Protokoll der Sitzung vom 25.06.2009

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, dass die Stimmung gut ist. Der gestrige Abend war offenbar ein großer Erfolg. Es war ein sehr schöner Abend, jedenfalls für diejenigen, die dabei waren.

Ich begrüße Sie sehr herzlich zur 127. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Selbstverständlich gilt mein Gruß auch den Gästen auf der Zuschauertribüne und den Kolleginnen und Kollegen der Presse, soweit sie um diese frühe Tageszeit bereits hier sind.

Für die heutige Sitzung haben sich 16 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden im Protokoll aufgeführt.

Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Ihnen Folgendes mitteilen: Die Fraktionen haben sich gestern darauf verständigt – und entsprechend haben wir bereits gestern votiert –, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 14/9421 – Stichwort: „Eine halbe Milliarde Euro für Agrardiesel-Steuergeschenke“ – heute als Tagesordnungspunkt 12 zu beraten, und zwar mit Redezeiten nach Block I.

Der bisherige Tagesordnungspunkt 12 „Elternmitwirkung stärken – Landeselternrat einführen“ – Drucksache 14/9423 – wird als neuer Tagesordnungspunkt 13 aufgerufen, der dann folgende als TOP 14. Die Debatte dazu soll aber erst nach Vorlage einer Beschlussempfehlung durch den federführenden Ausschuss erfolgen. Das heißt, wir werden heute darüber nicht debattieren. Ich denke, nachdem wir das gestern bereits akzeptiert haben, akzeptieren wir das heute auch. Da niemand widerspricht, ist die Tagesordnung entsprechend geändert.

Wir treten nunmehr in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1 Bildungsstreiks in Nordrhein-Westfalen – Landtag muss massive Proteste der Studenten und Schüler ernst nehmen und Lösungen für die Bildungskrise diskutieren

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 14/9459

In Verbindung mit:

Bildungsstreik 2009: Forderungen ernst nehmen!

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/9420

Und:

NRW braucht eine bessere Hochschulpolitik – Alarmsignal Bildungsstreik ernst nehmen

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/9427

Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 22. Juni gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung die Aktuelle Stunde beantragt.

Ich eröffne die Beratung und erteile zunächst für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Frau Kollegin Dr. Seidl das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehr als 50.000 junge Menschen sind in der vergangenen Woche in NordrheinWestfalen auf die Straße gegangen, um gegen die aktuelle Bildungspolitik der Landesregierung zu protestieren. Tausende von Schülerinnen und Schülern, Tausende von Studierenden haben gegen das Turbo-Abitur, gegen die Kopfnoten, gegen Studiengebühren und gegen eine vermurkste Studienreform gestreikt.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Die enormen Zahlen, die wir auch noch einmal bei der Demonstration am Wochenende hatten, zeigen, dass sich seit der Regierungszeit von Schwarz-Gelb ein unvergleichbarer Leidensdruck aufgebaut hat.

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Zurufe von der CDU: Oh!)

Wer sich im Land die Auswirkungen dieser vermeintlichen Reformpolitik nach dem Motto „Privat vor Staat“ vor Augen führt, der muss sich fragen: Warum sind die eigentlich nicht alle schon früher auf die Straße gegangen?

Das Festhalten am mehrgliedrigen Schulsystem, die verbindlichen Grundschulgutachten und die Studiengebühren haben die soziale Auslese in unserem Bildungssystem massiv verschärft.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Die Studierendenquote hat seit 2006 einen absoluten Tiefpunkt erreicht, und die Abbrecherquoten an den Hochschulen sind mit der Umsetzung von Bachelor und Master enorm gestiegen. Deshalb tragen Sie die Verantwortung für ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

ein Bildungssystem, das junge Menschen gerade aus bildungsfernen Schichten ausgrenzt; denn zugunsten einer angeblichen Leistungselite stellt diese Landesregierung die Lobbyinteressen einiger Weniger über das gesellschaftliche Allgemeinwohl.

