Dabei haben wir heute die technischen Möglichkeiten, auch im Netz Dinge zu realisieren, die noch gar nicht in Angriff genommen worden sind. Anstatt Universitäten, Fachhochschulen, Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen weiter im eigenen Saft kochen zu lassen, sollte man endlich Vernetzungskonzepte entwickeln. Wir werden jetzt noch weitere Beispiele aufzeigen, wie wir uns eine konkrete verantwortungsvolle Politik für unser Land vorstellen.
Für uns Piraten – da sind wir nicht die Einzigen; das wissen wir – ist Nachhaltigkeit eines der Leitbilder für gesellschaftliche Entwicklung. Dabei sind Bürgerinnen und Bürger nicht nur die Verursacher, sondern auch Entscheider und Antriebsmotoren für Veränderungen. Die Bereiche der Umweltpolitik, die die Landesregierung im Koalitionsvertrag beschrieben hat, sind zum großen Teil für uns Piraten zustimmungsfähig – das muss auch einmal gesagt werden – wie zum Beispiel die Erhöhung des Stromversorgungsanteils durch Windenergie bzw. Repowering, die Förderung der Kraft-WärmeKopplung sowie die Stärkung ländlicher Räume, naturnahe Landwirtschaft. Die Umsetzung allerdings werden wir sehr genau verfolgen, denn Versprechen und ihre Einhaltung weisen oft erhebliche Differenzen auf.
Da wäre zum Beispiel der Klimaschutz „made in Nordrhein-Westfalen“. In dem Entwurf des Klimaschutzgesetzes soll der Ausstoß von C02 in Nordrhein-Westfalen bis 2020 um mindestens 25 % und bis 2050 um mindestens 80 % gegenüber 1990 reduziert werden. Damit weicht die frischgebackene Koalitionsregierung von den bundesweiten Reduktionszielen deutlich ab: minus 40 % bis 2020 und minus 80 % bis 95 % bis 2050. Warum, wird nicht erklärt.
Das Klimaschutzgesetz legt Klimaschutzziele für NRW und den rechtlichen Rahmen dafür fest. Dazu muss leider festgestellt werden, dass das Gesetz nur für öffentliche Stellen gilt, die bei großzügiger Rechnung höchstens 4 % bis 5 % der CO2Emissionen verursachen. Hier ist also nicht allzu viel einzusparen. Wie die obengenannten Ziele ohne feste verbindliche Reduktionsziele für Verkehr, Wirtschaft und Industrie, hier vor allem die Energieumwandlung, trotzdem erreicht werden sollen, wird nicht erwähnt und schon gar nicht erläutert.
Der Umstieg auf erneuerbare Energien soll in Nordrhein-Westfalen von 10 % auf 30 % bis 2025 erhöht werden. Es wird aber nur gefordert. Gefördert werden soll es vom Bund. Nordrhein-Westfalen entwirft dazu Handlungsstrategien und identifiziert. Wenn der Bund nicht zahlt, wird daraus dann wohl nichts.
Dem Koalitionsvertrag ist des Weiteren zu entnehmen, dass unsere Landesregierung, SPD und Grüne weit davon entfernt sind, die Herausforderungen der Energiewende für Nordrhein-Westfalen strategisch und strukturiert anzugehen. Die Notwendigkeit eines Landes-Masterplans zur Energie wird nicht erkannt und wohl auch nicht gewollt. Die einzelnen Maßnahmen erscheinen ebenso disparat, wie ihre Umsetzung vage ist.
Die Regierungskoalition vertraut weiter auf den Markt, der im Bereich der Energiewirtschaft vollkommen von den vier großen Energiekonzernen, also oligopolistisch, beherrscht wird. Im gesamten Energiebereich wird meistens auf den Bund verwiesen. So wird Beratung und Hilfestellung bei der Rekommunalisierung von Strom- und Gasnetzen versprochen. Wie das alles finanziert werden soll, bleibt ein Rätsel.
Stadtwerke werden nicht einmal erwähnt, obwohl sie bisher eine Alternative zu den vier großen Energieversorgern sind und deren Monopolstellung und damit Macht mindern könnten.
