Protokoll der Sitzung vom 10.11.2005

Schon gar nicht ist der Wegfall des Widerspruchsverfahrens eine Verkürzung des Rechtsschutzes. Natürlich bekommt eine „arme“ Partei im Sinne der prozesskostenhilferechtlichen Vorschriften auch im Verwaltungsgerichtsverfahren Prozesskostenhilfe. Natürlich erhalten Sie, wenn Sie obsiegen, auch einen entsprechenden Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber der unterlegenen Partei. Es ist letztlich nichts anderes passiert, als das - einmal

untechnisch gesprochen - aus früher vier Instanzen - Widerspruch, Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Bundesverwaltungsgericht - durch den Wegfall des Widerspruchsverfahrens drei Instanzen geworden sind. Das ist keine Verkürzung des Rechtsschutzes.

Kommen wir zu den Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Verwaltungsgerichte. Nun kann man, liebe verehrte Frau Kollegin Bockmann, natürlich mit einer Antwort auf eine Anfrage auch deshalb unzufrieden sein, weil sie das vermutete Ergebnis einfach nicht zeigt. Daraus aber gleich ein Verfälschen der Statistik herzuleiten, halte ich schon für gewagt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Dafür hätte ich aber noch ein gewisses Verständnis. Da Sie sich tatsächlich hier an dieser Stelle aber erdreisten, die Antwort insgesamt als Unverschämtheit zu bezeichnen - diesen Begriff habe ich mir wörtlich aufgeschrieben -, weise ich das wirklich zurück.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Sie haben Antworten auf die Fragen bekommen, die Sie gestellt haben. Wenn Sie mit der Qualität der Antworten nicht zufrieden sind, überprüfen Sie bitte Ihre Fragestellung.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir werden, meine Damen und Herren, die Belastungssituation bei den Gerichten natürlich im Auge behalten. Wir prüfen sie, und wir hatten auch schon Vorsorge getroffen. Da wir nicht genau wissen, wie sich die Situation entwickeln wird, haben wir in der Tat einen sowieso schon vorhandenen Haushaltsvermerk verwendet, der uns ermächtigt hätte, mit Zustimmung des Haushaltsausschusses weitere Richter bei den Verwaltungsgerichten einzustellen.

Anhand der Belastungssituation stellen wir jedoch fest, dass eine aktuelle Notwendigkeit für solche Neueinstellungen nicht gegeben ist. Vom ersten Quartal 2000 - die Zahlen finden Sie in der Antwort - bis zum dritten Quartal 2005 gab es als durchschnittlichen Wert pro Quartal 6 321 Eingänge. Diese Zahl entspricht den Eingängen z. B. im ersten Quartal 2000. Signifikante Veränderungen bei der Gesamtzahl können wir nicht feststellen.

Ausschläge der Belastungszahlen hat es in einem gewissen Umfang immer gegeben, auch - das

wollen wir durchaus zugeben - durch den Wegfall des Widerspruchsverfahrens. Aber andere Umstände wirken viel mehr und viel intensiver auf die Belastungssituation der Verwaltungsgerichte. Ich nenne als Beispiel das Versorgungsbezügegesetz aus dem Jahr 2001, das Sie, meine Damen und Herren auf der linken Seite des Plenums, verabschiedet haben. Allein durch diese eine Gesetzesänderung, die nicht wir, sondern Sie beschlossen haben, sind die Fallzahlen in diesem Sachbereich von 1 413 auf 3 706 gestiegen.

(Zurufe von der CDU: Hört, hört!)

Das ist eine größere Steigerung, als wir sie jetzt im Saldo bei Widerspruchsverfahren haben. Natürlich schlägt das auch bei der Gesamtbetrachtung durch.

Sie haben erwähnt, dass die geänderte gerichtliche Zuständigkeit im Bereich der Sozialgesetzgebung - SGB II und SGB XII - natürlich auch dazu geführt hat, dass die Verwaltungsgerichte entlastet, die Sozialgerichte aber entsprechend belastet worden sind.

Die vorgelegten Zahlen belegen also nicht, dass der Wegfall des Widerspruchsverfahrens die Verwaltungsgerichte unverhältnismäßig belastet hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Die zusätzliche Belastung resultiert teilweise aus Gesetzesänderungen, die nicht wir, sondern die der Bundesgesetzgeber verabschiedet hat.

Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass wir auf solche veränderten Umstände in der Tat nicht mit Versetzungen von Richtern antworten können. Auch das will ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Das Versetzungsverbot im Deutschen Richtergesetz - ich will nicht sagen: ist heilig - steht für uns überhaupt nicht zur Diskussion. Daran werden wir nicht rütteln. Also bleibt, wie bereits gesagt, nur die zeitlich befristete Abordnung auf freiwilliger Basis. Da wir keine anderen Steuerungsmechanismen haben, ist genau das richtig, was die Ministerin gesagt hat. Letztlich ist die Antwort auf die Große Anfrage in Kombination mit der Betrachtung der Sozialgerichte ein eindeutiger Beleg dafür, dass wir in diesen Gerichtszweigen zu einer Zusammenlegung kommen müssten. Aus meiner und aus unserer Sicht hat die Antwort auf diese Große Anfrage genau das bestätigt.

Wir stellen weiter fest - auch das ist bereits gesagt worden -, dass die Dauer der Verfahren nicht gestiegen, sondern sogar leicht gesunken ist. Das ist

ein Beleg für die Leistungsbereitschaft der Richter. Wir geben ja zu, dass aufgrund der desolaten Haushaltslage des Landes Niedersachsen, die nicht wir zu verantworten haben, die Richterzahlen auch beim Verwaltungsgericht zurückgegangen sind und damit die Belastung des einzelnen Richters gestiegen ist. Wenn wir gleichwohl, trotz gestiegener Belastung des Gerichtes, eine verkürzte Verfahrensdauer feststellen, zeigt das in der Tat, dass in der Justiz in Niedersachsen kein Frust herrscht, wie Sie es immer darstellen wollen. Es zeigt im Gegenteil eine hohe Leistungsbereitschaft der Richter und ein hohes Verantwortungsgefühl auch bei der Richterschaft für die deutsche Justiz.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Frau Kollegin Bockmann sieht das anders. Frau Bockmann sagt: Nein, das alles ist viel dramatischer, und wir brauchen unbedingt neue Verwaltungsrichter. - Nun haben wir ja die Situation, dass die Antwort auf die Große Anfrage nicht erst seit heute bekannt ist, sondern dass Sie sie schon eine gewisse Zeit kennen. Deshalb werden Sie, liebe SPD-Fraktion, im Rahmen Ihrer Klausurberatung zum Haushalt auf Anregung von Frau Bockmann sicherlich auch Beschlüsse dazu gefasst haben, wie man zu einer Vermehrung der Verwaltungsrichter kommt und woher Sie das Geld dafür nehmen. Ich habe darüber zwar nichts in der Presse gelesen, aber nachdem Sie hier so reden, gibt es eigentlich nur die einzige Möglichkeit, dass Sie in der Tat solche Beschlüsse gefasst haben. Ich bin gespannt und warte darauf, dass Sie uns diese Beschlüsse vorlegen und auch die entsprechende Gegenfinanzierung darstellen.

Abschließend möchte ich noch zu einem weiteren Punkt, bei dem ich leider auch wieder Frau Bockmann persönlich ansprechen muss, kurz Stellung zu nehmen. Bei Massenbescheiden haben wir zurzeit die Situation, dass Verwaltungsbehörden keine Rechtsbehelfsbelehrung aufführen - mit der bekannten Folge, dass dadurch nicht mehr eine vierwöchige bzw. einmonatige Klagefrist, sondern eine einjährige Klagefrist gilt. Das ist ein ganz probates Mittel, um der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit zu geben, entsprechend ihrer Verpflichtung nach dem Verwaltungsverfahrengesetz im Gespräch mit den Bürgern zu einer Befriedung zu gelangen. Diese Änderung wollen wir durch eine entsprechende Gesetzesinitiative auch gesetzlich festschreiben. Dazu hat sich Frau Bockmann in der Nordwest-Zeitung geäußert und wörtlich Folgendes gesagt:

„CDU und FDP wollen in einer Nachtund Nebelaktion dafür sorgen, dass die Bürger nicht mehr über ihre Rechte aufgeklärt werden müssen. Der Rechtsstaat ist der Landesregierung keinen Pfifferling wert.“

(Zustimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich weise diese polemische und durch nichts gerechtfertigte Äußerung der Kollegin Bockmann hier auf das Entschiedenste zurück.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir werden eine Evaluierung der Folgen des Wegfalls des Widerspruchsverfahrens vornehmen. Wenn sich Handlungsbedarf zeigt, werden wir als verantwortungsbewusste Politiker der Regierungsfraktionen auch entsprechend handeln. Die Ergebnisse, wie sie jetzt in der Antwort auf die Große Anfrage vorliegen, rechtfertigen ein jetziges Handeln keineswegs.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Nun folgt Herr Kollege Briese von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Landesregierung! Ich finde, Sie sollten einfach zugeben: Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens war keine politische Glanzleistung. Sie war auch kein deregulierender Akt für Niedersachsen. Sie war einfach ein politischer Fehler.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Würden Sie das einfach zugeben, zeigte das politische Größe.

