(Andreas Bluhm, PDS: Ja, ja, unter den Blinden ist der Einäugige König.) von gegliederten und integrierten Schulsystemen. (Dr. Margret Seemann, SPD: Das ist falsch.)
Und wenn Sie sich solchen Ergebnissen nicht verschließen wollen, dann nehmen Sie diese bitte zur Kenntnis und richten Sie Ihr Handeln darauf aus!
Meine Damen und Herren! Defizite räume ich dabei gerne ein. In der Hochbegabtenerkennung haben wir zur Zeit noch gravierende Mängel zu verzeichnen.
Das fängt jedoch nicht erst in der Grundschule an. Hier ist schon der Kindergarten gefordert. Auch das ist bereits vorhin festgestellt worden. Aber in der Ausbildung der Grundschullehrer müssen Methoden und diagnostische Instrumente vermittelt werden, die die Lehrer befähigen, Hochbegabungen zu erkennen, denn nicht wenige von ihnen landen als verhaltensauffällige Kinder in der Haupt- oder Realschule,
Hier ist Handlungsbedarf gefordert, dieser aber – das muss ich noch dazu sagen – bundesweit und nicht nur in unserem Land.
Meine Damen und Herren! Das Argument der Spätzünder, die Ihrer Ansicht nach häufig den sogenannten bildungsfernen Bevölkerungsschichten entstammen, ist tausendfach in der Bildungsdebatte der alten Bundesländer vorgetragen worden und wird dadurch nicht wahrer, wie Kathrin Spoerr in der „Welt“ vom 02.03.2000
(Andreas Bluhm, PDS: Ich denke, Sie waren auf dem Symposium und haben Herrn Prüß gehört, Herr Vierkant? – Dr. Margret Seemann, SPD: Gehört ja.)
unter dem Titel „Der Kampf um die Grundschule“ feststellte. Sie postulieren mit der schulartenunabhängigen Orientierungsstufe Chancengleichheit. Diese Chancengleichheit soll dazu führen, dass die Chancen der Kinder aus unteren Schichten, am Aufstieg durch Bildung teilzuhaben, größer sind. Haben Sie diese Aussage schon einmal auf ihre Validität überprüft? Mir ist keine Studie bekannt, die diese Aussage stützt. Für die größere Mehrheit der Schüler bedeuten gleiche Rahmenpläne, gleiche Stundentafeln und Inhalte eine Bremse der persönlichkeitsgerechten individuellen Förderung.
(Andreas Bluhm, PDS: Die Förderpolitik der Bundesrepublik widerlegt diese Aussage aber sehr deutlich.)
In Nordrhein-Westfalen wies das schon zitierte MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung Berlin jüngst nach, dass Realschüler gegenüber gleichbegabten Gesamtschülern, die eine Art Orientierung durchlaufen, am Anfang des siebenten Jahrganges in Mathematik und Englisch einen Wissensvorsprung von etwa einem Schuljahr haben. Nun werden Sie sagen: Okay, Wissensvorsprung. Wie verhält es sich aber mit dem sozialen Element des gemeinsamen Lernens? Dazu später mehr.
Fest steht eines: Die meisten Schüler verlieren mit der schulartenunabhängigen Orientierungsstufe nach Ziffer 127 des Koalitionsvertrages zwei Jahre begabtengerechte Förderung.
Zum Abschluss dieses Argumentationspunktes will ich noch einmal Professor Roeder vom MPI hier in Berlin bemühen. In der Zeitschrift für „Pädagogik“ Nummer 2/1997 stellte er fest: „Insgesamt sprechen die hier vorgelegten Befunde“ – die Fallstudien an fünf Berliner Gesamtschulen – „nicht dafür, dass der Verzicht auf Formen der äußeren Leistungsdifferenzierung durch Binnendifferenzierung in heterogenen Lerngruppen unter den gegebenen Bedingungen weitgehend zu kompensieren ist.“ Und jeder, der einige Jahre an den POS unterrichtet hat, hat das sicherlich noch gut in Erinnerung, wie sehr dieses Steckenpferd Binnendifferenzierung geritten wurde und wie wenig diese Binnendifferenzierung zu realisieren war.
