Protokoll der Sitzung vom 16.05.2006

(Jacques Voigtländer [SPD]: Völliger Unsinn!)

- Herr Voigtländer, hören Sie genau zu! Da es ein Nebeneinander zweier Schulformen schon aufgrund der weiter zurückgehenden Schülerzahlen nicht geben wird, müssten Sie alle Gymnasien, alle Realschulen und alle Hauptschulen zwangsläufig auflösen, damit eine solche Schule überhaupt entstehen könnte.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Was aus dem differenzierten Sonderschulwesen werden soll, ist noch gar nicht erkennbar. Ich sehe schon, wie die Elternräte und die Fördervereine auf die Straße gehen, um für ihre Schule zu kämpfen.

Meine Damen und Herren, das ist ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Wenn bei so einem wichtigen Thema zwei Konzepte von zwei unterschiedlichen Leuten dargestellt werden, dann ist das eher Teil eines Machtkampfes zwischen Jüttner und Duin: Wer wird die SPD in den Landtagswahlkampf führen?

Meine Damen und Herren von der SPD, tun Sie uns bitte einen Gefallen. Lassen Sie Herrn Jüttner und Herrn Duin ihren Machtkampf austragen, wo sie wollen, aber bitte nicht auf dem Rücken unserer Kinder!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Mit Schulstrukturdebatten gewinnen Sie keine Wahlen mehr. Es muss um Qualität gehen. Das hat Wolfgang Jüttner immer wieder bestätigt. Er soll sich aber auch daran halten.

Wir werden unseren Weg weiter gehen. Gehen Sie ihn doch mit uns, meine Damen und Herren! Gehen Sie mit uns den Weg, der uns und den Schulen mehr zutraut. Ich bin mir ganz sicher, dass wir uns im grundsätzlichen Ziel einig sind. Wir wollen die optimale Schule für unsere Kinder. Helfen Sie mit, wie auch alle anderen draußen mithelfen.

(Starker, anhaltender Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Abgeordnete Korter das Wort. Ich erteile es ihr.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kultusminister hat heute morgen wieder einmal großes Theater inszeniert. Zumindest hat er es versucht. Es hat ihm nicht gereicht, seinen Gesetzentwurf ganz normal ins Parlament einzubringen. Nein, es musste gleich wieder eine Regierungserklärung sein.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Das lohnt sich auch!)

Wir kennen das schon, meine Damen und Herren: Wenn Herr Busemann viel und lange redet, dann möchte er ablenken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Heute möchte er davon ablenken, dass sein Gesetzentwurf zur Eigenverantwortlichen Schule kein großer Wurf ist, sondern nur ein mutloses, kleines Reförmchen. Auch möchte er davon ablenken, was in den Schulen im Moment wirklich los ist.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Herr Busemann, Sie haben die Gemeinsamkeiten zwischen den Fraktionen beschworen. Bei allem Konsens in der Zielsetzung bedeutet das aber keineswegs, dass wir uns mit Ihrem zaghaften Gesetzentwurf zufrieden geben. Da sind wir ehrgeiziger, Herr Minister!

Sie trauen sich nicht so richtig, Herr Busemann, und Sie trauen den Schulen nichts zu, den Eltern und den Schülerinnen und Schülern schon gar nichts.

Ihr Gesetzentwurf gibt den Schulen nicht die Freiheit, die sie benötigen, um endlich die so dringenden inneren Reformen auch wirklich anzupacken. Er gibt den Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern und den Eltern nicht die Rechte, die sie brauchen, um sich mit vollem Engagement in den Schulentwicklungsprozess einzubringen.

Schließlich sagt Ihr Gesetzentwurf nichts dazu, wie die Schulen bei ihrem Reformprozess unterstützt werden sollen.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung behauptet in der Begründung zu ihrem Gesetzent

wurf über die Anhörung der Verbände: Der Weg zur Eigenverantwortlichen Schule findet insgesamt breite Zustimmung. - Diese Äußerung ist einfach dreist, und sie dokumentiert ein bedenkliches Maß an Realitätsblindheit und Realitätsverleugnung.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Tatsächlich haben die von der Landesregierung angehörten Verbände überwiegend große Enttäuschung und herbe Kritik geäußert. Landeselternrat und Landesschülerrat haben den Entwurf sogar abgelehnt. Leitmotive der Kritik sind immer wieder zu wenig Freiheit und Eigenverantwortung für die Schule und zu wenig Beteiligung für Eltern und Schülerinnen und Schüler.

Herr Busemann, wie viel Eigenverantwortung Sie den Schulen letzten Endes wirklich zugestehen wollen, das wissen Sie, glaube ich, selbst nicht. Jedenfalls haben Sie es bisher nicht verraten können.

Im Schulgesetzentwurf steht nur - ich zitiere -: „Die Schule ist eigenverantwortlich im Rahmen der staatlichen Verantwortung und der Rechts- und Verwaltungsvorschriften.“

(Jacques Voigtländer [SPD]: Das ist heute schon so!)

Das ist wirklich nichts Neues, und es klingt schon sehr nach Radio Eriwan. Eigenverantwortlich ist die Schule weiterhin nur in dem sehr engen Rahmen, den die anhaltende Erlassflut der Landesregierung ihr zugesteht.

Um uns Ihren Gesetzentwurf ein bisschen schmackhaft zu machen, haben Sie am 25. April eine Liste von Erlassen vorgelegt - eben haben Sie hier auch wieder darauf verwiesen -, die vielleicht entfallen können oder in die Verantwortung der Schulen gegeben werden können. Darunter finden sich so grundlegende, wichtige Erlasse wie der über die Berücksichtigung der Arbeit des Volksbundes der Deutschen Kriegsgräberfürsorge in den Schulen oder auch der Erlass für die Fitnesslandkarte Niedersachsen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Lesen Sie auch die anderen einmal vor!)

Wir möchten aber, Herr Minister, dass Sie endlich ans Eingemachte gehen. Wir möchten, dass Sie den Schulen die Freiheit geben, ihre Schultage, ihre Schulwochen neu zu rhythmisieren. Wir

möchten, dass die Schulen ihre Lerngruppen flexibel nach den jeweiligen Erfordernissen und auch schulformübergreifend zusammensetzen können, dass die Schulen neue Methoden zur Leistungsbewertung entwickeln können, dass sie das Sitzenbleiben abschaffen und stattdessen die Schülerinnen und Schüler mit individuellen Förderplänen frühzeitig unterstützen dürfen. - Aber der Kultusminister bleibt hier hasenfüßig.

Eigenverantwortliche Schulen, meine Damen und Herren, können sich nur entwickeln, wenn die Schulbehörde endlich bereit ist, loszulassen und nicht nur ein bisschen Leine zu geben, wie Sie so gern sagen, Herr Minister.

Meine Damen und Herren, wir bekommen Bildungsstandards, in denen die Ziele für die Schulen festgelegt werden, und Niedersachsen entwickelt ein aufwändiges System von Evaluation und Leistungsüberprüfung. Bei der Entwicklung neuer pädagogischer Konzepte muss die Landesregierung den Schulen aber endlich echte Freiräume geben.

An dieser Stelle möchte ich unseren Antrag „Aufbruch zu einer ‚guten‘ Schule - Eigenverantwortliche Weiterentwicklung der Gesamtschulen durch Aufhebung der Pflicht zur äußeren Differenzierung ermöglichen“ einbringen und erläutern. Die Eigenverantwortlichkeit der Schulen wird nicht nur durch die zahllosen Vorschriften des Kultusministeriums eingeschränkt, sondern auch durch etliche Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz.

Vor zwei Jahren hat unser Ministerpräsident einen kleinen Aufstand zur Auflösung der KMK inszeniert. Wichtiger als seine Kündigungsandrohung wäre es eigentlich für uns gewesen, Vereinbarungen, die die Schulentwicklungen in den einzelnen Ländern behindern, zu überarbeiten. Eine davon, die Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I, steht jetzt in der KMK Anfang Juni auf dem Prüfstand. Diese Vereinbarung erzwingt, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur im drei- oder viergliedrigen Schulsystem in die verschiedenen Schulformen sortiert werden müssen, sie zwingt auch die Gesamtschulen, ihre Schülerinnen und Schüler in Kurse mit verschiedenen Fachleistungsniveaus zu sortieren. Sie hindert die Gesamtschulen daran, ein wirklich gemeinsames Lernen für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen und Konzepte zu einer wirkungsvollen individuellen Förderung durch innere Differenzierung zu entwickeln. Deshalb sind deutsche Gesamtschulen eigentlich auch

nicht mit den Gemeinsamen Schulen in Finnland, in Schweden oder in Kanada zu vergleichen. Wir möchten, dass diese Vorschrift endlich aufgehoben wird.

Die Gesamtschule Göttingen-Geismar, die einzige Gesamtschule in Niedersachsen mit einer Ausnahmegenehmigung der KMK, hat längst bewiesen, dass auch ohne äußere Fachleistungsdifferenzierung eine sehr erfolgreiche individuelle Förderung möglich ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Göttinger Schule war dabei so erfolgreich, dass sie vom Projekt „Reformzeit“ der RobertBosch-Stiftung und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung als Beraterschule ausgewählt worden ist. Die IGS Göttingen-Geismar, Herr Minister, ist einer der Leuchttürme, von denen Sie vorhin gesprochen haben. Wir möchten, dass Sie diesen Leuchtturm jetzt endlich leuchten lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Wulff und Herr Busemann, wenn Sie es mit Ihrer Kritik an der KMK damals ernst gemeint haben und nicht nur unter Populismusgesichtspunkten unterwegs waren, dann sollten Sie sich jetzt für die Aufhebung dieser antiquierten Vorschrift einsetzen. Setzen Sie sich endlich tatsächlich für Deregulierung ein, zeigen Sie, wie ernst es Ihnen mit den pädagogischen Freiheiten ist, und reden Sie nicht nur davon! Wir erwarten, dass Sie sich im Sinne unseres Antrages im Juni in der KMK einsetzen, und beantragen deshalb heute wegen der zeitlichen Dringlichkeit sofortige Abstimmung über diesen Antrag.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, zurück zur Eigenverantwortlichen Schule! Der zweite große Streitpunkt - das haben wir eben auch schon gehört - ist die Schulverfassung. Es ist Ihnen nicht gelungen, Herr Busemann, ein wirklich überzeugendes demokratisches Schulverfassungsmodell vorzulegen. Das ist schlimm, finde ich.

Herr Busemann, Ihre eigene Parteinachwuchstruppe, die Schüler-Union, spricht von einer „DirexDiktatur“. Sie haben es nicht geschafft, ein Schulverfassungsmodell vorzulegen, mit dem die Beteiligungsansprüche und -rechte der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler und der Eltern sinnvoll austariert werden. Eltern und Schülerinnen und

Schüler haben bei Ihnen sogar noch weniger Mitwirkungsrechte als vorher.

Meine Damen und Herren, wer mitbestimmen kann, muss sich auch in die Verantwortung nehmen lassen. Diese Chance lassen Sie sich entgehen, wenn Sie Eltern und Schülerinnen und Schüler derartig ausgrenzen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit Ihrem Schulverfassungsmodell haben Sie nun wirklich alle gegen sich: den Schulleitungsverband, dem klare Kompetenzen und Ressourcen fehlen, die Lehrerverbände, die sich in ihren Mitbestimmungsrechten eingeschränkt fühlen, und Schülerinnen und Schüler, die mit einer Alibirolle nicht zufrieden sind.

Herr Busemann, Sie haben es doch in Oldenburg bei unserer Podiumsdiskussion ganz deutlich gesagt bekommen. Die Eltern wollen mehr in der Schule, als nur Kuchen zu backen, sie wollen, dass sie sich mit ihren vielfältigen Kompetenzen, die sich aus ihren Berufstätigkeiten ergeben, einbringen können, und sie wollen in ihrer Erziehungspartnerschaft tatsächlich ernst genommen werden. Für die Schülervertretungen gilt das genauso.