Protokoll der Sitzung vom 29.01.2009

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befassen uns heute mit der Änderung des Kommunalwahlgesetzes aus zwei Gründen.

Erstens. Einmal wieder hat diese Landesregierung vor dem Verfassungsgerichtshof eine Schlappe erlitten, weil sie ein Gesetz verabschiedet hat, das trotz aller Ratschläge bezogen auf seine Verfassungsbedenklichkeit hier mit Mehrheit abgestimmt worden ist.

Scherzhafterweise könnte man hinzufügen: Das ist eine ganze Kette von Schlappen, die dieser Innenminister inzwischen vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster erlitten hat und vielleicht sogar zukünftig weiter erleiden wird, sodass dieses Parlament eigentlich einen ständigen Verfassungsausschuss einberufen sollte, damit man so etwas dann auch zügig abarbeiten kann.

Das Zweite ist, dass der gemeinsame Wunsch dieses Parlaments, auch in den nordrhein-westfälischen Kommunen – wie in allen Landtagen und wie im Bundestag üblich – eine Sperrklausel zu haben,

aufgrund Ihres handwerklichen Fehlers letztlich gescheitert ist.

Warum brauchen wir in Nordrhein-Westfalen eine Sperrklausel in den Gemeinden? Warum ist das Beispiel der anderen 15 Bundesländer in diesem Zusammenhang so unnütz?

(Dr. Gerhard Papke [FDP]: Jetzt sind wir einmal gespannt!)

Herr Papke, auf Sie mit Ihrem bestellten Schreiben beim Innenminister komme ich gleich noch zu sprechen.

1975 hat es eine kommunale Neuordnung in Nordrhein-Westfalen gegeben, mit dem Resultat, dass die 18 Millionen Nordrhein-Westfalen in nur 396 Gemeinden leben. Wir haben große, wir haben starke Gemeinden.

Das, was die Kommunalverfassung von NordrheinWestfalen von der aller anderen 15 Bundesländer unterscheidet, ist folgender Tatbestand: Neben der Größe der nordrhein-westfälischen Kommunen gibt es kein anderes Bundesland, das so viel Wert auf kommunale Selbstverwaltung legt und so viel Aufgaben und Kompetenzen auf die Gemeinden delegiert hat wie Nordrhein-Westfalen.

Deshalb ist die Frage, ob in einem bayrischen Rat, der letztendlich – um es einmal ein bisschen zu ironisieren – nur über das Versetzen von Verkehrsschildern entscheidet, eine Sperrklausel sinnvoll ist oder nicht, nicht zu vergleichen mit der Situation nordrhein-westfälischer Kommunen, die von der Erziehungshilfe über die Sozialhilfe bis hin zur Schulstruktur, ja bis hin zur Frage des Arbeitslosengeldes II in der Verantwortung stehen, sowohl was die Administrierung als auch was die Finanzierung angeht.

Das Resultat, meine lieben Damen und Herren, ist ganz einfach. Anders als in Bayern, als in BadenWürttemberg und in Rheinland-Pfalz haben wir inzwischen in Nordrhein-Westfalen die Situation, insbesondere in den großen Kommunen, dass wir Tagesordnungen für Ratssitzungen haben, die bis zu 140 Tagesordnungspunkte umfassen, und das bei einer Sitzungsdauer von über zehn Stunden.

Im Zusammenhang mit der Funktionsstörung ist eine Frage bisher weder von Ihnen noch vom amtierenden Innenminister beleuchtet worden, nämlich diese: Ergibt sich nicht alleine schon dadurch eine Funktionsstörung der Räte und Kreistage in Nordrhein-Westfalen, dass durch die Zersplitterung der Räte und Kreistage eine derartige Sitzungsintensität und eine Sitzungsdauer eingetreten sind, dass berufstätige Menschen, dass Familienväter und Familienmütter, schlichtweg an der Wahrnehmung eines solchen Mandats gehindert sind? Ist nicht die Funktionsstörung schon alleine dadurch eingetreten, dass nur noch Semi-Profis, Rentner und Berufsgruppen, die sich das erlauben können, in den Rä

ten vertreten sind und dass ein Querschnitt der Bevölkerung in den Gemeinden längst nicht mehr politisch tätig ist?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ist das nicht bereits eine Funktionsstörung? Das ist eine Frage, mit der wir uns, wie ich finde, in Nordrhein-Westfalen einmal inhaltlich auseinandersetzen sollten.