Ihr sogenannter Reformansatz in struktureller wie auch inhaltlicher Hinsicht steht bundesweit auf dem Prüfstand. Welche plausiblen Gründe führen dazu, dass Sie die Erfahrungen anderer Bundesländer nicht berücksichtigen? Welche Argumente führen Sie ins Feld, mit denen Sie glauben, es besser machen zu können als die anderen? Das sind Fragen, die Sie bis heute nicht beantworten können und wollen.
Meine Damen und Herren! Widmen wir uns nun dem zweiten Hauptargument der Anhänger der schulartenunabhängigen Orientierungsstufe, nämlich der besseren sozialen Integration von Schülern, wenn sie in leistungsheterogenen Lerngruppen nach der Grundschule zusammenbleiben. Auch dieses Argument ist schulpädagogisch längst widerlegt.
Lassen Sie mich auch hier wie schon bei dem anderen Argument mit der hiesigen Schulpädagogin Frau Eckerle beginnen: „Es muß beachtet werden, daß bei der leistungsschwächeren Gruppe widersprüchliche Erfahrungen erzeugt werden.... Die zu beobachtenden Wirkungen der Schulform“ (Orientierungsstufe) „sind zum Teil paradox; die niedriger leistenden Kinder identifizieren sich als solche, anstatt die kompensatorischen Wirkungen zu erleben.“
(Angelika Gramkow, PDS: Sie spricht von der abhängigen Orientierungsstufe und nicht von der unabhängigen.)
(Angelika Gramkow, PDS: Ja, ich habe ganz bewusst diese beiden Wörter genannt. – Zuruf von Dr. Margret Seemann, SPD)
(Harry Glawe, CDU: Und wo haben Sie ein Problem, Frau Gramkow? – Andreas Bluhm, PDS: Ach, Herr Glawe!)
Ich korrigiere: Hier geht es nicht um die Leistungsheterogenität, sondern hier geht es darum, dass lernschwache langsame Kinder in einer Lerngruppe zusammen gesessen haben. Und genau die erleben es nicht als Kompensation ihrer Leistungsschwäche, sondern sie erleben sich als genau diese langsamen Schüler, und zwar nach Ihrem Modell dann zwei Jahre länger.
Auch hier wiederum kommt das Kernargument, dass die Erwartungen, die Sie in die Orientierungsstufe setzen, nicht erfüllt werden können, denn auch das stellt Professor Eckerle in einem anderen Aufsatz zum gleichen Thema fest: „Wenn es stimmt, was in der Evaluation der Schulform allgemein festgestellt wird, daß die Arbeitsweisen der Orientierungsstufe pädagogisch besonders anspruchsvoll und für den Erfolg entscheidend sind, dann sollte man auch danach handeln: kleine Gruppen, Stützkurse, Koordinationsstunden für die Lehrkräfte, sorgfältige Diagnostik. Das kann Mecklenburg-Vorpommern weder für alle Kinder finanzieren, noch haben wir genügend Lehrer, die diese Feindifferenzierung und Diagnostik leisten können.“
Auch wenn Sie in der Mittelfristigen Finanzplanung ein Mehr an Lehrerstunden und -stellen vorgesehen haben, so werden Sie dem notwendigen Förderanspruch weder für die einen noch für die anderen gerecht werden können. Frau Professor Eckerle hat auf ein wesentliches Argument der Orientierungsstufe hingewiesen. Niedersachsen erkannte vor Jahren dieses Problem und richtete Kleinlerngruppen innerhalb der Orientierungsstufe ein. Allein dieser Schritt zeigt, dass sich die Blütenträume des integrativen Unterrichts nicht erfüllen konnten. Dies betrifft vor allem die Gruppe, der Sie mit der schulartenunabhängigen Orientierungsstufe aus dem unverschuldeten Dilemma helfen wollen, denen aufgrund der sozialen Strukturen im Elternhaus eine kontinuierliche Heranführung an Bildung versagt war, die aufgrund der sozialen Strukturen ohnehin benachteiligt sind. Denen möchten Sie helfen und da sind wir uns einig, denn wir wollen das ja auch. Deshalb sollten wir die Debatte nach dem besten Weg führen und geschilderte und empirisch untersetzte Erfahrungen sehr ernst nehmen.
