Protokoll der Sitzung vom 13.03.2002

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Falsch informiert!)

Insofern stellt sich schon die Frage, woher man dieses Selbstbewusstsein nimmt. Ich will Ihnen einmal Folgendes ganz deutlich sagen: Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse in Deutschland, wo Menschen zwei, drei oder mehr Beschäftigungsverhältnisse benötigen, um ihren Lebensunterhalt absichern zu können.

(Beifall bei der SPD - Frau Hansen [CDU]: Das haben wir doch schon!)

Die Arbeitgeberverbände weisen darauf hin, dass wir in Deutschland ungefähr 1,5 Millionen qualifizierte Arbeitskräfte brauchen. Wenn das so ist - das bestreite ich nicht -, dann kann es nicht darum gehen, undifferenziert Arbeitslose mit immer neuen Sanktionsandrohungen in den Billiglohnsektor abzuschieben, sondern dann geht es um Qualifizierung. Hier ist eine Qualifizierungsoffensive gefragt, wie sie die Bundesregierung mit dem in Kraft getretenen Job-Aqtiv-Gesetz eingeschlagen hat. Förderung und Qualifizierung von ungelernten und angelernten Beschäftigten, Übernahme der Weiterbildungskosten für ältere Beschäftigte, Möglichkeiten der Teilzeitweiterbildung ein

schließlich Kinderbetreuung, Jobrotation usw. – all dies sind wegweisende Instrumente im neuen JobAqtiv-Gesetz. Sie machen mit Ihrer Entschließung nichts anderes, als diesem Gesetz hinterherzulaufen.

(Beifall bei der SPD)

Sie fordern ein Lohnabstandsgebot durch Familiengeld. Das würde 25 Milliarden Euro kosten. Dies ist nichts anderes als ein populistisches, nicht bezahlbares Wahlversprechen der CDU.

Meine Damen und Herren, die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihrer Steuerreform, der zweimaligen Kindergelderhöhung und der Reform des Elternteilzeitgesetzes in den vergangenen drei Jahren mehr für die Familien getan als die KohlRegierung in 16 Jahren zuvor.

(Beifall bei der SPD – Oh! bei der CDU)

Das Thema Familienpolitik hat die CDU in Wirklichkeit erst in der Opposition entdeckt.

(Frau Pawelski [CDU]: Das ist eine Unverschämtheit!)

Der einzige Punkt aus Ihrem Antrag, der sich wirklich mit der Landespolitik beschäftigt, ist Punkt 12. Damit fordern Sie die Landesregierung zu etwas auf, was sie ohnehin schon tut, nämlich flächendeckende Serviceagenturen, Jugendbüros und Koordinierungsstellen einzurichten. Das ist offensichtlich das alte Hase- und Igel-Spiel. Sie sind losgelaufen, Herr Wulff, als die Landesregierung schon am Ziel war. Das passiert Ihnen öfter.

(Lachen bei der CDU – Wulff (Osna- brück) [CDU]: Seit 1994!)

Ich will auch noch auf etwas hinweisen, was das Thema Jugendarbeitslosigkeit betrifft. Auch da haben Sie offensichtlich erhebliche Erinnerungsprobleme. Den höchsten Stand der Jugendarbeitslosigkeit hatten wir in diesem Bundesland 1984 unter Albrecht mit deutlich über 90 000 Jugendlichen. Es ist zwischenzeitlich gelungen, diese Zahl nahezu zu halbieren. Wir hatten Ende letzten Jahres bei 1 480 noch nicht vermittelten Bewerbern 3 200 offene Ausbildungsplätze. Das ist ein gewaltiger Kraftakt im Interesse der Jugendlichen dieses Landes. Ich darf Ihnen versichern: Wir werden dies fortführen; ungeachtet Ihrer eindeutigen Wahlkampfstrategie, mehr Schaden anzurichten, als den Jugendlichen zu helfen.

(Beifall bei der SPD)

Der Bundeskanzler und der Bundesarbeitsminister haben am 22. Februar öffentlich die geplante umfassende Reform der Bundesanstalt für Arbeit vorgestellt. Die notwendigen gesetzlichen Änderungen sollen bereits am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Der organisatorische Umbau der Bundesanstalt wird seit dem 7. März durch eine unabhängige Kommission erarbeitet. 14 Tage, nachdem das alles auf den Weg gebracht worden ist, legt die CDU-Fraktion einen Antrag mit nahezu identischen Inhalten vor. Herr Wulff, so wird das nichts, und so kann das auch nichts werden. Entweder haben Sie das, was die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, nicht gelesen – dann gab es die Leseschwäche nach PISA auch schon zu Ihrer Schulzeit -, oder aber in Ihrem Antrag hätte ein einziger Satz gereicht, nämlich der Satz: Wir begrüßen die Vorschläge des Bundeskanzlers und teilen sie uneingeschränkt.

