Wir müssen uns jetzt fragen: Erstens. Wie konnte es so weit kommen? Zweitens. Wo liegt möglicherweise unsere Verantwortung? Drittens. Was muss jetzt passieren?
Zur ersten Frage: Wir wissen, dass die Leave-Kampagne von populistischer Fehlinformation geprägt war. Sie hat es bedauerlicherweise geschafft, in Teilen der Bevölkerung vorhandene Ressentiments gegen Ausländer und Muslime, das Gefühl des wirtschaftlichen und sozialen Abgehängtseins sowie den Hass auf den vermeintlichen Sündenbock Brüssel gezielt anzusprechen und die Stimmung aufzuheizen.
Doch – da müssen wir auch ehrlich sein – die Europäische Union und ihre Protagonisten waren da auch ein allzu einfach zu schlagender Gegner. Denken wir beispielsweise an den undemokratischen Umgang mit CETA und TTIP oder an die Allmachtsfantasien der EZB. Wir wollen und brauchen ein anderes Europa.
Was seit Langem fehlt, ist die Vision für ein Europa jenseits der Binnenmarktintegration oder des Spardiktats. Was fehlt, ist Zuversicht. Es fehlt Zuversicht von Zagreb bis Hammerfest – ja, ich weiß; das liegt in Norwegen – und von Zypern bis Belfast. Was fehlt, ist der Gestaltungswille für eine lebenswerte Zukunft in Europa.
Stattdessen erfahren die Menschen und insbesondere die jungen Europäer, dass viel Stillstand verwaltet wird. Das muss sich ändern.
Zur zweiten Frage: Wo liegt denn unsere Verantwortung? Unser Politiksystem – dazu gehört auch das in Nordrhein-Westfalen – braucht ein Update; denn momentan schafft es nur weiteres giftiges Misstrauen in die Politik und die Politiker.
Geld vernichtende ÖPP-Projekte, politisches Postengeschacher, das Platzen der Verfassungskommission – das alles sind kleine, manchmal klitzekleine Puzzlestücke im Big Picture des politischen Systemversagens.
Wir erleben aber auch die politischen Nachwehen der Finanz- und Bankenkrise von 2007. Mit der jahrzehntelangen Deregulierung der Finanzmärkte
Die namhafte Soziologin an der London School of Economics, Dr. Lisa Mckenzie, hat sogar die These aufgestellt, dass das Ergebnis des Brexit-Referendums in Großbritannien eine verspätete Absage an die britische Politik gewesen sei.
Zur dritten Frage: Was muss jetzt passieren? Das Ergebnis des Brexit-Referendums ist auch ein geteiltes Votum. Das ist gefährlich. Die Jüngeren haben sich, sofern sie zur Wahl gegangen sind, mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Je älter die Wählergruppe ist, desto geringer war die Zustimmung zur EU.
Außerdem sind diese Referenda sehr gut vorzubereiten. Vor allem die Jugend muss ihre eigene Zukunft direkt mitgestalten dürfen.
Wir wissen: Der zentrale gesellschaftliche Konflikt unserer Zeit, den wir Europa austragen und zukünftig austragen werden – das zeigt sich vor allen Dingen in Südeuropa –, könnte lauten – und davor habe ich große Angst –: Alt versus Jung.
Es ist nun einmal so, dass die Angehörigen der jungen Generation von Cádiz bis Tallinn die Hauptverlierer sind. Ja, dieser Konflikt ist potenziell spaltend und muss daher mit äußerster politischer Sorgsamkeit angegangen werden. Wir Piraten wollen da einen Ausgleich. Aber im Zweifel stehen wir immer für die Zukunft.
Was muss noch geschehen? Wir müssen die soziale Union ausbauen und eine soziale Komponente – soziale Mindeststandards und angemessene Unternehmensbesteuerung ohne gewollte Steuerschlupflöcher – schaffen. Sonst kann mit der Europäischen Union kein positives Bild vermittelt werden.
Wir sollten die Menschen über eine verfassungsgebende Versammlung, ein Verfassungskonvent für die Europäische Union, teilhaben lassen. Ziel muss es sein, das politische System der Europäischen Union und ihre Beziehung zu den Mitgliedsstaaten und Regionen neu zu strukturieren und auf eine wirklich demokratische Basis zu heben. Hier kann auch ein Europa der Regionen weitergedacht werden.
Wir brauchen eine demokratische Stärkung des Europäischen Parlaments mit mehr Initiativ- und Beschlussrechten. Denn es ist die einzige Institution, gegen die sich die EU-Skepsis nicht direkt gerichtet hat.
Das muss erst einmal auf die Agenda. Dann müssen wir debattieren. Ich gebe Ihnen jetzt hier kein abschließendes Votum.
Lassen Sie mich bitte zum Ende kommen. – An der Demokratisierung und Transparenz der EU weiterzuarbeiten, ist der einzig gangbare Weg, will man nicht zurück in die dunkle Vergangenheit – da bin ich bei Ihnen – nationaler Egoismen.
Ich komme zum Schluss. Der Brexit zeigt: Wir brauchen eine positive Vision für unseren Kontinent. Denn das Beispiel von Europa und Europäischer Union ist historisch beispiellos. Der Brexit ist auch beispiellos. Oftmals bedeutet die EU für die junge Generation nur noch einen leblosen Binnenmarkt oder ein chancenvernichtendes Spardiktat.