In Niedersachsen wurde 1996 eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Förderpraxis in der Orientierungsstufe auseinander setzt. Verblüffend ist, dass konkret das hier zweitgenannte Argument eines positiveren sozialen Lernverhaltens im heterogenen Klassenverband widerlegt wurde.
In der Zusammenfassung ihrer Untersuchungsergebnisse stellen Henze, Sandfuchs und Zumasch fest: „Die Kleinlerngruppenschüler beurteilen ihre Lernumwelt in allen Belangen tendenziell besser als vergleichbare Regelschüler.... Offensichtlich
haben Schüler in Kleinlerngruppen in besonderer Weise das Gefühl, daß Lehrer sich Zeit und auf die Schwächen der Schüler Rücksicht nehmen, den Schülern Mut
beteiligen sich Kleinlerngruppenschüler mit geringerer Angst am Unterricht, haben weniger Angst vor Klassenarbeiten und machen sich weniger Sorgen um ihre Schulnoten,
sind Kleinlerngruppen eher der Meinung, daß sie den Unterrichtsstoff bewältigen können, daß sie mit Anstrengung und Übung Erfolge erzielen können,
schätzen die Kleinlerngruppenschüler ihre sozialen Beziehungen zu bzw. Interaktionen mit ihren Mitschülern positiver ein.“
Diese Aussage muss nicht kommentiert werden, sie steht für sich selbst. Ich will mich mehr zu der Aussage hinreißen lassen, dass diese empirische Studie in pädagogischer Hinsicht durchaus eine Grundlage für ein ausgefeiltes Hauptschulkonzept sein könnte. Es wäre zwar nicht vollkommen, da nur auf die Orientierungsstufe bezogen, aber in der Frage der Auswahl der Schüler für die Kleinlerngruppen sehe ich plausible Parallelen für die Auswahl von Hauptschülern. Und dann ist die Hauptschule in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und mancher politischer Kreise im Land kein Sammelbecken mehr für verhaltensauffällige Schüler, sondern eine Schule mit einem speziellen Förderansatz für lernschwache Schüler. Hier würden wir Professor Prüß aus Greifswald entgegenkommen, der in seinem etwas widersprüchlichen Vortrag auf dem Bildungskongress in Güstrow feststellte: „Wenn es keinen guten Hauptschüler gibt, ist die Hauptschulkonzeption verfehlt.“
Abgesehen davon, dass es in Mecklenburg-Vorpommern kein Hauptschulkonzept gibt, weil es politisch seit 1994 nicht erwünscht war, durchaus aber immer noch seit genau dieser Zeit in den Schubladen des Bildungsministeriums schmort, bestätigt auch Professor Prüß, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Leistungserfolgen und erfolgreichem sozialen Lernen gibt.
Fazit: Wenn es Ihnen nicht gelingt – und das habe ich mit Professor Eckerle versucht zu illustrieren, dass Ihnen das nicht gelingen kann –, die langsamen Schüler zu Lernerfolgen zu führen und ein entsprechendes Lernumfeld zu produzieren, mit all den Ergebnissen, die die genannte Studie gebracht hat, dann tun Sie den Kindern, denen Sie eigentlich etwas Gutes tun wollen, genau das Gegenteil an: Sie stigmatisieren sie weiter.