Protokoll der Sitzung vom 13.12.2001

Da es inzwischen offensichtlich fast unmöglich ist, sich wenigstens auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner eines gesellschaftlichen Wertekanons zu verständigen, bleiben die Zehn Gebote und gegebenenfalls das Strafge

setzbuch. Ein bisschen dünn für eine demokratische Gesellschaft! Und Bildung als gesellschaftlicher Wert ist leider längst nicht mehr im Trend. Spaß- und Konsumgesellschaft ist mit Eigenheiten wie Fleiß und Anstrengung schlecht vereinbar. Für eine positive Lernmotivation haben wir gegenwärtig nur Negativmeldungen auf der ganzen Strecke.

Wenn also behauptet wird, die Bildungspolitik hat versagt, so wird hier wieder mal zu kurz gegriffen. Die ganze Wahrheit lautet: Die Gesellschaft hat versagt

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und Angelika Gramkow, PDS)

und es liegt auch in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft umzusteuern. Letztendlich schlägt es auf uns alle zurück, wenn wir eine Jugend heranbilden und erziehen, die einem selbst verantworteten Leben nur unzureichend gewachsen ist. Drogen, Gewalt, Kriminalität und Vandalismus sind extreme Symptome, aber Jugendliche ohne Schulabschluss, mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten, Lehrabbrecher oftmals schon die Vorboten. Grund genug, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Bildung und Erziehung endlich wieder zu übernehmen. Schule kann allein nicht richten, was in der Gesellschaft schief läuft.

Zweitens. Die proklamierte aktuelle Bildungskatastrophe ist in Wahrheit eine Erziehungskatastrophe. Und es ist nur nahe liegend, die Hauptverantwortlichen für die Erziehung in den Analyseprozess einzubeziehen – die Eltern als Erziehungsberechtigte, aber doch auch -verpflichtete.

Die Detailstudie PISA weist nach, dass es einen engen Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Leistungsniveau gibt. Man spricht auch von bildungsfernen Kreisen, die ihren Kindern deutlich schlechtere Chancen mit auf den Weg geben. Auch dies ist eine Binsenweisheit. Allerdings scheint man wie selbstverständlich davon auszugehen, dass die Schule diese Chancenungleichheit vollständig ausgleicht. Dies kann sie in Ansätzen auch tun und es gibt, wie wir auch heute wieder gehört haben, umfassende Überlegungen, Förderung zu verbessern. Aber die Frage darf doch mal gestellt werden, inwieweit Verantwortung von Eltern verbindlicher geregelt werden kann, Verantwortung für die Erfüllung der Schulpflicht, der Ausstattung und Unterstützung schulischer Belange. Eltern brauchen Hilfe und Orientierung in dieser schwierigen Aufgabe. Wo bekommen sie diese? Auch hierüber wird neu nachzudenken sein.

Wenn man aber, wie zunehmend real, die Prägung eines kindlichen Weltbildes fast ausschließlich einem willkürlich zusammengewürfelten Medienprogramm überlässt, kann man sich über Ergebnisse eigentlich nicht mehr wundern. Die Scheu vor Interventionen und Grenzsetzungen im Kleinen führt zwangsläufig dazu, dass Erziehung zunehmend nicht mehr stattfindet. Wissenschaftliche Analysen zeigen erschreckende Tendenzen auf, was falsch verstandene Liberalität und Toleranz, Gleichgültigkeit, Reizüberflutung und Konsumübersättigung in unserer jungen Generation anrichten; Auswirkungen auf den Lernprozess inbegriffen.

Drittens. Wenn die Erwartungshaltung an Schule in der öffentlichen Darstellung geprägt ist von müheloser Unterhaltungspädagogik, von Kuschelecken, Lehrern als Moderatoren, Fun haben, Actionprojekten und ähnlichen Unverbindlichkeiten, wenn Schule nur dann in Schlagzei

len gerät, weil zunehmender Vandalismus die gesetzlichen Kassen auf den Plan ruft, oder wenn die Freiheit einer Schülerin in Friedland zu verteidigen ist, die bei vier Grad minus Außentemperatur nicht nur mit freiem Bauch, sondern vor allem auch halbwegs freigelegtem Hinterteil das Unterrichtsgeschehen bereichern möchte. Leider interessierte es keinen bei dieser Knallerbsenstrauchaktion, dass an dieser Schule, gemeinsam getragen durch Eltern, Lehrer und Schüler, seit Jahren gegen den Strom geschwommen wird, gegen den Strom von Gewalt und Vandalismus, gegen Schulaversion und Leistungsverweigerung. Da bauen alle Beteiligten mühevoll an einem Lernklima der gegenseitigen Achtung, der Gewaltfreiheit – und jetzt der Skandal! Die Würde einer Schülerin aufs tiefste verletzt, sie soll ihre Unterwäsche nicht offen tragen dürfen!