Trotz Studiengebühren müssen junge Menschen in überfüllten Hörsälen sitzen und ein schlecht betreutes Studium in Kauf nehmen. Sie müssen darüber hinaus die Folgen einer schlecht umgesetzten Bologna-Reform ausbaden: viel Bürokratie für die Hochschullehrer, übermäßige Reglementierung des Studienablaufs, eine immense Verdichtung der Prüfungsprozeduren.

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, gewinnt ein rein reproduktives Lernen die Oberhand. Das Studium an unseren Hochschulen ist derzeit hochgradig verschult und lässt so gut wie keinen Raum für zum Beispiel unkonventionelles Querdenken oder Kreativität.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Es ist Ihre inhaltslose Freiheitsideologie, Herr Minister Pinkwart, die für ein Weniger an Demokratie an unseren Hochschulen verantwortlich ist und die unsere Hochschulen den Gesetzen des Marktes ausgeliefert hat; denn seit Ihrer Regierungsübernahme entwickeln sich die Hochschulen stets weiter weg von ihrer ursprünglichen Aufgabe, Orte des Diskurses und eine Keimzelle für gesellschaftliche, soziale und technische Innovationen zu sein.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Es ist schon interessant, zu beobachten, dass auch unser Ministerpräsident dies offensichtlich erkannt hat, wenn er nämlich, wie kürzlich geschehen, bei der Hochschulrektorenkonferenz auftritt und ein langes Plädoyer für das humboldtsche Bildungsideal zelebriert.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Schöne Worte, nichts dahinter!)

Ich zitiere es einmal; der Ministerpräsident sagte wörtlich:

Auch wenn die Universität Humboldts von früher tot ist: Lebendig ist und bleibt das humboldtsche Bildungsideal, das Ideal der freien Selbstbildung des Menschen, das Entfalten aller Talente und Begabungen so, wie es Wilhelm von Humboldt so treffend gesagt hat: „Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann, ich habe so viel Welt, als ich konnte, erfasst und in meine Menschheit verwandelt, der hat sein Ziel erreicht.“

Das war wörtlich der Ministerpräsident.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Man glaubt es kaum!)

Da fragt man sich doch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was ist denn eigentlich in dieser Koalition los? Der eine redet sich Wettbewerb, Exzellenz und

Elite schön, und der andere beschwört das humanistische Ideal der ganzheitlichen Selbstbildung, eine umfassende Bildung von Körper, Geist und Seele.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Das hat Me- thode!)

Ja, ein Schelm ist, der Böses dabei denkt. Aber ich glaube einfach, dass Herr Ministerpräsident Rüttgers inzwischen kalte Füße bekommen hat und den Vorwurf einer Ökonomisierung der Hochschullandschaft nicht auf sich sitzen lassen möchte.

(Beifall von den GRÜNEN)

In dieser bemerkenswerten Rede vor der HRK heißt es dann auch – ich zitiere noch einmal den Ministerpräsidenten –:

Wer die Bildung allein ökonomischen Zwängen unterwirft, erzeugt Halbbildung oder gar Unbildung. Die totale Ökonomisierung der Bildung führt in die Irre.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Dann muss er seinen Minister entlassen!)

Genau an dieser Stelle möchten wir dem Ministerpräsidenten von ganzem Herzen recht geben.

Der aktuelle Bildungsstreik zeigt, dass die Entwicklung, Bildung rein marktwirtschaftlichen Gesetzen zu unterwerfen, von einer wachsenden Zahl junger Menschen als Bedrohung empfunden wird. Dabei geht es nicht nur um die ganz persönlichen Zukunftschancen, sondern die jungen Leute erkennen, dass eine solche Bildungspolitik auch eine gesamtgesellschaftliche Gefahr beinhaltet. Deshalb unterstützen wir Grüne den Protest der Schülerinnen und Schüler sowie der Studierenden und fordern einen grundsätzlichen und sofortigen Kurswechsel in der Bildungspolitik.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir fordern den freien Bildungszugang und die Abschaffung finanzieller Hürden von der Kita bis zur Hochschule. Wir fordern Sie auf, das viergliedrige Schulsystem zu reformieren. Wir fordern eine bessere finanzielle Ausstattung der Bildungseinrichtungen zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze und für kleinere Klassen sowie eine bessere individuelle Betreuung.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)