es uns. Deshalb wird eine bei der Justizbehörde angesiedelte senatsübergreifende Arbeitsgruppe den Aufbau eines vernetzten Dateninformationssystems prüfen. Hierbei gilt es, rechtliche Hürden zu erkennen und abzubauen, notfalls auch mit Initiativen auf Bundesebene. Insbesondere dieser raschere Datenabgleich der Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämter sowie der Bildungsbehörde wird so ermöglicht. Informationen, wie zum Beispiel über die Mutter von Jessica mit ihren ersten drei Kindern, würden so nicht mehr ungenützt bleiben. Parallel dazu wird die Bildungsbehörde den Aufbau eines zentralen Schülerregisters vorbereiten.
Meine Damen und Herren! Nach all dem bleibt aber bei vielen, auch bei mir persönlich, ein großes Stück Trauer und Entsetzen darüber, dass mitten unter uns ein solches Schicksal möglich ist. Ich meine, es ist deshalb abseits aller Möglichkeiten staatlicher Regelungen und Eingriffe unsere Pflicht, diesen Fall zum Anlass zu nehmen, für mehr Verantwortung zu werben, mehr Verantwortung, die jeder von uns in seinem Umfeld für Kinder wahrnehmen
kann, für ihr Schicksal und für ihr Wohl. Der Fall Jessica muss eine Mahnung dafür werden, dass wir mehr Aufmerksamkeit und Zuwendungen, aber auch mehr Nachfrage und Vorsicht brauchen, um der wachsenden Unkultur des Wegschauens entgegenzuwirken. – Ich danke Ihnen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Egal, wohin man geht in Hamburg und mit wem man spricht, immer wieder kommt das Gespräch auf den Tod von Jessica und seine Umstände. Nach wie vor sind viele Fragen offen und nicht geklärt. Es herrscht Entsetzen und Unverständnis darüber, wie Eltern ihr Kind so vernachlässigen und es sogar verhungern lassen können. Es bestürzt uns, ein siebenjähriges Kind, das so wenige Menschen kennen, dass fast niemand ein Bild mit diesem Kind verbinden kann. Deshalb fragen wir uns heute in dieser Debatte zu Recht, was hätte getan werden können, um diesen Tod zu verhindern. Als Abgeordnete fragen wir zu Recht, wie hätten staatliche Stellen anders agieren können.
Im Kern steht nicht die Schulpolitik an erster Stelle, denn sie greift erst zu späteren Jahren. Die Eltern von Jessica waren im staatlichen Hilfesystem. Sie haben jahrelang von Sozialhilfe gelebt. Auch das Kind hat Sozialhilfe bezogen. Mehrfach sollen Jugendämter Hinweise auf die Vernachlässigung der Kinder geliefert haben. Diesen Hinweisen ist wohl nicht nachgegangen worden. Wir kennen zwar noch nicht alle Fakten. Aber wir kommen sehr entschieden zu dem Schluss, dass staatliche Stellen hier Fehler gemacht haben. Wir möchten nicht, dass diese beschönigt werden, und wir möchten auch nicht, dass durch schnelle Vorschläge von Gesetzesveränderungen der Eindruck erweckt wäre, dieser Fall hätte nicht vermieden werden können. Wer von anderen Verantwortung einfordert, muss sie auch selber tragen. Und das berührt diesen Fall.
Es gibt aber natürlich eine weitere Ebene, die uns Unbehagen verursacht, weil wir wissen, dass es viele vernachlässigte Kinder in Hamburg gibt, und wir wissen, dass die Hilfe sie oft nicht erreicht.
Wir haben in Hamburg sichergestellt, dass Vermieter die Miete direkt vom Sozialamt überwiesen bekommen, wenn nicht gezahlt wird. Wir haben aber nicht sichergestellt, dass Kindergeld und Sozialhilfe für Kinder direkt die Kinder erreichen. Das passt beides nicht zusammen.
Ein Mitarbeiter des Sozialamtes war in der Wohnung und hat sich vergewissert, dass die Eltern bei der Finanzierung einer Couchgarnitur Hilfe brauchten. Er hat diese Hilfe gewährt, aber der Hilfebedarf des Kindes ist unbemerkt geblieben. Auch das passt nicht zusammen.
Es zeigt, wir brauchen in Hamburg ein besseres, ein entschlosseneres Hilfesystem. Das Netz muss enger geknüpft werden.
Wer unterwegs ist, wie es viele von uns sind, und zuhört, kann tausende von Geschichten erfahren über Hilfe, die unterbleibt, die zu spät kommt, obwohl Menschen versucht haben, Hilfe für Kinder zu organisieren. Da endet man beim Telefonat mit nicht zuständigen Menschen,
Initiativen verzögern sich so lange, bis sie sinnlos geworden sind, und manchmal endet staatliches Handeln auch an der Haustür, wenn sie denn überhaupt so weit kommt. Manchmal enden Hilfeversuche aber auch, weil es keine Angebote gibt.