Der PISA-Schock kann auch in diesem Falle nur heilsam sein. Man beschäftigt sich endlich mal wieder mit den wirklichen Aufgaben von Schule. Die SVZ zum Beispiel stellte meiner Meinung nach die richtigen Fragen. Was machen erfolgreichere Länder anders? Was sollten wir übernehmen? Sachliche Hintergrundinformationen ermöglichen ein objektives Gesamtbild. Vor allem, man redet mit den Beteiligten, nicht über sie. In der Folgezeit wird den Medien eine große Verantwortung zuwachsen, Reformprozesse zu begleiten, weil sie eben nicht nur die Schule selbst betreffen und eben nicht nur bildungspolitisch einzuordnen sind. Zum Glück ist erkennbar, dass der größte Teil der Journalisten sich dieser Verantwortung engagiert stellt. Da kann man auch solche Plattheiten in Stammtischmanier, die Schüler lernen nichts, die Lehrer sind schuld, schon mal in den Skat drücken. Hoffentlich bilden sich die Leser auch darüber mal ihre Meinung.

Die Qualitätssicherung von Bildungs- und Erziehungsprozessen ist absolut kein Thema für Parteienstreit. Zu deutlich ist bereits jetzt erkennbar, dass sowohl der konservative gegliederte Bildungsansatz nach frühestmöglicher Selektion als auch die ausschließlich auf Wissensvermittlung orientierte Schuldefinition ebenso wie die antiautoritäre Pädagogik der 68er-Reformer nicht die erträumten Ergebnisse zeigten. Hier können nur mutige Lösungen helfen und im Vorfeld die kritische Überprüfung auch eigener Standpunkte. Wär’ schön gewesen, Frau Schnoor!

Die Schulgesetzänderung greift wichtige Problemfelder bereits auf, denn die Qualitätsdebatte hat in Mecklenburg-Vorpommern bereits stattgefunden. Sie findet ihren Niederschlag im Gesetzestext, in Versetzungsordnungen, in aufgestockten Stundentafeln im Kernbereich, in der weiteren Ausgestaltung der Ganztagsschule. Das sind übrigens alles Punkte, die angesprochen wurden auf der KMK, von der Sie vorhin sprachen.

Die intensive Arbeit am Qualitätssicherungskonzept und die nunmehr zur Diskussion stehende Einführung der Regionalen Schule und des 12-Jahres-Abiturs ab dem kommenden Schuljahr zielen darauf ab, Schule verstärkt leistungsorientiert, differenziert und motivierend zu gestalten, den Unterricht allgemein bildend und praxisnah durchzuführen sowie die Bildungsgänge einerseits berufsorientierend und andererseits studienvorbereitend bei größtmöglicher Durchlässigkeit zu profilieren. Das wird eine größere Akzeptanz bei Schülerinnen, Schülern, Eltern, Lehrkräften und auch in der Wirtschaft hervorrufen und gleichzeitig einen großen Motivationsschub an unsere Schulen bringen. Davon bin ich überzeugt.

Die qualitative Verbesserung der Haupt- und Realschulen erfolgt durch die Ausrichtung auf Berufswelt und Lebenspraxis in den künftigen Regionalen Schulen. Rahmenpläne und Schulprogramme befördern anwendbare Wissensaneignung. Die Erziehungsfunktion der Schule wird gestärkt durch die Einführung einer Klassenlehrerstunde, durch die Berücksichtigung des Arbeits- und Sozialverhaltens in Zeugnissen, durch das aufwachsende Angebot an Ganztagsschulen. Und Schulstationen fördern gezielt verhaltensauffällige und schulaversive Kinder.