Wir brauchen ein Europa des sozialen Ausgleichs, der politischen Transparenz, der Bildung in der digitalen Welt und der fairen Unternehmensbesteuerung.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Wochen nach dem Votum im Vereinigten Königreich ist immer noch unklar, wie es nun konkret weitergehen soll. Keine Frage ist aber: Wir bedauern dieses Ergebnis. Wir halten es auch für falsch. Gleichzeitig müssen wir aber auch sagen: Wir respektieren dieses Ergebnis.
Unabhängig von allen Schwierigkeiten, die vor dem Vereinigten Königreich und vor der Europäischen Gemeinschaft liegen, unabhängig von allen Fragen, die jetzt gestellt werden und die gestellt werden müssen, ist eines klar – das haben sowohl die Ministerpräsidentin als auch ich unmittelbar nach der Entscheidung zum Brexit öffentlich erklärt –:
Unsere Freundschaft mit dem Vereinigten Königreich hält und wird halten. Das hat nicht nur mit der Geschichte unseres Landes Nordrhein-Westfalen zu tun, also mit der Operation Marriage, deren 70. Jahrestag wir in diesem Jahr feiern werden; das hat vor allem auch mit unserer Gegenwart und mit unserer gemeinsamen Zukunft zu tun.
Das Vereinigte Königreich ist – ich bin sicher: und wird es auch bleiben – einer der wichtigsten Partner Nordrhein-Westfalens. Die Beziehungen sind vielfältig und gut auf allen Ebenen. Es gibt Hunderte Schul- und fast 150 Städtepartnerschaften. Das Vereinigte Königreich ist unser viertwichtigster Handelspartner. Es gibt einen intensiven wissenschaftlichen Austausch. Die kulturellen Beziehungen sind ebenso eng wie die politischen. Wir setzen alles daran und werden alles dafür tun, dass dies so bleibt. Das haben wir in vielen Gesprächen auch gegenüber der britischen Seite deutlich gemacht.
Zugleich will ich nicht verhehlen, dass es natürlich Grund zu vielfältigen Sorgen gibt – Sorgen mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen und Sorgen mit Blick auf die politischen Folgen des Brexit. Diese Sorgen teilen wir mit allen EU-Mitgliedern und mit vielen Menschen im Vereinigten Königreich.
Nur ist es leider noch viel zu früh – und jedes Drängen zur Eile ist hier fehl am Platze –, um heute schon abschließende Antworten zu präsentieren. Denn wir
Wir können uns verschiedene Szenarien vorstellen. Es gibt das Modell Norwegen. Es gibt das Modell Schweiz. Natürlich müssen wir uns flexibel auf unterschiedliche Szenarien einstellen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt vergrößern Spekulationen darüber, ob und wann der Antrag auf den Austritt aus der EU nun gestellt wird und welche Vorstellungen die künftige britische Premierministerin über das Verhältnis des Vereinigten Königreiches zum Binnenmarkt hat, die Unsicherheit nur noch.
Deshalb sind wir alle gut beraten, nicht weiter munter darüber zu spekulieren. Denn Unsicherheiten werden in diesen Tagen ausreichend produziert – und Unsicherheit ist das, was auch die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen an dieser Stelle am wenigsten brauchen kann.
Was wir jetzt tun müssen und was auch geschieht: Wir beteiligen uns aktiv an der politischen Diskussion über die Zukunft Europas, die der Brexit ausgelöst hat. Wir müssen reden, und wir reden über die Inhalte europäischer Politik, über das, was von diesem Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt, und vor allen Dingen darüber, wie es bei ihnen ankommt.
Die Ministerpräsidentin hat am Tag, als das Ergebnis klar war, öffentlich erklärt: Es darf kein Rosinenpicken und keine Mitgliedschaft light geben.
Austritt ist Austritt. Und unabhängig davon, wer demnächst in 10 Downing Street einzieht: Sie muss und wird das Ergebnis des Referendums umsetzen.
Dabei geht es jetzt nicht darum, Herr Lindner und Herr Laschet, den Briten die kalte Schulter der EU zu zeigen oder respektlos ihnen gegenüber aufzutreten. Nein, es geht vor allen Dingen darum, allen potenziellen Nachahmern klarzumachen: Wer so entscheidet, muss auch die Folgen, die eine solche Entscheidung hat, in vollem Umfange tragen.
Da hilft es auch nicht, wenn sich jetzt die lautstärksten Befürworter des Brexit aus der Verantwortung stehlen. Die Verantwortlichen für das Ergebnis müssen auch klar benannt werden. Es waren – darauf wurde bereits hingewiesen – Premierminister Cameron und die Tories, die für dieses Ergebnis verantwortlich sind. Sie müssen diese Verantwortung auch tragen.
Es bedarf jetzt aber einer Austrittserklärung der britischen Regierung beim Europäischen Rat nach Art. 50. Erst dann greift das vorgesehene Verfahren, und erst dann beginnt die im Vertrag genannte Frist von zwei Jahren. Auch diese Frist kann der Rat einstimmig verlängern. Wir wissen also nicht, ob das Verfahren nun zwei oder drei Jahre oder möglicherweise länger dauert.