Protokoll der Sitzung vom 16.11.2007

- Herr Albrecht, wenn Sie etwas zu melden, etwas zu sagen haben, können Sie einen Wortmeldezettel abgeben.

Meine Damen und Herren, jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. So heißt es in Artikel 4 der Niedersächsischen Verfassung.

(Bernd Althusmann [CDU]: Ich kann mich noch an die Auftritte von Herrn Schröder hier erinnern!)

Ich will ergänzen: Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung unabhängig von seiner sozialen Herkunft.

(Beifall bei der SPD)

Unsere heutige Gesellschaft ist mehr denn je darauf angewiesen. Aus wirtschaftlichen Gründen sind wir dafür. Wir wollen nämlich, dass das Wort „Fachkräftemangel“ in Niedersachsen wieder zum Fremdwort wird.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen, dass nur eine aufgeklärte informierte Gesellschaft gewährleistet, dass Demokratie und Rechtsstaat aufrechterhalten bleiben können. In meinem Sozialstaatsverständnis ist Bildung Menschenrecht und deshalb absolut unverzichtbar für jede Person.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das war übrigens nicht immer so. Noch im Jahr 1955 hat sich der Psychologe Heinrich Weinstock in seinem Buch „Realer Humanismus“ zu schreiben erlaubt:

„Dreierlei Menschen braucht die Maschine. Den, der sie bedient und in

Gang hält, den, der sie repariert und verbessert, schließlich den, der sie erfindet und konstruiert.“

Meine Damen und Herren, das gegliederte Schulwesen in Deutschland ist von den Anforderungen der Maschine geprägt worden. - Ist das nicht fürchterlich?

(Beifall bei der SPD)

Herr von Humboldt würde sich im Grabe umdrehen, wenn er so etwas hören würde. Zu seiner Zeit aber war das üblich. Das war ja der Kampf, der geführt worden ist. Im 19. Jahrhundert reichte die normale Begabung aus, um ohne eine Stunde Schulunterricht auf den Feldern oder im Bergwerk zu arbeiten. Das hat die damals Herrschenden überhaupt nicht berührt. Es wäre undenkbar gewesen, Oberschicht und Unterschicht auf einer Schulbank zu platzieren, meine Damen und Herren. Es war einer der ersten großen Erfolge der Bildungspolitik, dass im Jahr 1918 erstmalig eine Gesamtschule eingeführt wurde, dass es gelungen ist, alle Kinder vom 1. bis zum 4. Schuljahr gemeinsam zu beschulen.

(Beifall bei der SPD)

Was sagt uns das, meine Damen und Herren? Der Kampf um Schule, der Kampf um Bildung ist immer der Kampf um soziale Chancen. Oft genug sind finanzielle Hürden aufgebaut worden, um auszugrenzen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass bis weit in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein an Realschulen und Gymnasien Schulgeld erhoben worden ist. Die Einführung der Studiengebühren passt genau in dieses Kapitel. Damit wird die Vergangenheit zurückgeholt.

(Beifall bei der SPD)

Ich weiß, was das heißt. Ich hätte ohne die Abschaffung des Schulgelds keine weiterführende Schule besuchen können, wie alle anderen in meiner Familie vorher. Deshalb bin ich an dieser Stelle so hart in der Auseinandersetzung.

Meine Damen und Herren, seit mehr als 40 Jahren ist bekannt, was für eine angemessene in die Zukunft weisende Schule notwendig ist. Das alles ist im Buch „Begabung und Lernen“ im Jahr 1970 aufgeschrieben worden; von der Individualisierung des Lernens bis hin zu allem anderen. Das ist in allen anderen europäischen Ländern verwirklicht worden, nur in Deutschland ist die Realisierung

dieses Konzepts durch eine überflüssige ideologische Auseinandersetzung verhindert worden. Das ist leider unser Problem.

