Protokoll der Sitzung vom 26.10.2006

Die Antwort auf die Große Anfrage leistet einen Beitrag für die Diskussion in der Enquetekommission. Dafür bedanke ich mich.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Asch. – Für die Fraktion der FDP erteile ich jetzt dem Abgeordneten Lindner das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage bietet einen Fundus von aktuellem Datenmaterial, eine Vielzahl von neuen Einblicken und Perspektiven. Deshalb ist der fragestellenden Fraktion und auch der Landesregierung, die sich der Mühe unterzogen hat, die vielen Fragen zu beantworten, sehr herzlich zu danken.

106 Seiten werden uns mit Sicherheit nicht nur heute an diesem Nachmittag beschäftigen, sondern auch darüber hinaus in vielen anderen Debatten Bezugspunkte liefern. Eine Reihe von Erkenntnissen wurde schon vorgestellt und schlaglichtartig von den Vorrednerinnen und Vorrednern beleuchtet. Ich möchte nicht alle wiederholen, sondern nur meine eigene Lektüreerfahrung mit Ihnen besprechen.

Immer mehr junge Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen, mehr erwerbstätige Frauen und Mütter, allerdings auch mehr Scheidungen: Jedes zehnte Kind ist davon betroffen; mehr Alleinerziehende, 9 % im Westen im Jahr 1970, jetzt 20 % im Jahre 2004; immer mehr Kinder in Pflege- und Adoptivfamilien und immer mehr PatchworkFamilien. Kinder bekommen nicht selten neue Elternteile und neue Geschwister hinzu. Aber – das wurde gesagt – die überwiegende Zahl der Familien ist in einem eher klassischen Modell organisiert.

So kann man jetzt tatsächlich erkennen, dass die Diversifikation von Lebensentwürfen, über die immer gesprochen wird, und die vielen Familientypen, 20 etwa, die Bevölkerungswissenschaftler identifizieren, inzwischen in der Gesellschaft ein Gesicht bekommen.

Im Übrigen wurde sichtbar: Der Zeitpunkt der Geburt von Kindern verschiebt sich in der Biographie der Mütter und Väter nach hinten. Mütter sind älter als im Jahre 1970. Inzwischen bekommt die Mehrzahl der Frauen ihr erstes Kind zwischen dem 30. und 35. Lebensjahr. Und, was ebenfalls von Frau Asch hier richtigerweise angesprochen wurde, wir erleben wie in Italien schon Jahre zuvor, dass insbesondere die Männer jetzt zum kritischen Faktor bei der Familiengründung werden, weil sie weniger oft einen eigenen Kinderwunsch haben und weil sie – wie in Italien – auch länger zuhause wohnen bleiben als früher, also keinen eigenen Haushalt gründen, sondern „Hotel Mama“ länger bewohnen.

Vielleicht muss man deshalb auch einen Appell an die Eltern richten, bei aller Großzügigkeit häufiger einen Hinweis zu geben, dass auch und gerade junge Männer auf eigenen Beinen stehen können und sollten. Das stärkt dann vielleicht auch den Wunsch und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

(Beifall von FDP, CDU und GRÜNEN)

Welche Schlüsse können noch aus den 106 Seiten gezogen werden? Die Zahl der Lebendgeborenen ist seit 1970 um 30 % gesunken – das ist ein bestürzender Prozentsatz –, aber wir hatten

auch zwischen 1970 und 1980 einmal einen Geburtenknick. Das zeigt: Es ist kein Naturgesetz und steht nicht in der Landesverfassung, dass die Geburtenrate so bleiben wird, wie sie bislang von uns gesehen wird.

(Britta Altenkamp [SPD]: Das ist der Echo- Effekt!)

Was wir ebenfalls in dieser Studie bestätigt gefunden haben, ist die Problematik der Kinderarmut. Das ist ein Komplex, dem wir uns noch stärker widmen müssen. Wir müssen uns vor allen Dingen fragen, auch wenn das schmerzliche und kritische Fragen sind, wie die tatsächliche Situation von Kindern in Armutsfamilien aussieht und – was ebenfalls für die Analyse wichtig ist – ob Kinder das Armutsrisiko sind, das Familien in schwierige Lebensverhältnisse, schwierige Einkommensverhältnisse bringt oder ob möglicherweise die Bereitschaft, Familien zu gründen und Kinder zu bekommen, in Verbindung mit der gesellschaftlichen beziehungsweise der persönlichen Lebenssituation steht: ob es also möglicherweise so ist, dass diejenigen, die sich Kinder eigentlich materiell, von ihrer Lebenssituation her leisten können, auf Kinder verzichten, und diejenigen, für die Kinder materiell und auch von der Organisation des Alltags her eine besondere Herausforderung sind, eher bereit sind, Kinder zu bekommen. Das ist eine schwierige Frage, der wir uns aber stellen müssen, damit die familienpolitischen Instrumente treffsicherer werden.