Erklärtes Ziel der Piraten in Nordrhein-Westfalen ist es, Monopol- und Oligopolbildungen, die dem Gemeinwohl schaden, durch Schaffung transparenter Marktstrukturen schlicht aufzulösen.
Ein wichtiger Aspekt nachhaltiger Energiepolitik ist daher die Dezentralisierung der Strom- und Wärmeproduktion. Dazu gehört es für die Piraten auch, eine neutrale Netzgesellschaft zumindest für Nordrhein-Westfalen zu gründen. Bezeichnend ist, dass eine deutsche Netzgesellschaft auf Übertragungsnetzebene mit bestimmendem Einfluss der öffentlichen Hand im Koalitionsvertrag aufgeführt bzw. gefordert wird. Für uns Piraten ist das definitiv zu wenig.
Ziel muss für alle sein, eine Vielzahl innovativer lokaler Energieerzeuger aufzubauen und den Einfluss
der bestehenden Oligopole zu verringern. Hier hat die Politik eine weittragende Gestaltungsaufgabe im Sinne einer Nachhaltigkeit.
Ein Skandal ist auch die bisherige Zahlung der im Erneuerbare-Energien-Gesetz festgelegten Umlage. Mit der Umlage finanzieren alle Stromkunden, auch ALG-II-Empfänger, die Energie aus erneuerbaren Quellen – und das, während es für die energieintensive Industrie weitgehende Befreiungsregelungen bei der Umlage gibt. Diese Ausnahmen haben auch zu den immer höher werdenden Energiepreisen geführt.
Der ehemalige Volkswagen-Manager – mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, zitiere ich – Daniel Goeudevert bemerkte einmal: Wer soll die Energiewende eigentlich hinkriegen, wenn nicht Deutschland? – Er gemahnte uns, darin auch eine Chance zu sehen.
Aber die Energiewende hat mindestens noch eine weitere Seite, die in Ihrer Rede, Frau Kraft, leider überhaupt nicht thematisiert worden ist. Ich spreche von Energieeffizienz und Energieeinsparungsmöglichkeiten. Zurzeit liegen Amortisierungszeiten für Investitionen in Energieeffizienz gerade bei energieintensiven Industrieunternehmen zwischen anderthalb und vier Jahren. Hedgefonds, die solche Firmen besitzen, verlangen aber häufig einen Amortisierungszeitraum von einem halben Jahr. Deshalb passiert nichts. Jedermann akzeptiert natürlich den berechtigten Anspruch der Teilhaber. Aber hier wird der Shareholder Value einseitig, kurzfristig und verabsolutierend über das Gemeinwohl gestellt. Meine Damen und Herren, wir nennen das Finanzterrorismus.
Wir fordern die Landesregierung darüber hinaus auf, sich im Bundesrat aktiv für das Thema „Transaktionssteuer“ starkzumachen; gegebenenfalls sind noch weitere Konzepte zu entwickeln. Es kann nicht angehen, dass für den Handel mit so gut wie allen materiellen Gütern eine Umsatzsteuer erhoben wird, Kapital hingegen frei im Netz floatieren darf.
Wer den Verkehr von Leuten und Ideen, nicht aber die Kapitalströme kontrollieren will, schlägt den direkten Weg in die Katastrophe ein. Das in diesem Zusammenhang gebetsmühlenartig wiederholte Argument der Abwanderung zum Beispiel von Börsenplätzen ist dabei wenig mehr als Augenwischerei, gilt es doch, staatliche Handlungsfähigkeit überhaupt sicherzustellen. Sie, die Staaten, dürfen es nicht zulassen, dass durchgeknallte, zugekokste und sozial verkrüppelte Finanzmanager unseren ganzen Planten vor die Wand fahren.
Herr Präsident, verzeihen Sie mir bitte. Ich habe vergessen, zu erwähnen, dass ich mich hier sinngemäß auf den Linguisten Noam Chomsky und den Ökonom Michel Albert bezogen hatte. Ich hatte auch nicht vor, Ihnen hier den Herrn zu Guttenberg zu geben.