(Beifall bei der SPD - Unruhe)

Herr Jüttner, einen Augenblick bitte! - Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Ich finde es in Ordnung, dass wir die Debatte im Plenarsaal führen. Man sollte aber mit Handzeichen vorsichtig sein, und man sollte vor allem das „Scheibenwischen“ lassen. Man sollte sich untereinander akzeptieren und respektieren. Ich werde demnächst die Namen derjenigen nennen, die sich so verhalten, und werde auch die Ordnungsrufe erteilen.

(Ursula Körtner [CDU]: Entschuldi- gung, Herr Präsident!)

Der Bundespräsident hat das im letzten Jahr in seiner Rede in Berlin deutlich gemacht. Ich zitiere:

„Ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie hat im Vergleich zu dem Kind eines Akademikerpaares nur ein Viertel der Chancen, aufs Gymnasium zu kommen. Die Ursachen dafür mögen vielschichtig sein, der Befund ist beschämend. Bildungschancen sind Lebenschancen, sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen. Darum werde ich immer auf der Seite derer sein, die leidenschaftlich für eine Gesellschaft eintreten, die offen und durchlässig ist und dem Ziel gerecht wird: Bildung für alle.“

Meine Damen und Herren, davon können Sie sich eine Scheibe abschneiden.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind für Chancengleichheit und Qualität, und wir treten denen entgegen, die von Qualität reden und Ausgrenzung billigend in Kauf nehmen. Die sitzen hier im Landtag, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Gleichheit ist übrigens nicht Gleichheit am Ziel, sondern Gleichheit am Start. Wir akzeptieren Ver

schiedenheit, aber es gibt nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von ungleich, sagt der amerikanische Psychologe Brandwein. Davon

sollten Sie sich etwas nehmen. Denn Sie kategorisieren, meine Damen und Herren. Die Verschiedenheit von Menschen wird bei Ihnen auf drei Begabungen reduziert. Das ist ein statischer Begabungsbegriff, den Sie in § 54 des Schulgesetzes niedergeschrieben haben.

Interessant an der Stelle ist - ich will einmal darauf hinweisen -, dass der Kommentar zum Niedersächsischen Schulgesetz an der Stelle ausführt - ich zitiere -:

„Begabungsgerecht wird in der bildungspolitischen Diskussion häufig

als Gegensatz zu Chancengleichheit verwendet.“

Ihnen, meine Damen und Herren, ist Chancengleichheit egal. Das ist in den letzten Jahren wohl deutlich genug geworden.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: Was soll denn der Quatsch? Das glaubt doch kein Mensch! - Joa- chim Albrecht [CDU]: Das ist ja nun völliger Quatsch!)

Ich zitiere einmal Herrn Klare - das ist ein paar Tage her -:

„Im Alter von zehn Jahren gehen die Begabungen von Kindern so weit

auseinander, dass sie in unterschiedlichen Schulformen unterrichtet werden müssen.“

(Lachen bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Herr Klare, Herr Dinkla und einige andere von Ihnen kommen über den zweiten Bildungsweg. Die müssten doch wissen, wie schwierig es ist, nicht auf dem goldenen Weg zum Abitur und zum wissenschaftlichen Abschluss zu kommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Herr Klare, ich habe großen Respekt vor denen, die das geschafft haben, weil die ihre Leistungsbereitschaft dokumentiert haben. Aber wenn Ihnen keine Chancen gegeben worden wären, dann hätten Sie keine Chance gehabt, diesen Weg zu ge

hen. Und das haben Sie augenscheinlich vergessen!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Joachim Albrecht [CDU]: Aber sie haben die Chance gehabt!)

- Das ist doch lächerlich.

Im Bildungssystem von Herrn Klare hätte Herr Klare keine Chance gehabt. Herr Klare, das kann Ihnen doch nicht gleichgültig sein!

(Lachen bei der CDU - Joachim Alb- recht [CDU]: Das ist völlig falsch! Das ist völlig daneben! - David McAllister [CDU]: Er ist doch der Beweis, dass es anders ist!)

Deshalb sagen wir Ihnen: Wir müssen alle finanziellen Hürden beseitigen, die im Bildungsprozess ausgrenzen. Das ist die erste Forderung, die wir haben.