Und zuletzt – damit bin ich beim Stichwort „familienpolitische Instrumente“ –: Diese Studie beschäftigt sich auch mit den Transferleistungen, die Familien erhalten. Die Landesregierung nennt dann auch nur die zwölf wesentlichen Transfers: Mutterschaftsgeld, Kindergeld, Erziehungsgeld und andere. Aber dass die Zahl der familienpolitischen Maßnahmen in Wahrheit viel größer ist, zeigt eine Studie des Instituts für Weltwirtschaft, auf die die Landesregierung verweist. Diese Studie kommt in der Summe auf insgesamt 99 Transferarten mit einem Volumen von 234 Milliarden € im Jahr.

Problematisch – das sagt etwa die Familienexpertin des DIW, Frau Spieß –: Es gibt in diesem Land kein familienpolitisches Leitbild, keine Zielvorstellung, keinen Kompass, an dem man die Wirkung der Transferleistungen messen und ausrichten kann. Wir müssen deshalb befürchten, dass von 234 Milliarden € ein nicht geringer Teil ohne die erhoffte und erwünschte Wirkung bleibt, dass wir also – in anderen Worten – aus den bestehenden Mitteln, die für Familien verwendet werden, mehr machen könnten im Interesse der Familien.

Diese familienpolitische Effizienzsteigerung bei der Unterstützung der öffentlichen Hand wird ebenfalls ein Beratungsgegenstand sein, dem wir uns bei der Auswertung dieser Großen Anfrage widmen müssen. Spannende Diskussionen stehen uns bevor. Eine gute Grundlage ist gelegt. Aus ihr ergeben sich allerdings auch neue Hausaufgaben. Ich freue mich auf die weitere Diskussion. – Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lindner. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Laschet.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben eine auch sehr streitige Debatte über Einzelpunkte der Familienpolitik geführt. Es trifft sich nun, dass dieser Tagesordnungspunkt nur zwei Tagesordnungspunkte entfernt liegt.

Aber ich denke, diese Große Anfrage und die vielen Antworten, die zusammengestellt worden sind, sowie diese Debatte geben uns die Chance, etwas grundsätzlicher über Familie und das, was wir damit eigentlich meinen, nachzudenken. Große Anfragen sind für ein Ministerium eine große Arbeitsleistung, zu der sämtliche Abteilungen und viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Wochen und Monate beitragen müssen, um das so profund zusammenzustellen, wie wir es für Sie versucht haben.

Familie, so heißt es immer, ist die Keimzelle der Gesellschaft. Dem liegt immer viel Pathos inne, das letztlich die Bedeutung, die Familie hat, gar nicht beschreiben kann. Denn was ist eine Keimzelle?, fragt man schon als Erstes. Andere sagen: Familie ist das Fundament der Gesellschaft. Sie ist wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Insofern ist das, was Frau Asch aus den Familienberichten der Bundesregierung zitiert hat, schon bezeichnend: Ist Familie nur das, wo Kinder sind? Oder ist Familie auch das, wo Gemeinschaften mit starken Bindungen sind und wo mehrere Generationen füreinander sorgen, wie es im Familienbericht 2006 heißt?

(Britta Altenkamp [SPD]: Sie ist das!)

Sie ist wahrscheinlich beides. Sie ist wahrscheinlich auch noch viel mehr. Aber es nur darauf zu reduzieren, Familie sei da, wo Kinder sind, ist – glaube ich – nicht genug. Man muss das Einste

hen der Generationen und der Menschen füreinander einbeziehen. Wenn das so ist, ist Familie natürlich deshalb das Fundament der Gesellschaft. Denn wo lernt ein junger Mensch, Rücksicht zu nehmen?

(Britta Altenkamp [SPD]: Auch ein alter!)

Ja gut, auch der alte. Aber zunächst muss der junge Mensch, der auf die Welt kommt, lernen, wo seine Grenzen sind. Wenn er Geschwister hat, muss er das noch schneller lernen, als wenn er alleine ist.