Durch die Schulorganisation ist gesichert, dass der höchstmögliche Abschluss über alle Bildungswege erreichbar ist. Durchlässigkeit ist damit bis zum Ende von Klasse 10 gewahrt. Leistungsanforderungen werden konsequenter gestellt. Die Versetzungsentscheidung nach Klasse 5, die Stärkung der Klassenkonferenz bei Laufbahnentscheidungen nach der Orientierungsstufe, die Anerkennung der mittleren Reife nur nach erfolgreicher Prüfung erhöhen Verbindlichkeit und verbessern Förderchancen.

Die Verkürzung des gymnasialen Bildungsganges orientiert sich an europäischen Standards und ist eine allgemeine Forderung der Gesellschaft. Das Gesetz schafft Rahmenbedingungen für eine Konzentration der Bildungsinhalte und Organisationsformen. Dies schließt jedoch erhöhte Anforderungen an die Einzelschülerinnen und den Einzelschüler ein, die sich nun in einer aufgestockten Stundentafel und veränderten Versetzungsbedingungen niederschlagen. Hierbei gilt es, Bedingungen in unserem Flächenland zu beachten. Längere Schulwege erhöhen die Belastung der Schüler im ländlichen Raum. Das Ganztagsschulangebot wird gerade in diesen Fällen Chancengleichheit sichern.

(Vizepräsidentin Renate Holznagel übernimmt den Vorsitz.)

Wenn ich mich in meinen Ausführungen auf die inhaltlichen Schwerpunkte der Gesetzesänderungen konzentrierte, ohne mich eng am Gesetzestext entlangzuhangeln, dann geschah dies in erster Linie, um Wiederholungen zu meiden, vor allem aber auch deshalb, weil die Arbeit am Entwurf in den Ausschüssen durch Expertenanhörungen sicher dafür sorgen wird, dass es in einzelnen Formulierungen durchaus Änderungen geben kann. Das wird zum Beispiel aus meiner Sicht für den Paragraphen 66 Absatz 2, der die Entscheidung der Klassenkonferenz bei einem Wechsel des Bildungsganges regelt, mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen. In der jetzigen Formulierung ist nur eine Einbahnstraße vorgezeichnet, die auf Antrag der Eltern den Wechsel in eine andere, ganz offensichtlich aber nur höhere Schulart in Betracht zieht. Bleibt es bei dieser einseitigen Durchlässigkeit wird das den Run aufs Gymnasium nach Klasse 4 nur verstärken, denn nach Klasse 6 wird es schwieriger wegen der Leistungsparameter.

Was aber geschieht mit Schülern, die am Gymnasium nachweislich überfordert sind? – Nach der jetzigen Lesart ohne Antrag der Eltern gar nichts. Also bleibt der hier zurzeit gültige Ist-Stand. In mancher Hinsicht wird auch genau zu prüfen sein, wie die Gesetzesregelungen auf dem Verordnungsweg zu untersetzen sind. Wie ermöglichen wir beispielsweise Gymnasialschülern, die das Abitur nicht schaffen, den Abschluss der mittleren Reife? Und, nicht ganz unwichtig der Gedanke, welche aktuellen Anregungen zur Verbesserung von Schulqualität können in die Gesetzesdebatte einfließen, besonders im Hinblick auf die Stärkung der Erziehungsfunktion von Schule?

Im Kontext der internationalen Schulqualitätsdebatte setzt das veränderte Schulgesetz die richtigen Schwerpunkte, die auch im Maßnahmekatalog der Kultusministerkonferenz vorkommen: gesichertes Grundlagenwissen, verbesserte Förderung des jeweiligen Leistungsniveaus, verbindliche Regelung des Erziehungsauftrages, Orientierung auf anwendbare und gesellschaftlich relevante Bildungsinhalte.

Mit diesem Gesetz kann jedoch noch längst kein Schlusspunkt gesetzt werden. Qualitätssicherung ist ein permanenter Prozess. Die Frage nach vorschulischer Bildung und Erziehung, die Frage nach gezielter Förderung von Schülern mit so genanntem bildungsfernen Hintergrund beispielsweise durch Ganztagsschulen oder gezielte Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung wird diesen Prozess ebenso begleiten müssen wie die Frage nach materieller Ausstattung oder dem Stellenwert von Bildung für den Einzelnen und die Gesellschaft.

Von den ersten Thesen zur Regionalen Schule bis zur heutigen Gesetzesberatung liegt bereits ein umfangreicher Diskussionsprozess hinter uns, begleitet von einer interessierten Öffentlichkeit. Wir gehen davon aus, dass das weitere Verfahren zügig und konzentriert gestaltet werden kann, denn für die Schulen ist es vor allem wichtig, rechtzeitig Planungssicherheit zu bekommen. Das wird angesichts der Terminenge eine hohe Einsatzbereitschaft aller Beteiligten voraussetzen, aber dies sollten uns die Schulen schon wert sein.

(Beifall Götz Kreuzer, PDS)

So weit zu meinem Redetext.

Nun noch einige Anmerkungen im Anschluss zur Rede von Frau Schnoor: Sie fordern, dass wir unseren Gesetzesentwurf noch mal zurückhalten wegen der neuen gründlichen Analyse. Ja wissen Sie, wie lange denn eigentlich noch?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS)

Was haben wir denn eigentlich hier gemacht in den letzten Jahren? Glauben Sie, schon die Ergebnisse der Studie TIMSS sind völlig unbeachtet an uns vorbeigegangen? Dann müssen Sie aber wirklich tief geschlafen haben die ganze Zeit,

(Zuruf von Steffie Schnoor, CDU)

denn alles, was hier eingeflossen ist, Frau Schnoor, das ist bereits Beachtung internationaler Standards und das ist bereits Gegensteuern. Sie unterstellen uns kollektive Amnesie. Willkommen im Klub, Frau Schnoor, denn all Ihre Ansätze, die fingen komischerweise erst ‘94 an! Wer hat denn in diesem neuen Bundesland – als einziges übrigens! – das dreigliedrige Schulsystem hier völlig inkompatibel an unseres angedockt?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS – Dr. Margret Seemann, SPD: Jawohl! – Zuruf von Heidemarie Beyer, SPD)

Wissen Sie, ich bin nun wirklich kein Ideologe. Ein dreigliedriges Schulsystem kann durchaus funktionieren, wenn es die richtigen Rahmenbedingungen hat wie in Bayern und die Traditionen. Mag ja alles sein. Hier bei uns war es ein Kardinalfehler. Und alle anderen neuen Länder haben es nicht getan. Da gibt es Mittelschulen, da gibt es Sekundarschulen. Da war man nicht der Meinung, dass man alles auseinander klatschen muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Steffie Schnoor, CDU)

Wir sind doch im Grunde jetzt nur dazu da, diesen Kardinalfehler behutsam auszugleichen, und zwar so, dass das Ganze hier passt zu unseren Bedingungen in Mecklenburg-Vorpommern und zu unseren Traditionen und zu unserer Ausbildung der Lehrer,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die vor zehn Jahren bei Schülern in der fünften Klasse weitaus bessere Ergebnisse erzielt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und da kann es ja nicht Schuld der Lehrer sein, dass das jetzt nicht mehr so klappt. Wenn wir uns also wirklich fragen, bitte schön, fragen, dann fangen Sie auch bei sich an! Wir sind gerne dazu bereit, in meinem Redebeitrag habe ich es angeboten, habe ich gesagt, wir müssen alle neu anfangen. Aber solange dieses Kleinkarierte, Ideologische,

(Heidemarie Beyer, SPD: Verblendete.)

Tiradenhafte hier weiter passiert,

(Siegfried Friese, SPD: Kleinbürgerlich.)

können wir nichts oder wir können es nur ohne Sie. Schade eigentlich! – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Danke schön, Frau Polzin.

Ich schließe die Aussprache.

Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Landesregierung auf Drucksache 3/2458 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur und zur Mitberatung an den Innenausschuss, an den Finanzausschuss sowie an den Wirtschaftsausschuss zu überweisen. Wer diesem Überweisungsvorschlag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke. Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Überweisungsvorschlag einstimmig angenommen.

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen bekannt geben, nach Paragraph 5 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung benenne ich für die heutige Sitzung den Abgeordneten Herrn Grams zum Schriftführer.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heike Polzin, SPD: Herzlichen Glückwunsch!)

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Petitionsausschusses gemäß § 10 Absatz 2 des Gesetzes zur Behandlung von Vorschlägen, Bitten und Beschwerden der Bürger sowie über den Bürgerbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Drucksache 3/2469.

Beschlussempfehlung und Bericht des Petitionsausschusses gemäß § 10 Absatz 2 des Gesetzes zur Behandlung von Vorschlägen, Bitten und Beschwerden der Bürger sowie über den Bürgerbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Petitions- und Bürgerbeauftragtengesetz – PetBüG M-V) – Drucksache 3/2469 –

Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.