Wir sollten ein wenig von skandinavischen Ländern lernen, in denen das Kindeswohl mehr zum Maßstab von Politik und Handeln gemacht wird und bei dem auch an der Wohnungstür nicht Halt gemacht wird. Wir müssen uns allerdings klar darüber sein, dass es diese konsequente Politik für Kinder und Jungendliche nicht umsonst gibt. Wir brauchen nicht weniger Angebote, wir brauchen mehr, und wir müssen sie umgestalten, damit Kinder gesund, stark und gewaltfrei aufwachsen können.
Ich würde mir wünschen, wenn der Vorschlag von Herrn Neumann aufgegriffen wird und wir Gelegenheit haben, intensiv über diese Fragen zu diskutieren. Ich will zu Herrn Weinberg sagen, wir können die Debatte sachlich führen, aber sie wird nicht ohne Streit bleiben, weil wir nicht zu denen gehören, die unter dem Stichwort der Eigenverantwortung den Rückzug des Staates in Hamburg aus vielen Hilfesystemen betreiben. Das werden wir besprechen müssen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Tod von Jessica hat in dieser Stadt etwas aufgewühlt, was noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Wir sollten unsere parlamentarische Verpflichtung wahrnehmen und all diesen Fragen sehr intensiv nachgehen. Wir werden nicht alles beantworten können, aber ein Ergebnis steht aus meiner Sicht fest: Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Hilfe für Kinder und Jugendliche in dieser Stadt. – Danke.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Jessica ist für Hamburg ein tragischer Fall, aber wir sollten uns bewusst machen, leider kein Einzelfall.
In den letzten fünf Jahren sind bundesweit mindestens acht Kinder aufgrund von Vernachlässigungen gestorben; letzte Woche auch ein Kind in Berlin, das noch nicht schulpflichtig war.
Laut UNICEF-Studie sterben in den Industrieländern jedes Jahr rund 3500 Kinder unter 15 Jahren an den Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung und die Dunkelziffer ist, wie wir alle wissen, unbeschreiblich hoch.
Die Vernachlässigung von Kindern ist dabei wohl eine der schlimmsten Formen von seelischen und körperlichen Kindesmisshandlungen, denn sie kann, wie wir gemerkt haben, ganz unbemerkt stattfinden.
Aus diesem Grund müssen wir alle – damit meine ich die Gesellschaft, ich meine die Politiker, Politikerinnen und die Behörden – aufmerksamer werden. Das viel zitierte Hinschauen, nicht Wegsehen, sollte in den Vordergrund unseres Alltags rücken. Wichtig ist jedoch, dass unsere Aufmerksamkeit nicht bei schockierenden extremen Fällen stehen bleiben darf.
Meine Damen und Herren! Nach meiner Wahrnehmung führten menschliches Versagen, führten Fehler und lü
ckenhafte Vorschriften zu Jessicas Tod. Die Ausführungen von Senatorin Dinges-Dierig haben mich in dieser Wahrnehmung bestärkt.
Bei der Suche nach den Ursachen von Jessicas Tod sollten wir aber auch den Vorschlag des Kinderschutzbundes aufgreifen und ein unabhängiges Gutachten zu den Umständen des Todes in Auftrag geben, um uns abschließend ein Urteil zu bilden. Dazu wird natürlich auch der gemeinsame Ausschuss dienen.
Dann können wir gezielt Maßnahmen entwickeln, um der Vernachlässigung von Kindern besser entgegenzutreten. Notwendig werden da an erster Stelle sicherlich vor allem die Maßnahmen sein, die Hilfen aus unterschiedlichen Bereichen besser verknüpfen und aufeinander abstimmen. Wir müssen dabei vor allem die Frage klären, wie das Jugendamt sein doppeltes Mandat von Hilfe und Kontrolle, Elternförderung und Kindesschutz am besten umsetzen kann. Wir müssen verstärkt Hilfe und Beratung für Eltern anbieten und diese untereinander vernetzen. Familienhebammen sind ein Beispiel dafür. In Kindergärten, Sozialeinrichtungen und behördlichen Stellen muss viel stärker als bisher der Kontakt zu den Eltern gesucht werden. Nicht zuletzt müssen die Jugendämter personell so ausgestattet sein, dass die aufsuchende Arbeit, die Hausbesuche ohne Probleme möglich ist.
Diese Hilfen, meine Damen und Herren, schützen die Kinder letztendlich und nachhaltig wesentlich besser als jede staatliche Zahlung an die Familien. In diesem Zusammenhang macht auch der Vorschlag der Senatorin durchaus Sinn, rechtlich zu überprüfen, ob die routinemäßigen ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen – die U 1 bis U 8 – verbindlich als Pflichtuntersuchungen eingeführt werden, um diese Lücke zwischen Geburt und Schulpflicht zu schließen. Ich denke, daran sollte gemeinschaftlich gearbeitet werden.
Der Maßnahmenkatalog der Bildungsbehörde ist ein erster Schritt, aber er kommt aus unserer Sicht viel zu schnell, viel zu unüberlegt und ist Folge des enormen Drucks der Öffentlichkeit, unter dem die Senatorin Dinges-Dierig steht. Der Fall Jessica macht deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Schul- und Sozialbehörde ist. Ich denke, hier haben die beiden Senatorinnen noch eine große Menge Arbeit vor sich.