(Britta Altenkamp [SPD]: Das ist wahr!)

Er muss mit ihnen auch die Eltern teilen. Es gibt viele Kinder, die eifersüchtig sind, wenn ein zweites Kind geboren ist und sich dann Mutter oder Vater dem zweiten Kind mehr widmen als dem ersten.

Diese Grenzen können in der Familie austariert werden. Das Kind kann merken, wann vielleicht auch jemand schwächer ist, sodass er mehr Zeit braucht. Wann ist ein anderer mit seinen Bedürfnissen dran? Wie kommt man unter Geschwistern eigentlich auf einen grünen Zweig in einer solchen Familie? Wo findet man gemeinsame Orte, an denen man gemeinsam ist? Da geht es nicht nur um Ladenöffnungszeiten; es ist viel fundamentaler: Wo sitzen Familien vielleicht zusammen und erörtern gemeinsame Dinge, besprechen das, was sie am Tage erlebt haben? Alles das prägt Gesellschaft, weil es Persönlichkeiten und Menschen prägt.

Insofern fällt diese Debatte in die aktuelle Zeit, in der wir über dieses Thema mit dem unsäglichen Wort „Unterschicht“ debattieren. Was damit gemeint ist, bedeutet doch, dass nicht Kreisläufe entstehen, aus denen man nicht mehr herauskommt. Es hat immer sozial Schwächere gegeben, und es hat immer Reichere gegeben. Aber dass das über Generationen in Familien vererbt ist und dass Kinder nie gelernt haben, dass Vater und Mutter morgens aufstehen und zur Arbeit gehen, sondern im Alltag schon gar nicht mehr die Lebenserfahrungen vermittelt bekommen, die man nachher noch braucht, ist etwas, was uns ganz besonders herausfordern muss.

Deshalb ist diese familienpolitische Debatte sehr wichtig. Familie ist die Grundlage unseres Gemeinwesens. Nun hat sich das Bild der Familie verändert. Ich finde es wichtig, was Christian Lindner eben dargestellt hat: Der Staat hat nicht vorzugeben, wie Familie aussehen soll. Er kann Familien stützen, er kann das gegenseitige Füreinander-Einstehen stützen, es bevorzugen im

Gegensatz zu den Stellen, wo es nicht stattfindet, wie es Art. 6 des Grundgesetzes sagt. Aber er kann nicht ein bestimmtes Idealbild von Familie in seinen Gesetzen und in seinem Finanzierungssystem verordnen.

Aber dennoch ist wichtig, was auch diese Anfrage zeigt: Die meisten Kinder wachsen nach wie vor bei ihren verheirateten leiblichen Eltern auf. Der Anteil Alleinerziehender steigt zwar, und die Vielfalt von Familienformen nimmt zu: von der Patchwork-Familie über die Adoptiv-, Pflege- und Stieffamilie sowie alleinerziehende Eltern bis hin zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Aber wir dürfen nicht, wenn wir über Familie sprechen, den Fall, den die meisten Menschen in diesem Land wählen, nämlich verheiratete Eltern, die mit ihren Kindern zusammenleben, als klassisch und überholt benennen.

(Beifall von der CDU und Christian Lindner [FDP])

So entscheidet sich ja freiwillig in unserer pluralistischen säkularen Welt, wo jeder sich entscheiden kann, wie er will, anscheinend immer noch die überwiegende Anzahl der Menschen, die nicht nur ein konservatives Leitbild haben, sondern auch für sich selbst sagen: Wir wollen diese Festigkeit, einen Bund schließen, ihn rechtlich absichern und in dieser Form Familie leben. Das machen die Menschen höchst freiwillig, übrigens von den Zuwanderern viel mehr als von der alten deutschen Gesellschaft. Insofern kann man auch von Zuwanderern in dieser Frage manches lernen.

Wir dürfen also bei all unseren Debatten über die Probleme, über die Quoten, über die Budgetvereinbarungen nicht vergessen, dass die Gruppe, die sich für die traditionelle Familie entscheidet, nach wie vor die größte ist.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Für die jungen Leute hat interessanterweise Familie eine steigende Bedeutung. Das Schöne an der Shell-Studie ist ja, dass sie seit 1952 Jahr für Jahr erstellt wird und immer die gleichen Fragen an die gleiche Gruppe gerichtet werden. Plötzlich sagen laut Shell-Studie 2006 viel mehr junge Menschen als 2005: Für mich ist Familie wichtig. Das zeigt: Junge Menschen erkennen den Wert der Familie.