Nach dem positiven fiskalischen Aspekt gibt es bei diesen Steuerkonzepten noch einen weiteren, der leider viel zu selten benannt wird. Jeder Ingenieur – und wir haben in Nordrhein-Westfalen eine ganze Reihe fähiger Ingenieure – weiß, dass ein technisches System – zum Beispiel eine elektronische Schaltung – ohne eine sogenannte Dämpfung seinen Konstrukteuren um die Ohren fliegt. Viele Wirtschaftstheologen wollen oder können davon offensichtlich nichts wissen. Ist das jetzt Dilettantismus oder kriminelle Energie?
Ähnliches gilt, was die Fadenscheinigkeit angeht, für die Urananreicherung in Gronau. Hier verfolgt die Landesregierung offenbar das Konzept „Aussitzen“. Es wird die Absicht bekundet, die Urananreicherung rechtssicher zu beenden. Es wird aber nicht einmal eine rechtlich bindende Bundesratsinitiative geplant.
Auch die Forderung vieler Bürgerinitiativen nach Erstellung einer Kinderkrebsstudie im Umkreis von Atomstandorten wird nicht aufgegriffen.
Ein weiteres zukunftsunfähiges Projekt ist die sogenannte Dichtheitsprüfung. Es ist wohl von einer Novellierung des Landeswassergesetzes die Rede, aber die Ausführungen dazu lassen den Schluss zu, dass es eine Neuauflage dieser Dichtheitsprüfung geben soll, und zwar unabhängig davon, ob eine Gefährdung überhaupt gegeben ist. Aus ideologischen Gründen wird der Dichtheitsprüfungswahn wohl wieder aus der Schublade geholt.
Frau Ministerpräsidentin, gestern haben Sie von Max erzählt. Ich möchte Ihnen heute einmal von Erkan erzählen.
Erkan ist ein Junge aus Kassel. Ich weiß – das sage ich, bevor man mich belehrt –, dass Kassel in Hessen liegt, aber das spielt für dieses Beispiel keine Rolle. Ende der 90er-Jahre/Anfang dieses Jahrtausends hat der Kasseler Pädagogikprofessor Ben Bachmair einen völlig anderen Ansatz gepflegt, mit Schulkindern umzugehen, bei denen die Diagnose Dyskalkulie und Legasthenie feststand. Er hat sich
Gerade Erkan ist ein gutes Beispiel. Er ist ein türkischstämmiges Einzelkind, seine Eltern sind Restaurantbesitzer, und er war sonntagnachmittags allein, weil die Gastronomie laufen musste. Der kleine Erkan hat in seiner Grundschulzeit ein Faible für Formel 1 entwickelt – das war damals die Hoch-Zeit von Michael Schumacher –, und der Junge war tatsächlich in der Lage, nachdem er dem Herrn Professor gegenüber ein wenig warm geworden ist, zu erläutern, was er da macht. Er war in der Lage, die hochkomplexen grafischen Darstellungen, die den aktuellen Stand des Rennens und auch die Wertung in der Weltmeisterschaft angeben, sofort zu erfassen.
Darüber hinaus war er ein Meister – vielleicht lachen Sie jetzt – im Kartenspiel „Pokémon“, bei dem zehn verschiedene Merkmale genutzt werden, um gegen kleine Monster anzutreten. Er war ein Meister in diesem Spiel. Das lässt trotz der Diagnose Dyskalkulie und Legasthenie auf eine erhöhte Rechtshirnbegabung schließen. Mathematik ist eine Strukturwissenschaft, für die zumindest die Rechtshänder ihre rechte Hirnhälfte brauchen. Wir dürfen diese Potenziale – und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – nicht vernachlässigen. Die Schule wird in Zukunft die Aufgabe haben, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind.
Darüber hinaus – es war häufiger vom Schulfrieden, vom Schulkonsens die Rede – haben wir ein wenig die Befürchtung, dass es zur Friedhofsruhe wird. Wir würden uns natürlich weiterhin innovative Projekte wünschen, beispielsweise ein Projekt zur Aufgabe des 45-Minuten-Rasters. Aus der Neurologie weiß man das. Kaum hat es der Mathematiklehrer geschafft, seine Schützlinge zu begeistern, kaum ist die Endorphindusche im Kopf angegangen, sind die 45 Minuten um, und es heißt „Englisch“. Wir können das nicht den „Waldorfs“ überlassen. Für Graswurzelprojekte würden wir uns mit Ihnen starkmachen; wir kennen uns damit aus.
Und noch etwas, Frau Ministerin Löhrmann: Ich bitte Sie aus aktuellem Anlass inständig, dass Sie dafür Sorge tragen, dass die Ihnen anvertrauten Lehrkräfte in den Schulen – es sind ja 160.000 bis 170.000 in Nordrhein-Westfalen – nicht „verspitzert“ werden. Ich weiß das als Biophysiker. Ich habe ein klein bisschen Einblick in Hirnforschung. Was der Mann erzählt, ist auch wissenschaftlich komplette Grütze.
„Wir bekennen uns zu dem Ziel, bis 2015 gesamtstaatlich 10% des Bruttoinlandsprodukts für Bildungs- und Forschungsausgaben aufzuwenden.“
Meint die Regierung dies ernst, muss sie mutigere Schritte unternehmen. Wir fordern daher mehr Investitionen. Die Bildungsausgaben betrugen in Deutschland im Jahr 2009 rund 5 % des Bruttoinlandsprodukts, und NRW ist hierbei in Deutschland nicht die Spitze. Hier ist noch mehr zu tun. Auf keinen Fall aber darf man 2015 bei den 10 % stehen bleiben.
Der Koalitionsvertrag weist zu Recht darauf hin, dass der Bildungserfolg auch in Nordrhein-Westfalen noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängt. In der Regierungserklärung blieb dies leider ohne Erwähnung. Dies kann sich unsere Gesellschaft einfach nicht mehr leisten, und zwar nicht nur volkswirtschaftlich. Es ist und bleibt eigentlich skandalös. Denn die Ungerechtigkeit wird von den öffentlichen Bildungseinrichtungen selbst produziert. Es gelingt immer noch nicht, dass die öffentlichen Bildungseinrichtungen die unterschiedlichen Chancen der Kinder aufgrund des Elternhauses ausgleichen. Vielmehr verschärfen sie diese Ungleichheit, indem sie die Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien und von Migranten diskriminieren; Kinder aus dem Bildungsbürgertum hingegen werden de facto weiterhin privilegiert.
Bildung ist ein Menschenrecht, und unsere Schulen und Kitas müssen dem gerecht werden. Dazu müssen sie natürlich in die Lage versetzt werden, alle Kinder individuell zu fördern. Auch wenn in diesem Land der Schulfrieden ausgerufen wurde, kritisieren wir das gegliederte Schulsystem weiterhin wegen der sozialen Selektion und sprechen uns für eine flüssige Schullaufbahn aus.
Dieses Schulmodell geht allerdings über die jetzt installierten Sekundarschulen weit hinaus. Dabei geht es nicht einfach nur um längeres gemeinsames Lernen. An diesen Schulen soll durch unterschiedliche Geschwindigkeiten, durch frei wählbare Kurse flexibles individuelles Lernen für alle Schüler möglich werden. Darin sehen wir auch ein zeitgemäßes Unterrichtsmodell, weil es allen Schülern bessere Chancen bietet, sich in ihrer individuellen Entwicklung entsprechend zu entfalten.
Vor diesem Hintergrund können wir dem Schulversuch PRIMUS einiges Positive abgewinnen. Laut Koalitionsvertrag und Regierungserklärung sieht die Regierung in der Inklusion die zentrale Herausforderung für die Schulen in Nordrhein-Westfalen. Auch wir Piraten treten für die Schaffung eines konsequent inklusiven Bildungssystems ein. Denn wir wollen allen Schülern die gleichen Rechte, Chancen und Beteiligungsmöglichkeiten bieten.
Auch wir Piraten streben den Rückbau der Förderschulen an. Schüler mit speziellen Förderbedürfnissen sollen, so weit als möglich, in die allgemeinbildenden Schulen eingebunden werden. