Protokoll der Sitzung vom 10.11.2016

Ich rufe auf:

17 Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Be

hinderung verbessern!

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/13318

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die SPDFraktion Herrn Kollegen Neumann das Wort.

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Im April des Jahres 2015 hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen seine Anforderungen an ein Bundesteilhabegesetz formuliert und mit breiter Mehrheit beschlossen. Im April dieses Jahres wurde dann der lang erwartete und ersehnte Entwurf für das neue Bundesteilhabegesetz vorgestellt.

Dieser Entwurf hat bei vielen Betroffenen und deren Interessensvertretungen sicherlich nicht die Zustimmung gefunden, die manch einer erwartet hat. Die Bundesregierung hat dann einen Regierungsentwurf

zu diesem Gesetz vorgelegt, in dem einige Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Referentenentwurf enthalten sind. Diese Verbesserungen gehen durchaus in die richtige Richtung.

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die Interessen der Menschen mit Behinderung neu zu organisieren. Das Bundesteilhabegesetz ist ein wichtiger Beitrag dazu.

Das BTHG enthält viele Verbesserungen für Menschen mit Behinderung, auch im jetzigen Regierungsentwurf; dazu gehört insbesondere, dass Menschen aus dem Bereich der Sozialhilfe herausgelöst werden und ein neues Teilhaberecht erhalten.

Es gibt Verbesserungen im Bereich des Einkommens und des Vermögens. Wir stellen fest, dass im Bereich des Budgets für Arbeit insbesondere für Menschen mit Behinderung, die bis jetzt in der Werkstatt tätig sind, ein großer Schritt in Richtung inklusiver Arbeitsmarkt getan wird und – das darf man nicht verkennen – auch die Mitbestimmungsrechte – dass insbesondere die der Schwerbehindertenvertretungen, aber auch der Werkstatträte – gestärkt werden. Ich erinnere hier vor allem an die Stärkung der Rechte der Frauen.

Unabhängig davon müssen wir aber auch feststellen, dass es massive Kritikpunkte gibt, die wir in dem vorliegenden Antrag thematisiert haben. Ich möchte versuchen, die zentralen Punkte herauszuarbeiten.

Das ist insbesondere die Frage, wie zukünftig der Zugang zu den Leistungen organisiert werden wird. „Fünf von neun“ heißt heute das Motto. Das heißt, man muss in fünf von neun Lebensbereichen Einschränkungen nachweisen, um überhaupt Leistungen zu erhalten. Es gibt Befürchtungen, dass für bestimmte Menschen mit Einschränkungen damit der Zugang zur Eingliederungshilfe verwehrt wird, insbesondere Menschen mit psychischer Erkrankung.

Ein ganz zentrales Thema für uns ist die Schnittstelle zwischen der Eingliederungshilfe und der Pflege. Wir müssen feststellen: Wenn der Entwurf in seiner jetzigen Form bestehen bleibt, wird das dazu führen, dass in Nordrhein-Westfalen der Weg, Menschen ein frei gewähltes Wohnen in den eigenen vier Wänden oder Wohngemeinschaften ambulant zu ermöglichen, nicht nur erschwert, sondern behindert wird. Mit einer Leistung in Höhe von 260 € kann niemand in einer freien Wohnung oder einer freien Wohngemeinschaft leben. Hier bedarf es einer enormen Verbesserung.

Das Gleiche gilt bei der Frage der Vermögensanrechnung. 2.600 €, die dann im Bereich der Pflegeversicherung gelten würden, sind ein relativ niedriger Betrag, der letztendlich nicht zu akzeptieren ist. Wir meinen, dass hier mindestens eine Verdoppelung erfolgen muss.

Ein zentraler Punkt ist das sogenannte „Poolen der Leistungen“. Ich denke, wir sind uns darin einig, dass jeder von uns selbst auswählen möchte, von wem er Assistenz bekommt oder gepflegt wird, und dass dies nicht der Entscheidung eines Kostenträgers unterliegen darf. Deshalb ist es wichtig, dass im lebensnahen Bereich das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung gewährleistet sein muss.

Ein weiterer zentraler Punkt: Es darf nicht zu einem „Billiger-Jakob-Verfahren“ kommen. Wenn zukünftig nur noch die günstigsten 30% der Anbieter in das Auswahlverfahren für die Leistungen kommen, müssen wir für Nordrhein-Westfalen nicht nur einen Abbau der Leistungsstandards befürchten, sondern auch, dass die Arbeitnehmerrechte, insbesondere die Tariflöhne ins Strudeln geraten.

Deshalb ist es uns wichtig, heute mit diesem Antrag noch einmal die Forderung aus Nordrhein-Westfalen für ein verbessertes Bundesteilhabegesetz auf den Weg zu bringen. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir die Interessen der Menschen mit Behinderung mit breiter Schulter vertreten. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Neumann. – Für die grüne Fraktion spricht Frau Grochowiak-Schmieding.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Inklusion ist ein Menschenrecht. Ich denke, wir alle haben eine Vorstellung davon, wie unser Leben aussehen soll. Wir arbeiten daran, dass unsere Wünsche, Ziele und Träume Wirklichkeit werden.

Es ist ein durch unser Grundgesetz verbrieftes Recht, dass jeder Mensch sich frei entfalten darf. Die Freiheit jeder Person ist unverletzbar, die Würde aller Menschen unantastbar, und alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht sind an diese Grundrechte gebunden. Das alles gilt selbstverständlich auch für Menschen mit Behinderung. Ja, Inklusion ist ein Menschenrecht.

(Beifall von den GRÜNEN und Frank Herr- mann [PIRATEN])

Realität und Lebensalltag sehen allerdings für viele betroffene Menschen anders aus. Tagtäglich müssen sie um ihr Recht auf Unterstützung kämpfen, Barrieren überwinden. Das ist in einem reichen und zivilisierten Land wie Deutschland nicht weiter hinnehmbar.

Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik

Deutschland im Jahr 2009 besteht die Verpflichtung,

gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Dies versprach die Bundesregierung zu tun, und zwar mit einem Bundesteilhabegesetz.

Ich muss nicht weiter auf die Genese dieses Gesetzentwurfes hinweisen; die kennen wir alle. Der Kollege Neumann hat es eben auch schon erwähnt: Wir haben bereits im letzten Jahr hier im Landtag mit einem Beschluss deutlich gemacht, welche Mindestanforderungen wir an ein Bundesteilhabegesetz stellen.

Leider finden sich nicht alle diese Forderungen im Gesetzentwurf wieder. Auch die Sozial- und Behindertenverbände haben ihrerseits durch eine Vielzahl von Protestaktionen gegen den vorgelegten Gesetzentwurf aufmerksam gemacht und verdeutlicht, wo wesentliche Regelungen deutliche Einschränkungen der Selbstbestimmung und Teilhabe zur Folge haben werden.

An einigen Stellen gibt es zugegebenermaßen Verbesserungen. Das betrifft zum Beispiel Frühförderung bei und in der Arbeitswelt. Wesentliche Regelungen dieses Gesetzentwurfes widersprechen jedoch in eklatanter Weise dem Grundgesetz und auch den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.

An erster Stelle ist die Zugangsregelung zu Unterstützungsleistungen der Eingliederungshilfe zu nennen. Nur wer in fünf von neun definierten Lebensbereichen Unterstützungsbedarf hat oder persönliche Assistenz in drei von neun benötigt, soll demnach Unterstützungsleistungen erhalten. Dies kommt einem Ausschluss all derjenigen aus dem Unterstützungssystem gleich, die in den Augen des Gesetzgebers nicht behindert genug sind. Das ist defizitorientiert, das ist diskriminierend. Es ist schlichtweg absurd. Hier muss der Gesetzentwurf geändert werden

(Beifall von den GRÜNEN)

Das Wunsch- und Wahlrecht wird dadurch unterlaufen, dass Assistenzleistungen von mehreren Betroffenen gemeinsam in Anspruch genommen werden sollen, Stichwort: Poolen. Auch hierzu gab es eben schon Ausführungen. Natürlich gibt es Bereiche, wo das sinnvoll erscheint und sich bestimmt auch umsetzen lässt. In intimen Lebensbereichen und in der Lebensgestaltung jedoch darf eine gemeinsame Leistungsunterbringung nicht gegen die Zustimmung der Betroffenen laufen. Hier müssen die Betroffenen selbst entscheiden können.

Das Wunsch- und Wahlrecht wird unterlaufen durch den Kostenvorbehalt, der vorschreibt, dass nur Leistungsanbieter mit Preisen im unteren Drittel der Angebote eingesetzt werden dürfen. Hiermit besteht tatsächlich die Möglichkeit, Menschen mit hohem Assistenzbedarf zwangsweise in stationären Einrichtungen unterzubringen, weil dies als angemessen erscheint und vor allen Dingen billiger zu haben ist. Das

ist diskriminierend, und das ist das Gegenteil von personenzentrierter Leistungserbringung. Hier besteht klarer Änderungsbedarf.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Auch bei der Schnittstelle Eingliederungshilfe und Pflege soll es Verschlechterungen statt Verbesserungen für die Betroffenen geben. Nach diesem Gesetzentwurf sollen viele der Menschen mit Behinderung, die in Wohngemeinschaften leben, weniger Geld aus der Pflegekasse erhalten als andere Pflegebedürftige. Das ist diskriminierend und wird auch von Verfassungsrechtlern als verfassungswidrig beurteilt. Auch hier besteht Änderungsbedarf.

Pflege soll nach dem Gesetzentwurf im häuslichen Bereich Vorrang vor Eingliederungshilfe haben und umgekehrt im außerhäuslichen Bereich. Die Leistungen der Pflege- und Eingliederungshilfe unterscheiden sich aber elementar, und sie dürfen nicht alternativ angeboten werden, sondern müssen gleichberechtigt nebeneinander stehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch hier sind Änderungen am Gesetzentwurf nötig.

Nach wie vor wird das Einkommen zur Leistungserbringung von Unterstützungsmaßnahmen herangezogen.

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Ich habe noch ein paar Sätze.

Die Erleichterungen durch den BTHG-Entwurf würden nur für wenige gelten und unterliegen einem komplizierten Berechnungsverfahren. Das hat zur Folge, dass Menschen, die Unterstützungsbedarf haben, praktische Beseitigung von Barrieren und die notwendige Unterstützung zur Teilhabe aus eigener Tasche finanzieren müssen. Das ist diskriminierend und widerspricht den Grundsätzen gleichberechtigter Teilhabe und Selbstbestimmung.

Die Bundesregierung weigert sich schlichtweg, sich ebenfalls konsequent an den Kosten zur Eingliederungshilfe zu beteiligen.

(Zuruf von Ulrich Alda [FDP])

Hier muss der Bund mehr Verantwortung übernehmen. Ein Bundesteilhabegesetz muss die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung verbessern.

Es muss die Vorgaben des Grundgesetzes befolgen und die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention befolgen. Es muss in wesentlichen Punkten geändert werden. Denn der bisherige Entwurf der Bundesregierung entspricht nicht diesen Forderungen.

Wie viele Seiten sind es denn noch, Frau Kollegin? Denn die anderen Kolleginnen und Kollegen haben auch noch ein paar Sätze.

(Heiterkeit)

Manuela Grochowiak-Schmieding (GRÜNE) :