Protokoll der Sitzung vom 17.03.2016

Zur inhaltlichen Frage möchte ich noch Folgendes anmerken: Sicher ist eine komplette Streichung aller Leistungen problematisch. Gerade wenn Jugendliche im Haushalt der Eltern leben und auch die anteiligen Kosten der Unterkunft gestrichen werden, dann werden die Eltern mitbestraft. Sie können eventuell die Miete nicht zahlen.

Wir können gerne im Ausschuss darüber diskutieren – aber das wollen Sie ja nicht –, ob hier eine schrittweise Kürzung der Leistungen wie bei Erwerbslosen über 25 nicht sinnvoller wäre. Andererseits sind die besonderen Regelungen für Jugendliche nicht ohne Grund eingeführt worden. Denn gerade für diese ist es besonders wichtig, dass ein Einstieg in den Arbeitsmarkt erreicht wird. Und dazu ist sowohl eine intensive Förderung durch die Jobcenter wie auch das Einfordern ihrer Mitwirkung notwendig.

Wenn Zusammenarbeit abgelehnt wird, muss das auch Konsequenzen haben. Dies pauschal als Disziplinierung darzustellen, ist daher der falsche Blickwinkel. Denn die Einforderung eigener Anstrengungen kann gerade jungen Menschen an ihre Chancen erinnern und ihnen den Weg aus der Erwerbslosigkeit ermöglichen.

Aus Sicht der FDP sollte bei der SGB-IIRechtsvereinfachung allerdings nicht alleine die Frage der Sanktionen für Jugendliche im Vordergrund stehen. Wie Kollege Kerkhoff es gerade auch schon schön bemerkte: Das ist ein Randproblem, das Sie hier hinbringen. Im Prinzip ist der Gesetzentwurf nur ein kleiner Wurf.

Wir brauchen aber heute einen großen Reformschritt, sozusagen eine Agenda 2030 mit weniger Bürokratie und effizienteren Vorgängen zum Nutzen der Betroffenen und der Gesellschaft. Denn etliche Probleme sind weiterhin ungelöst.

Der deutsche Sozialstaat ist unüberschaubar und kompliziert geblieben. Verschiedene Verwaltungen managen, überwachen und zahlen eine Vielzahl verschiedenster Leistungen. Die betroffenen Menschen können ihre Ansprüche und Pflichten kaum überblicken. Geld wird für Bürokratie vergeudet und steht nicht mehr für die Menschen zur Verfügung.

Brauchen wir denn wirklich unterschiedliche Ansprüche, Zuständigkeiten und Behörden für das Arbeitslosengeld II, die Grundsicherung im Alter, die Hilfe zum Lebensunterhalt, den Kinderzuschlag und last, but not least das Wohngeld? Deshalb sollten Schritt für Schritt möglichst viele geeignete Sozialleistungen

zusammengefasst werden. Auch sollten die Möglichkeiten einer Pauschalierung von Leistungen wie bei den Kosten der Unterkunft stärker genutzt werden. Behörden könnten zusammengelegt werden, um möglichst alle Leistungen vor Ort von einer Stelle zu erhalten.

Ein wichtiges Ziel ist auch, dass die Aufnahme einer Beschäftigung sowie eigene Altersvorsorge attraktiver werden. Freibeträge und Anrechnungssätze für eigenes Einkommen sollten deshalb neu gestaltet werden. Den zeitweise Bedürftigen muss vom selbstverdienten Geld so viel verbleiben, dass sich der Einsatz lohnt, Schritt für Schritt wieder auf eigenen Beinen wirtschaftlich stehen zu können.

Die Zeit für diesen Reformschritt ist reif. Statt halbherziger SGB-II-Rechtsvereinfachung wäre dies unsere Vision eines liberalen Bürgergeldes: ein faires Angebot mit möglichst unbürokratischer Unterstützung für Bedürftige und Arbeitslose.

Der vorliegende Schaufensterantrag bringt uns hier nicht weiter. Die FDP-Fraktion wird ihn deswegen auch ablehnen. – Danke sehr für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Alda. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Kollege Sommer.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne und natürlich im Livestream! Sanktionen schaffen gar keine Arbeitsplätze. Sanktionen bringen niemanden in Arbeit. Zu diesen relativ einfachen Wahrheiten kommt bis jetzt jede einzelne Studie, die das betrachtet, auch die von Herrn Kerkhoff eben genannte Studie des IAB sagt im Endeffekt das Gleiche aus.

Der Teilaspekt, den Sie rausgenommen haben, Herr Kerkhoff, ist das subjektive Empfinden der Betroffenen, nicht das objektiv Erreichte über Sanktionen. Das objektiv Erreichte ist, dass über Sanktionen niemand in Arbeit kommt.