Wir unterstützen aus diesem Grunde die Einrichtung einer behördenübergreifenden Arbeitsgruppe. An der sollten allerdings auch Experten aus der Jugendhilfe beteiligt sein. Es macht Sinn, alle Maßnahmen, die bislang vorgeschlagen wurden, nur als Vorschläge zu sehen und sie in einer solchen Arbeitsgruppe einer Prüfung zu unterziehen. Gemeinsam sollten wir alle dafür sorgen, dass ein gesellschaftliches Klima geschaffen wird, das jegliche Gewalt gegen Kinder ächtet und die Kultur des Hinschauens statt des Wegsehens fördert.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! In den letzten Tagen ist öfter die Frage gestellt worden, ob der Senat die Verantwortung für diesen tragischen Fall übernimmt. Ich kann nur sagen, er braucht sie gar nicht zu übernehmen, weil er sie hat. Der Senat ist verantwortlich dafür, dass die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der öffentlichen Hand in Hamburg ihre Arbeit rechtmäßig, korrekt und mit der Erfüllung ihrer Aufgaben in kluger Übereinstimmung bringend handeln und nicht nur Paragraphen erfüllen, um sich selbst einen "Persilschein" auszustellen für rechtmäßiges Verhalten.
Die Vorstellung, dass der Staat Fehler gemacht hat, dass staatliche Instanzen Fehler gemacht haben, besagt aber nichts über die Intensität. Wir sind im Moment nach meiner Wahrnehmung noch nicht in der Lage, die Art und Weise und Intensität staatlichen Fehlverhaltens richtig zu bewerten. Deshalb meine ich, Frau Goetsch, ist es im Moment noch zu früh, wenn Sie sagen, das System habe versagt. Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eine zu kräftige Formulierung dafür ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst in diesem tragischen Fall überwiegend sehr sachgemäß und vernünftig gehandelt haben und in einzelnen Fällen eben nicht sachgemäß. Diese einzelnen Fälle haben sich in tragischer Weise zu dem Endergebnis kumuliert.
Ich finde es sehr positiv, dass bei der Analyse der Beiträge aller drei Fraktionen nicht der Versuch gemacht wurde, diesem tragischen Fall mit irgendeiner Form eines Patentrezepts beikommen zu wollen. Ich möchte daran erinnern, dass wir uns hier auf dem Feld der einerseits wichtigsten und andererseits schwierigsten staatlichen Aufgabe überhaupt befinden, im intimen, geschützten Familienbereich Kindesmisshandlungen zu verhindern oder – wenn sie begangen sind – aufzuklären.
Für eine solch schwierige Aufgabe, die viel schwieriger ist als Strafverfolgung an anderen Stellen, an öffentlichen Plätzen und Orten, muss man sich bei der Problemlösung von vornherein Folgendes klar machen und eingestehen: Man kann nicht mit einfachen Patentrezepten die Zäsur zwischen den beiden Bereichen finden, die intakten Familien von staatlicher Bevormundung frei zu lassen und die nicht intakten Familien frühzeitig zu beobachten und zu kontrollieren, damit der Staat dann die Möglichkeit zum Eingreifen hat. Es wird Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein, die Schnittstellen, die nach meiner Wahrnehmung in Hamburg überwiegend sehr klug, vernünftig und einfühlsam gezogen werden, noch besser zu analysieren und festzustellen, ob die Mitarbeiter mit noch mehr Indizien ausgestattet früher, besser und prägnanter ihre Prognose stellen können, ob eine Familie mit bestimmten Merkmalen zur Kategorie der schwierigen und deshalb hilfsbedürftigen Familien gehört oder zu jenen Familien, in die sich der Staat nicht einzumischen hat.
Die Projektgruppe "Informierte Jugendhilfe" hat die Aufgabe, ein Defizit, das wir schon in diesen Tagen erkannt haben, aufzuarbeiten und einer Lösung nahe zu bringen, nämlich das Defizit, dass der Staat sich gar nicht anders organisieren kann, als die Hilfe für junge Menschen in verschiedenen Institutionen zu organisieren. Zur Hilfe für junge Menschen zählt nicht nur die Jugendhilfe, nicht nur REBUS, sondern beispielsweise auch Polizei oder das Familieninterventionsteam. Auch die Staatsanwalt ist daran beteiligt, denn der Fall Jessica zeigt, dass das Verhältnis von familiärer Tragödie zur Begehung schwerer Straftaten oftmals in einer Relation zueinander ist. Das heißt, diese Institutionen, die ich gerade nenne – es sind ja nur einige wenige Beispiele von mehreren, die ich sonst noch nennen könnte –, werden immer einzelne Institutionen bleiben. Es kann der Staat sich nicht so organisieren, dass es eine einzige Institution gibt, die auf diesem Sektor tätig wird. Deshalb ist es unsere Aufgabe,