Letztes Jahr bei einer Podiumsdiskussion mit ganz unterschiedlichen Leuten, an der ich teilgenommen habe, fragte der Moderator jeden einzelnen: Was hat dich eigentlich für diese oder jene Sache am meisten geprägt? Fast jeder, egal, wo er herkam, ob links, ob rechts, was auch immer, antwortete: Meine Eltern. Das Elternhaus ist nach

wie vor der prägendste Ort, von dem man manches ableitet, was man in seinem eigenen Leben fortführt. Auch das müssen wir viel öfter beschreiben.

Ich habe über die zugewanderten Eltern gesprochen.

Man stellt übrigens, wenn man heute in Kindertageseinrichtungen hineingeht – gerade auch in die neuen, im Entstehen begriffenen Familienzentren –, fest, dass sich auch bei den Erzieherinnen in den letzten 20 Jahren die Blickweise, wie Bildung und Erziehung zum Erfolg geführt werden können, verändert hat. Vor 20, 25 Jahren hatte eine Erzieherin eher die Einstellung: Wir sind die dafür Ausgebildeten, wir können das eigentlich mit unserer Qualifikation mit am besten, die Eltern sind manchmal eher lästig, wenn sie nun plötzlich bei allem mitreden.

Das ändert sich heute interessanterweise. Die Erzieherinnen selbst wissen – genau wie das Lehrerinnen und Lehrer wissen oder zunehmend lernen müssten –, dass sie das nicht allein schaffen, dass, wenn sie die Eltern nicht mitnehmen – auch wenn das mühsam ist, auch wenn es einmal nervige Eltern gibt –, es ohne die Eltern nicht gelingt, Bildung und Erziehung zum Erfolg zu verhelfen.

Insofern sind Familien nicht die Stütze unserer Gesellschaft, weil sie wichtig sind für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, weil sie wichtig sind für die Sicherstellung der Fachkräfte für Wirtschaft und Verwaltung, weil sie wichtig sind für die Einwohnerentwicklung in Kommunen, die Probleme mit dem demografischen Wandel haben, sondern weil dieses Erlernen, das in Familien stattfindet, für unsere Gesellschaft von prägender Bedeutung ist. Wenn Sie das eben, Frau Asch, gemeint haben sollten, hätten Sie damit Recht gehabt. Das war nur beim letzten Tagesordnungspunkt nicht das Hauptproblem.

Die jungen Menschen, die 29- bis 34-Jährigen, wollen im Durchschnitt zwei und mehr Kinder. Da müssen wir uns natürlich fragen: Woran liegt es eigentlich, dass man das in einem bestimmten Lebensalter will und dann vier, fünf, sechs, sieben Jahre später nicht realisiert? Woran liegt das? Was ist das Problem, dass das im Vergleich zu all den anderen Ländern so anders ist?

All die sehr persönlichen Gründe kann der Staat nicht beeinflussen. Ob, wenn jede dritte Ehe geschieden ist, manche junge Frau oder mancher junger Mann – aber meistens sind es ja die Frauen – sich sagt, ich bin vielleicht in zwei, drei Jahren alleinerziehend, ich nehme das nicht auf mich, ich weiß nicht, ob das der ideale Partner ist, den ich da habe, kann der Staat nicht ändern. Was

soll er daran ändern, wenn es, wie die Allensbach-Umfrage zeigt, zunehmend Männer sind, die keine Kinder wollen? Wir können es gar nicht auf die Frauen schieben, wie wir das ja in vielen Debatten meistens tun, sondern die Männer sind diejenigen, die nein sagen zu Familie. Das ist ein Problem, das der Staat auch nicht ändern kann.

Aber diese Entwicklung gibt es natürlich in Belgien, in Frankreich, in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern gleichermaßen. Trotzdem ist es aber bei uns extremer als in all diesen Ländern.

Deshalb meine ich, dass das, was heute hier aufgezählt worden ist, dass man Familien auch durch das, was der Staat leisten kann, in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken kann, dass wir in der Familienbildung und -beratung ganz bewusst einen Schwerpunkt setzen, um denen, die Rat suchen, zu helfen, auch eine sehr wichtige Aufgabe ist, die die Politik und hier die Landespolitik leisten kann.