(Beifall bei der SPD - Fischer [CDU]: Sind wir hier in einer Kasperbude?)

Ich weiß nicht, was daran falsch ist, wenn Sie inhaltlich genau die gleichen Forderungen stellen. Sie kommen bloß zu spät. Das müssen Sie doch irgendwann einmal merken.

(Beifall bei der SPD – Frau Pawelski [CDU]: Sie haben doch Ihren Antrag nach unserem gestellt!)

Stattdessen versuchen Sie – das kann ich nachvollziehen -, hier den Statthalter für Stoiber zu spielen, wobei mir das Dilemma natürlich klar ist: Erst spielt Herr Wulff die innerparteiliche Speerspitze beim Abschuss von Kohl, dann versucht er, immer möglichst nahe am Rockzipfel von Frau Merkel zu hängen, um sich bundespolitisch in Erinnerung zu halten,

(Lachen bei der CDU)

und nun, nachdem Koch, Müller und von Beust an ihm vorbeigezogen sind, ist Stoiber die letzte Chance. Ich sage Ihnen: Auch das wird nichts. Das können Sie vergessen.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Wie sieht das in Gandersheim aus? - Frau Harms [GRÜNE]: Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeitsmarktstatistik in Niedersachsen?)

Herr Stoiber hat keine Stellen zu vergeben. Er wird sie auch nach der Bundestagswahl nicht haben. Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass er keinen Flachlandtiroler aus Niedersachsen nimmt, der noch nicht einmal in eine Lederhose passt.

(Beifall bei der SPD – Fischer [CDU]: Und so etwas sagt jemand, der in sei- ner Fraktion total abgemeiert ist! – Busemann [CDU]: Wie wollen Sie die Arbeitslosigkeit beseitigen? Kommen Sie zur Sache! Es geht um die Ar- beitslosigkeit!)

- Ich scheine offensichtlich genau Ihr Problem getroffen zu haben. Ihr Problem ist, dass Sie seit mindestens zwei bis drei Monaten nur noch herumkaspern, Bundespolitik instrumentalisieren, während die Interessen des Landes für Sie überhaupt keine Rolle mehr spielen.

(Beifall bei der SPD – Fischer [CDU]: Ihr Problem ist, dass Sie noch nicht einmal in der Kommunalpolitik eine Rolle spielen!)

Wenn die CDU-Fraktion heute dazu auffordert, dass sich die Bundesanstalt für Arbeit mehr auf die Vermittlung und Aktivierung von Arbeitslosen konzentrieren soll, so finde ich das, gelinde gesagt, eine ganz dreiste Nummer. In der Regierungszeit von Helmut Kohl wurden mehrfach Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gekürzt, Schlechtwettergeld gestrichen, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen reduziert, Einarbeitungszuschüsse gekürzt, ABM auf untertarifliche Bezahlung gebracht und die Förderung des nachträglichen Hauptschulabschlusses gestrichen. Das heißt, Sie haben systematisch den Arbeitslosen die Leistungen gekürzt, Sie haben ihnen jede Qualifizierungsperspektive genommen, Sie haben die Bundesanstalt für Arbeit zerschlagen und zu einer reinen Aufbewahrungsanstalt für Arbeitslose degradiert. Nach diesem Kahlschlag haben Sie als Krönung den Arbeitslosen vorgeworfen, sie würden sich in der sozialen Hängematte ausruhen.

Meine Damen und Herren, diese Diffamierung setzen Sie mit Ihren Anträgen nahtlos fort. Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, dass es in den vergangenen Jahren äußerst maßvolle Lohnabschlüsse gab. Trotzdem haben wir eine Rekordzahl von 1,9 Milliarden Überstunden. Vor diesem Hintergrund sind – mit Verlaub – auch irgendwann einmal die Arbeitgeber gefordert, entsprechend des

Bündnisses für Arbeit ihre Zusagen einzulösen. Das kann nicht immer nur Aufgabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein.