Aber das können wir nicht, obwohl wir es vorgeschlagen haben, Herr Lux. Sie wissen das. Wir haben Prof. Bogumil genau damit beauftragt, zu schauen, ob es in Nordrhein-Westfalen in den 396 Gemeinden Hinweise darauf gibt, dass es deshalb zu Funktionsstörungen gekommen ist, weil keine Sperrklausel existiert und weil es bis zu 13 politische Gruppen innerhalb des Rates gibt, sodass Investoren bis zur letzten Minute einer Ratssitzung nicht wissen, ob eine Investition genehmigt wird oder nicht, oder ein Sportverein, bis es zu zufälligen Mehrheiten im Rat kommt, nicht weiß, ob ein Zuschuss in diesem Jahr fließt oder nicht fließt. Das zu belegen ist der Auftrag, den wir Herrn Bogumil erteilt haben.

Es ist bedauerlich, dass entgegen unserem Vorschlag, dessen Begutachtung dieser Frage erst einmal abzuwarten und dann zu entscheiden, wie wir mit diesem Verfassungsgerichtsurteil umgehen, diese Chance nicht einmal besteht. Warum besteht die nicht? – Das sage ich Ihnen jetzt ganz offen, Herr Lux. Links von der FDP gibt es in diesem Parlament eine riesige Mehrheit dafür, dass wir in Nordrhein-Westfalen auch in den Gemeinden eine Sperrklausel brauchen,

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

da sich die Gemeinden genauso wie die Landtage und genauso wie der Deutsche Bundestag davor schützen müssen, dass Extreme in den Rat einziehen und durch eine Zersplitterung die Verlässlichkeit und die Mehrheitsfähigkeit in der Politik gestört sind. Sie sind am Gängelband dieser wenigen, die letztendlich nur darauf gucken, ob durch den Wegfall der Sperrklausel die Fast-3-%-Kommunalparteien in Nordrhein-Westfalen nicht unter Umständen Mandate verlieren. Das ist der eigentliche Hintergrund dieses Gesetzentwurfs.

Wir werden, Herr Lux, einen Vorschlag dazu unterbreiten. Wir werden das mit gutachterlicher Stellungnahme fundiert tun. Ich bin gespannt, Herr Lux, ob Sie dann das Rückgrat haben, dem zu folgen, was Ihre CDU-Kollegen vor Ort sagen: Wir brauchen eine Sperrklausel in Nordrhein-Westfalen. Das ist nämlich gut für die Demokratie in NordrheinWestfalen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Jäger. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Priggen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Kollege Lux, Sie haben gesagt, wir sollten hier keine Geschlichtsklitterung betreiben. Wenn Sie aber Ihren Beitrag damit einleiten, dass wir mit unserer 5-%-Hürde gescheitert seien, dann sage ich Ihnen: Unsere 5-%-Hürde hat, soweit ich das weiß, seit 1946 bestanden, seit der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen. Das ist also eine 5-%-Hürde, wie sie auch in Schleswig-Holstein 50 Jahre Bestand hatte, die nicht nur unsere war, sondern die praktisch Grundlage allen politischen Handelns war.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dass im Gerichtsverfahren Fehler gemacht worden sind, ist auch meine Einschätzung. Aber die 5-%Hürde war keine Erfindung von Rot-Grün. Sie bestand seit über 50 Jahren. Das ist das Erste.

Das Zweite ist: Wir reden wirklich darüber, dass die Landesregierung den Gesetzentwurf vorlegt, weil das Verfassungsgericht in Münster am 16. Dezember entschieden hat, dass die Grundmandateregelung mit einem Grundmandat verfassungswidrig ist.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Um es ganz klar zu sagen: Das ist ein hausgemachtes Desaster. Mein Kollege Becker hat Ihnen bereits anlässlich der Änderung des Kommunalwahlgesetzes im letzten Jahr vorausgesagt, dass diese Regelung Klagen von kleinen Parteien auf den Plan rufen wird, weil sie in den kleinen Räten zu einer hohen Sperrwirkung führt, die in Einzelfällen leicht oberhalb einer 5-%-Klausel wirkt. Das ist diskutiert worden. Es war völlig klar, es ist trotzdem so gemacht worden.

Außerdem wirkt die Sperrhürde durch das Grundmandat umgekehrt zur Problemlage. Probleme haben die großen Räte und die großen Kreistage, in denen mit ganz geringen Stimmenanteilen bereits ein Sitz erworben werden kann. Das ärgert doch bei uns in Aachen im Rat alle Parteien. Wenn eine größere Partei 2.000 Stimmen für einen Sitz braucht, und irgendeine Splitterpartei kommt mit 700, 750 Stimmen zu einem Sitz, und ich habe ich drei von denen da sitzen, die sich zusammenschließen, dann haben die gemeinsam 2.000 Stimmen. Wir anderen müssen dafür arbeiten, 2.000 Stimmen für einen Sitz zu gewinnen. Das ist kein faires Vorgehen, das wissen wir alle.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Deswegen muss man darüber diskutieren. Mit dem Grundmandat ist eine Sperrhürde geschaffen worden, die schon rein handwerklich nicht die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils aus dem Jahr 1999

respektiert. Das war auch klar. Die Einführung der Sperrklausel ohne Begründung konnte nicht funktionieren. Man brauchte eine, aus der hervorgeht, dass die Funktionsfähigkeit der Räte eingeschränkt oder gestört würde, wenn die Sperrklausel nicht vorhanden wäre.

