Protokoll der Sitzung vom 04.11.2009

(Christian Lindner [FDP]: Ich bin ganz ruhig!)

Nein, sind Sie nicht. – Wenn Sie heute von einem höheren Anteil an der Umsatzsteuer reden, dann frage ich Sie – Sie sitzen ja demnächst im Bundestag –: Sind Sie für den Bund bereit, auf Anteile bei der Umsatzsteuer zu verzichten?

Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, auf Anteile an der Umsatzsteuer zu verzichten, um den Kommunen das möglich zu machen? Werden Sie das politisch mit vertreten?

Ich sage Ihnen und den Menschen da draußen: Hier ist eine Mehrwertsteuererhöhung angelegt. Und die trifft wiederum die kleinen Leute, die Sie vorgeblich in den Blick genommen haben.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, wenn Sie von den Wohltaten reden, die Sie im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben, und dabei das Wort „Schonvermögen“ in den Mund nehmen, ist das – mit Verlaub – perfide. Sie hätten die Erhöhung des Schonvermögens mit uns haben können! Darunter aber hat die CDU vor der Wahl die Unterschrift nicht gesetzt. Das ist die Wahrheit zum Schonvermögen.

(Beifall von der SPD – Zurufe von CDU und FDP)

Sie sagen, Sie hätten sich für die Mitbestimmung und die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt. Da hat sich die Hand von Herr Papke übrigens nicht gerührt. Was haben Sie dafür in Kauf genommen? Sie haben realisiert, dass es beim Kündigungsschutz keine großen Einschnitte gab. Wer braucht denn in Zukunft noch einen Kündigungsschutz? Wenn die Kettenverträge in der Art und Weise möglich sind, wie Sie sie da angelegt haben, dann stellt man Leute doch nur noch befristet ein. Das ist das Ende des regulären Arbeitsverhältnisses. Das ist das, was da angelegt ist: die Zunahme der prekären Beschäftigung, insbesondere der Zahl der Minijobs.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Christian Lindner [FDP])

Herr Ministerpräsident, an einer Sache sind Sie vorbeigegangen – ich habe es zumindest nicht vernommen –: Gesundheitspolitik. Da lasse ich Sie nicht raus. Ich kann sehr wohl lesen. Im Koalitionsvertrag steht verklausuliert:

Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest.

Sie reden von regionalen Differenzierungsmöglichkeiten – für die Nichtfachleute: das ist die BayernKlausel, zulasten von Nordrhein-Westfalen –, und Sie reden von einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen. Das klingt ja gut. Der Chef eines Unternehmens zahlt das Gleiche wie die Sekretärin oder der Pförtner. Dann haben die eine Grundversorgung.

(Rudolf Henke [CDU]: Sozialausgleich!)

Ja, das wird dann sozial ausgeglichen. Den sozialen Ausgleich der FDP kennen wir. Den haben wir hier in Nordrhein-Westfalen erlebt. Die Politik der FDP kennen wir hier zur genüge. Da können Sie uns kein X mehr für ein U vormachen.

(Beifall von der SPD)

Sie sagen: Die zusätzlichen Risiken kann man ja privat absichern. – Das geht natürlich nur über eine private Krankenversicherung, „Privat vor Staat“; da hat sich wieder die FDP durchgesetzt. Dann stelle ich die Frage: Wer kann das denn? Was ist denn mit den chronisch Kranken? Was ist denn mit denen, die gar nicht das Geld haben, um sich zusätzlich zu versichern? Wo war Ihr Blick, Herr Ministerpräsident, als es um die Schwächeren in unserer Gesellschaft ging?

(Rudolf Henke [CDU]: Das Problem gibt es doch gar nicht!)

Sie haben die Politik der Entsolidarisierung unserer Sozialversicherungssysteme mit unterschrieben! Das ist das Problem, das Sie jetzt zu verklausulieren versuchen!

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Reden wir über Hartz IV. Sie wollen mit der Pauschalierung von Mieten und Wohnnebenkosten vorangehen. Damit wollen Sie massiv sparen. Ich befürchte, das werden am Ende die Kinder bezahlen, weil sie die Schwächsten in der Kette sind. Mieten und Wohnnebenkosten können diejenigen, die Hartz IV beziehen, in der Regel gar nicht beeinflussen. Das Geld, das für Essen, Anorak, Schulbedarf übrigbleiben soll, wird nachhaltig fehlen.

Man sollte vielleicht noch eines mit in den Blick nehmen; der Kollege Lindner hat vorhin von dem Erfolg bei den Hinzuverdienstgrenzen gesprochen. Ich empfehle, den Artikel in der heutigen Ausgabe

der „Financial Times Deutschland“ mit der Überschrift „Arbeitsagentur warnt vor mehr Hartz-IVEmpfängern“ zu lesen:

Die neue Koalition will die Hinzuverdienstgrenzen für die Empfänger von Arbeitslosengeld II hoch setzen – das könnte einen unerwünschten Nebeneffekt haben: Laut dem Chef der Bundesagentur muss die Regierung damit rechnen, dass die Zahl der Hartz-IV-Empfänger weit größer wird als bisher.

Herr Lindner, schauen Sie sich dazu noch einmal die Details an. Von wegen, Sie könnten über eine solche Maßnahme nachhaltig sparen! Das wird nicht der Fall sein. Das wird teuer werden, meine Damen und Herren.

(Christian Lindner [FDP]: Es geht nicht um das Sparen, sondern es geht um den sozia- len Aufstieg!)