(Beifall von den PIRATEN und den GRÜNEN)

Ich weiß, dass Sie das alles nicht hören wollen, was ich besonders ärgerlich finde, weil gerade Sie sagen, Sie schauten objektiv und kaltherzig drauf. Gerade dann müsste Ihnen aufgehen, dass Sie zu einer Lösung beitragen müssten und nicht dazu, hier irgendwem Sand in die Augen zu streuen. Das finde ich nicht richtig.

Wenn Sie den gleichen Maßstab, den Sie bei den wirklich Ärmsten der Armen in Deutschland anlegen, mal bei sich und Ihresgleichen anlegen würden, dann

möchte ich mal sehen, welcher Ihrer Fraktionskollegen nach zweimaligem Zuspätkommen innerhalb von 15 Monaten in dem großen Hohen Haus gerne mal einen Monat ohne Geld auskommen möchte.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich fände es toll, wenn die CDU für ihre Fraktion beschließen würde, einfach mal die gleichen Maßstäbe anzulegen!

(Henning Rehbaum [CDU]: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich!)

Ja, aber manche Vergleiche wären vielleicht sinnvoll für das eigene Vorstellungsvermögen.

(Beifall von den PIRATEN)

Jetzt ganz explizit zur sachlichen Ebene zurück! – Warum behandeln wir die unter 25-Jährigen ungleich? – Herr Kerkhoff, Herr Alda, Sie haben es eben gesagt: weil wir gerade auf die Menschen besonders viel Druck ausüben wollen, damit sie dem Menschenbild derjenigen entsprechen, die hier die Gesetze machen – nicht wegen irgendetwas anderem. Sie wollen diese Menschen in ein Verhaltensmuster bringen, das Ihnen genehm ist.

Und das ist die Grundlage dafür, dass wir bei unter 25-Jährigen noch schärfer als bei anderen und bereits bei einem zweiten Verstoß – das kann zweimal zu spät kommen sein – tatsächlich drakonisch sanktionieren. Das müssen noch nicht einmal unterschiedliche Geschichten sein. Da ist völlig egal – Kollegin Jansen sagte es eben –, ob derjenige eingesehen hat, dass das mit dem Zuspätkommen Käse war oder nicht – völlig egal! – oder ob es eine Begründung für das Zuspätkommen gibt.

Ich meine, viele von uns fahren regelmäßig mit dem ÖPNV. Keiner von uns weiß immer ganz genau, ob er pünktlich irgendwo ankommt oder auch nicht. Das kann auch schon mal ordentlich danebengehen.

Gerade bei den unter 25-Jährigen sind zudem auch viele Alleinerziehende. Gerade Alleinerziehende sind stark abhängig von der Kinderbetreuung. Sobald die nicht funktioniert, sind sie schon wieder raus, da sie nicht pünktlich sind und den Termin nicht wahrnehmen können. Haben Sie schon mal versucht, beim Jobcenter anzurufen und zu sagen: „Ich kann meinen Termin nicht wahrnehmen“? Viel Spaß in der Warteschleife! Bis dahin steht Ihr Kind beim Kindergarten auf der Straße. – Das funktioniert alles nicht.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Zur sonstigen Gesetzeslage: Schauen Sie sich mal das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz an! Nach dem Geiste des AGG darf es eine Unterscheidung rein nach dem Alter doch gar nicht geben. Das funktioniert in unserer Gesetzesmechanik überhaupt nicht. Dementsprechend gibt es auch kein einziges

Urteil, das über die Landesebene hinausgegangen ist, mit dem nur sanktioniert wird, weil es unter 25Jährige betrifft. Spätestens auf Landessozialgerichtsebene knicken alle Jobcenter wieder ein, weil niemand riskieren will, bis vor das Bundessozialgericht zu gehen. Allerspätestens vor dem Bundesverfassungsgericht würde diese Sanktionsmöglichkeit kassiert werden, weil die Unterscheidung einzig und allein nach dem Alter absolut verfassungswidrig ist.

Noch mal zu Sanktionen grundsätzlich: Niemand ist bisher durch Sanktionen in Arbeit gekommen. Keine Studie belegt das. Unserer Meinung nach gehören Sanktionen abgeschafft. Sie fordern ein Menschenbild, das wir nicht akzeptieren können.

Inzwischen ist es sogar so weit, dass auch in Nordrhein-Westfalen diverse Jobcenter freiwillig auf Sanktionen verzichten, weil sie den Betroffenen nicht helfen und bei denjenigen, die im Jobcenter arbeiten, für viele psychosoziale Probleme sorgen. Das macht Menschen krank – vor und hinter dem Schreibtisch. Deshalb gehören Sanktionen abgeschafft.