Wissen Sie, was die Leute stört und was wirklich nervt? - Wenn Sie einfach die politische Realität im Lande leugnen. So, wie der Zahlenakrobat Busemann

(Zurufe von der CDU: Na, na!)

durch die Gegend läuft und immer behauptet, wir hätten 100 % Unterrichtsversorgung,

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

so sagen Sie: Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens ist überhaupt kein Problem für die Bürgerinnen und Bürger. Ich kann Ihnen nur sagen: In meiner Kommune wird das anders wahrgenommen.

(Zuruf von der CDU: Wo wohnst du denn?)

In meiner Kommune haben sich Leute massiv darüber beschwert, dass sie diese Möglichkeiten jetzt nicht mehr haben und direkt zum Verwaltungsgericht gehen müssen. Dadurch steigen die Kosten erheblich. Das stört die Leute einfach. Seien Sie doch so ehrlich, und geben Sie das zu.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das wäre politische Größe. Sie haben die Bezirksregierungen abgeschafft.

(David McAllister [CDU]: Sehr gut!)

- Genau. Auch nach meiner Meinung ein vernünftiger politischer Akt. Das haben wir nie bestritten.

(David McAllister [CDU]: Wer A sagt, muss auch B sagen!)

Leider aber sind Sie auf halber Strecke stehen geblieben. Das wissen auch Sie. Jetzt eiern Sie auch da ein bisschen rum und machen diese Sonderkonstruktion in Lüchow-Dannenberg. Aber sei es drum. Die Abschaffung der Bezirksregierungen finden auch wir in Ordnung. Sie müssen aber zugeben: Sie haben einen erheblichen Kollateralschaden einfach in Kauf genommen.

(Lachen bei der CDU)

- Ja, das ist so. Sie haben das Verwaltungsverfahren nicht gestrafft, Sie haben es nicht entbürokratisiert, Sie haben es nicht dereguliert, sondern Sie haben es für die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen unfreundlicher gemacht. Wer muss den Schaden jetzt ausbaden? - Nicht die Landesregierung muss den Schaden ausbaden, sondern die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen sowie die Verwaltungsgerichte. Da gibt es überhaupt nichts drum herumzureden. Wir haben uns im Landtag schon mehrfach mit diesem Thema beschäftigt. Es gab immer wieder Anfragen dazu.

Wir wissen auch, was die Verwaltungsrichter sagen. Ich bin doch nicht taub. Wir reden doch mit den Verwaltungsrichtern, wir reden mit dem OVGPräsidenten, wir reden mit den Präsidenten der Verwaltungsgerichte. Alle schütteln den Kopf und sind total entsetzt. Niemand sagt: Was Sie gemacht haben, ist eine wunderbare Maßnahme. Alle sagen vielmehr: Uns wachsen die Fallzahlen über den Kopf. - Man braucht sich nur die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage anzuschauen. In einzelnen Rechtsgebieten sind die Fallzahlen um mehr als 100 % gestiegen. Ganz deutlich wird dies beim Rundfunkgebührenrecht. Hier zeigt sich, dass der gesamte Rundfundgebührenstaatsvertrag wahrscheinlich nicht so doll war. Gegen ihn ist übrigens eine Verfassungsklage der ARD anhängig. Das ist wieder einmal ganz erstaunlich. In manchen Bereichen sind die Fallzahlen also um mehr als 100 % gestiegen. Natürlich dauern dann auch die Verfahren entsprechend länger.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, brrt, brrt, brrt, brrt - -

(Heiterkeit - David McAllister [CDU]: Welche Sprache ist das?)

- Ich bin noch im Film. Keine Sorge! Ich bin noch im Film. - In der Antwort der Landesregierung - Frau Bockmann hat das ja dargestellt - scheint so ein bisschen das Prinzip „Tarnen, Tricksen, Täuschen“ zum Zuge gekommen zu sein. Man hat jetzt so ein bisschen abgewiegelt: Alles nicht so dramatisch. Was wollt Ihr? Global betrachtet, haben sich die Fallzahlen doch gar nicht so dramatisch entwickelt.