Sie reden von sozialem Aufstieg, ja,

(Zuruf von der SPD)

dazu zitiere ich einmal Ihren Kollegen, der jetzt mit Ihnen im Bundestag sitzt. Ich weiß nicht, welchem Ausschuss Sie demnächst angehören. Aber mir liegt eine dpa-Meldung von heute Vormittag vor: Die FDP will die Ende 2009 auslaufende Altersteilzeitregelung nicht verlängern. Stattdessen soll sie durch ein neues Angebot ersetzt werden. – Das sagt der stellvertretende Vorsitzende der FDPBundestagsfraktion,

(Christian Lindner [FDP]: Kolb!)

Heinrich Kolb, der „Bild”-Zeitung. Nach Plänen der FDP soll dann jeder Arbeitnehmer wieder die Möglichkeit haben, schon mit 60 Jahren in Rente zu gehen – natürlich mit den entsprechenden Abschlägen. Aber das macht nichts in der Philosophie der FDP; denn die FDP will die Hinzuverdienstgrenzen abschaffen. Damit können die Rentner in Nebenjobs dann so viel hinzuverdienen, wie sie wollen. Ich sage: wie sie müssen! Das ist der Unterschied bei Ihrer Politik.

(Beifall von der SPD)

Herr Ministerpräsident, Sie haben darüber gesprochen, dass man in einem solchen Koalitionsvertrag selbstverständlich nicht alles in allen Details regeln könne. Sie hätten doch Ihre Erfahrungen – diese Blaupause – aus Nordrhein-Westfalen mit einbringen können.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Sie wollen heute selbst nichts mehr davon wissen, was Sie in dem Koalitionsvertrag alles unter den Überschriften „Freiheit vor Gleichheit“ und „Privat vor Staat“ unterschrieben haben.

(Zuruf von der SPD)

Wir wissen – da muss ich der FDP einmal ein klares Kompliment machen: klare Kante –: Sie steht mit ihrem Gesellschaftsmodell. Wenn Sie dieses Gesellschaftsmodell nicht teilen, hätten Sie dem Koalitionsvertrag in dieser Form nicht zustimmen dürfen; denn Sie wissen, dass die das alles 1:1 durchziehen werden. Die Erfahrung haben Sie in NordrheinWestfalen schon gemacht.

(Beifall von der SPD)

Kommissionen sind das eine. Aber dazu, dass sich Herr Weisbrich jetzt auch noch hierhin stellt und verkündet, da müsse erst einmal ein Kassensturz gemacht werden, sage ich: Herr Weisbrich, mit Verlaub, vielleicht haben Sie schon vergessen, dass Sie mit in dieser Regierung waren.

(Zurufe von der CDU)

Herr Ministerpräsident, offensichtlich haben Sie auch alles, was damals im Zusammenhang mit Hartz IV passiert ist, vergessen; denn die Änderungen, die damals – da regierte noch Rot-Grün – in Sachen Schonvermögen und in Sachen Höhe der Hartz-IV-Sätze hineingekommen sind, kamen aus dem Bundesrat, und zwar von den CDU-Mitgliedern im Bundesrat. Sie haben damals die Hartz-IV-Sätze und das Schonvermögen nach unten gedrückt. Das ist die Wahrheit, und die werden die Menschen draußen auch begreifen! – Danke.

(Anhaltender Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Kraft. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU der Abgeordnetenkollege Wüst das Wort.

(Britta Altenkamp [SPD]: Jetzt kommt Kultur! – Zuruf von der SPD: Jetzt kommt die Ent- schuldigung!)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kraft – auch wenn Sie gerade auf der Flucht sind –, wissen Sie eigentlich, wie diese Strategie der dröhnenden Unwahrheiten und Halbwahrheiten von dritter, neutraler Stelle bewertet wird?

Lesen Sie einmal die in „Cicero“ erschienene Kritik über den Auftritt von Frau Kraft am vergangenen Sonntag – ich zitiere –: „das hämisch besserwisserische Lächeln einer Wahlverliererin, die meint, es gehöre zum guten Ton, von der Oppositionsbank aus alles Regierungstreiben pauschal, leider auch plump, zu verdammen?“, „derart unsympathisch und wählerfeindlich“ und „wusste eh alles besser“. Ich würde so etwas nie aussprechen, aber wenn es da steht, muss ich bestätigen: Da haben die recht.

(Beifall von der CDU)

Die bisherigen Reden der Oppositionsmitglieder haben gezeigt, dass Sie noch einen ziemlich weiten

Weg zur neuen Realität in Deutschland zurückzulegen haben. Es wird das Bild eines Koalitionsvertrags gezeichnet, das Ihnen die Menschen schlicht nicht abnehmen. Es wird ein schwarz-gelbes Schreckgespenst an die Wand gemalt, das von Woche zu Woche deutlicher als das erkennbar wird, was es in Wahrheit ist: der verzweifelte Wunsch, den rettenden Strohhalm gefunden zu haben, der die SPD vor dem endgültigen Absaufen rettet.

Die Menschen gehen Ihnen nicht auf den Leim. Die Menschen haben am 27. September ganz bewusst CDU, CSU und FDP in die Regierung gewählt und die SPD aus der Regierung herausgewählt. Die Menschen freuen sich auf diese neue Politik, auf eine neue Koalition. Das sehen Sie auch an den aktuellen Umfragen.

(Gisela Walsken [SPD]: Vor allem an Ihren!)

Die Menschen in unserem Land wissen sehr genau, wer ihre Interessen glaubwürdig und seriös vertritt. Der Koalitionsvertrag ist ein Signal des Aufbruchs, ein Signal für mehr Wachstum und auch für mehr Sicherheit.