Ich freue mich, dass wir über die einzelnen Punkte im Antrag einzeln abstimmen werden. Ich empfehle meiner Fraktion, den Punkten 1 bis 3 zuzustimmen. Punkt 4 können wir nicht zustimmen. Damit würden wir Sanktionen unterstützen; das werden wir nicht tun. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Sommer. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin, der den erkrankten Minister Schmeltzer vertritt.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will gleich zu Beginn sehr unmissverständlich deutlich machen:

Die Landesregierung lehnt die ungleiche Behandlung von SGB-II-Leistungsberechtigten unter 25 Jahren im Rahmen der bestehenden Sanktionsregelungen ab. Die jeweilige Härte der Sanktionsvorschrift darf nicht vom Alter abhängig gemacht werden. Das ist nicht nur eine politische Forderung; die Sanktionsregelungen müssen auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die derzeitigen Regelungen lassen Zweifel daran aufkommen.

So ist es unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich bedenklich, dass bereits bei einer wiederholten Pflichtverletzung bei unter 25Jährigen die Leistungen komplett gestrichen werden.

Das schließt auch die Unterkunftskosten ein. Bei alleinlebenden Hilfebedürftigen kann dies zu gravierenden sozialen Folgen führen.

Allerdings ist es mit einer reinen Gleichbehandlung zu den über 25-Jährigen nicht getan. Vielmehr sind weitere Anpassungen erforderlich, die der Antrag richtigerweise aufgreift. So sollte unabhängig vom Alter der SGB-II-Anspruchsberechtigten das Jobcenter grundsätzlich auch bei mehreren Pflichtverletzungen zumindest die Miete übernehmen, um Obdachlosigkeit zu verhindern.

Erklären sich Leistungsbeziehende nachträglich zur Zusammenarbeit mit dem Jobcenter bereit, kann der Sanktionszeitraum derzeit nur bedingt verkürzt werden. Die Leistungsberechtigten haben es also im Augenblick nicht selbst in der Hand, die Sanktionsfolgen frühzeitig abzumildern. Deshalb soll ein zusätzlicher Anreiz zur Kooperation mit dem Jobcenter gesetzt werden, indem die nachträglichen Bemühungen auch dazu führen, die ausgesprochenen Sanktionen zu mildern.

Mit einem einheitlichen Minderungsbetrag für jede Pflichtverletzung sollen die Sanktionsregelungen vereinfacht und die Rechtsfolgen vereinheitlicht werden. Die Vorteile dafür lägen auf der Hand. Wir vermindern den Verwaltungsaufwand und senken das Fehlerrisiko in der Sachbearbeitung und den Widerspruchsstellen.

Die im Antrag von SPD und Grünen gestellten Forderungen entsprechen den Ergebnissen der von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Rechtsvereinfa

chung im SGB II, die lediglich – das ist schon erwähnt worden – von Bayern nicht mitgetragen wurde.

Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für das 9. Änderungsgesetz zum SGB II, das der Bundesrat zurzeit behandelt. Leider konnte sich die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf nicht dazu durchringen, die vorgeschlagenen Rechtsvereinfachungen zu den Sanktionen aufzugreifen.

In der vom Arbeits- und Sozialministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II und nach dem SGB III beschreibt das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik zwar, dass die ausgesprochenen Sanktionen auch zu negativen sozialen Folgen führen können; allgemein werden die Sanktionen aber akzeptiert, sogar von Sanktionierten selbst.

Insofern ist es richtig, Sanktionsregelungen im SGB II weiterhin grundsätzlich beizubehalten; aber es sind Änderungen notwendig. Die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen von SGB-II-Leistungsberechtigten müssen verhältnismäßig sein. Es muss darum gehen, die Akzeptanz von Sanktionen zu erhöhen und die sozialen Folgen abzumildern.

Die Forderungen des vorliegenden Antrags gewährleisten dies. Die Landesregierung hat sie aufgegriffen. NRW ist Antragsteller für entsprechende Änderungsanträge im Bundesrat. Die Abstimmung darüber erfolgt morgen. Ich rechne damit, dass die Anträge unter den anderen Ländern eine große Mehrheit finden, und hoffe, dass sie auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren vom Bundestag aufgegriffen werden.

Zum Abschluss will ich noch einmal deutlich machen: Für uns geht es darum, die jeweilige Härte der Sanktionsvorschrift darf nicht vom Alter abhängig gemacht werden. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)