(Beifall bei der SPD)

Beim Niedriglohn fordert die CDU-Fraktion ein Einstiegsgeld, d. h. eine Zuzahlung durch Sozialhilfeträger an Sozialhilfeempfänger. Sicherlich ist das Ihr aktueller Beitrag zur Sicherung der kommunalen Finanzen; genau wie Ihr mehrfach wechselnder Vorschlag der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

Drei Anträge von Ihnen liegen heute auf dem Tisch: In dem einen Antrag sprechen Sie von Angleichen, in dem zweiten Antrag von Zusammenführen und im dritten Antrag vom Zusammenführen bei den Sozialämtern - natürlich ohne Finanzierungsvorschlag. Ich finde, wenn man ein Land regieren will, sollte man es wenigstens in seinem eigenen Laden hinkriegen, drei Anträge organisatorisch aufeinander abzustimmen. Das ist das Mindeste, was man von Ihnen erwarten kann.

(Beifall bei der SPD)

Als Krönung Ihrer Anträge empfinde ich die Neuregelung der 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse. Billigjobs, meine Damen und Herren, schaden dem ordentlichen Arbeitsmarkt. Sie verhindern, dass ausreichend viele sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätze entstehen. Sie verzerren den Wettbewerb. - Ich finde, das stimmt.

(Zuruf von der CDU)

- Ja, ich finde auch Ihren Zwischenruf gut. Ich finde, dass es stimmt, aber das ist nicht von mir, sondern von Ihrer Kollegin und sozialpolitischen Sprecherin Frau Schliepack, die das hier vor dem Niedersächsischen Landtag am 22. Januar 1998 gesagt hat. - Ich will noch etwas hinzufügen. Ich habe immer gedacht, dass 630-DM-Jobs die Ausnahme seien. Aber das ist nicht die Ausnahme. Ganze Firmengruppen machen daraus eine Strategie und entziehen sich damit den Solidarpflichten. Das kann kein Sozialstaat mehr hinnehmen!

Meine Damen und Herren, auch das ist nicht von mir, sondern von Ihrem früheren Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, und auch der hatte Recht. Ihrem heutigen großen Arbeitsmarkt- und Sozialstrategen Christian Wulff fällt nichts weiter ein, als exakt diese alte Regelung wieder herstellen zu

wollen und darüber hinaus auch noch deutlich auszubauen.

Wissen Sie eigentlich, wie das 1998 bei der Regierungsübernahme war? - Allein von 1992 bis 1997 war die Zahl der sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse von 2 Millionen auf annähernd 7 Millionen gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse fast identisch um 1,8 Millionen gesunken. 15 Milliarden DM an Beiträgen - das macht mehr als einen Beitragspunkt aus - wurden der Sozialversicherung entzogen. Die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen wurde in Frage gestellt.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Sie haben die Schwarzarbeit gefördert!)

75 % dieser Beschäftigungsverhältnisse betraf Frauen, und zwar zunehmend unfreiwillig, weil ganze Branchen dazu übergegangen sind, Vollzeitstellen in immer mehr versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse aufzustückeln. Das Ergebnis war Altersarmut und das massive Abgleiten in die Sozialhilfe.

(Frau Pawelski [CDU]: Das haben Sie mit Ihrem Gesetz bewirkt!)

Genau diesen Skandal wollen Sie wiederhaben nur noch perfektionierter, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Ich finde, dass man sich angesichts Ihrer früheren Reden dazu und mit einem „C“ im Namen für solch einen Antrag nur schämen kann.

(Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, die Konsequenz daraus wäre, dass die Beitragssätze in der Sozialversicherung durch den Entzug ungeahnte neue Rekordhöhen mit der wahrscheinlichen Folge erreichen würden, dass sich die Verursacher morgen hier hinstellen und über die Unfinanzierbarkeit der Versicherungssysteme klagen, um dann deutliche Leistungseinschnitte durchzusetzen.

Wenn ich mir Ihre Anträge durchlese, dann weiß ich, worauf diese Veranstaltung hinausläuft und was die Strategie von Wulff und Stoiber ist: Sie wollen abermals bei den Sozialschwächsten kürzen, Sie suchen ausreichend Schlupflöcher zur Umgehung der Sozialversicherungspflicht für Ar

beitgeber, Sie machen wieder mit Ihrer Strategie weiter, nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitenlosen zu bekämpfen, und Sie machen mit Ihrer Strategie weiter, Arbeitnehmerrechte, Mitbestimmung und Lohnfortzahlung einzuschränken und den Kündigungsschutz aufzuheben. All das sind die Vorschläge von Wulff und Stoiber. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Das ist alles schon einmal da gewesen! Genau das war das Modell Kohl, und damit haben Sie Deutschland auf die Rekordarbeitslosigkeit von 4,8 Millionen Menschen gebracht. Damit das klar ist: Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen; wir werden die Menschen daran erinnern - darauf können Sie sich verlassen, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)