Nach den Presseäußerungen von Minister Wolf kann man nur davon ausgehen, dass der Minister die Begründung vorsätzlich unterlassen hat.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vorsätzlichkeit und zusätzlich handwerkliches Debakel sind das Markenzeichen, das werden wir möglicherweise demnächst noch einmal erleben. Er wollte keine Sperrklausel. Er war durch die CDU gezwungen worden, etwas zu machen. Die FDP war aber dagegen. Deshalb ist das ganze Desaster entstanden.

Für uns ist klar: Eine Sperrklausel muss den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofes genügen. Das heißt, es muss der Nachweis, dass eine Störung der Funktionsfähigkeit der Räte vorliegt und die Sperrklausel ein geeignetes Mittel ist, um dem abzuhelfen, geführt werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir nehmen die Klagen ernst. Da kann ich an den Kollegen Jäger anknüpfen. Aus etlichen Räten und Kreistagen liegen uns Beschwerden vor. Ich will Ihnen den aus meiner Sicht wichtigsten Grund sagen: Wir haben eine Zersplitterung und Zerfaserung der Debatte. Diejenigen, die ehrenamtlich ein Kommunalmandat neben ihrem Beruf übernehmen, sitzen von 15:00 Uhr oder 17:00 Uhr, nachdem sie den Tag über im Betrieb, der Kanzlei oder wo auch immer gearbeitet haben, bis 22:00 Uhr, 23:00 Uhr im Rat, weil wir durch die Zersplitterung zehn, 15 Parteien haben. Das führt dazu, dass Sie bestimmte, qualifizierte Leute für dieses Ehrenamt, für das sie eine Aufwandsentschädigung von 300, 400 € erhalten, nicht mehr bekommen, weil sie sagen: Wenn ich das in den Ausschüssen und im Rat machen muss, werde ich dabei mürbe.

(Christian Lindner [FDP]: Was sind das denn für Ausschüsse?)

Wir bekommen keinen vernünftigen Rat mit entsprechendem Personal zustande – oder nur mit ganz großen Schwierigkeiten.

Da hat der Kollege Jäger Recht: Es macht doch keinen Sinn, wenn ich wichtige Berufs- und Bevölkerungsschichten gewinnen möchte, kommunalpolitisch aktiv zu sein, gleichzeitig den Rat in seiner Funktionsfähigkeit bis an die Grenzen des Erträglichen zu führen.

Deswegen sollte man an der Stelle eine vernünftige Sperrklausel installieren. Ich will es deutlich machen. Wenn sich eine Störung der Funktionsfähigkeit nach den Vorgaben des Gerichtes einwandfrei

nachweisen lässt, halten wir als Grüne eine Sperrklausel von 2 % für richtig. Sie wirkt dort, wo die Probleme bestehen, nämlich in den großen Räten, und schränkt genau dort die politische Pluralität nicht ein, wo durch die Größe der Räte sowieso höhere Sperrwirkungen für die Erlangung eines Sitzes bestehen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Daher ist es ein richtiger Vorschlag zu sagen: Man nimmt diese Untersuchung. – Wenn Ihnen die Untersuchung, die die Sozialdemokraten in Auftrag gegeben haben, nicht passt, würde ich erwarten, dass Sie selber eine in Auftrag geben, dass die Regierungsfraktionen das machen oder dass Sie die Regierung bitten, dies zu tun, damit es einen Input für eine Debatte gibt, die man anschließend qualifiziert führen kann.

Ich halte es nicht für vernünftig, es einfach so laufen zu lassen. Das holt uns – egal, ob die Kommunalwahl im Juni oder zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet – irgendwann ein. Wir wissen, dass es in einer Reihe von Räten diese Probleme gibt. – Herzlichen Dank.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Priggen. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Dr. Wolf.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mindestsitzklausel, die bewusst nicht als klassische Sperrklausel konzipiert war, muss nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aufgehoben werden. Daran führt kein Weg vorbei.

(Zuruf von der SPD: Des Landesverfas- sungsgerichts!)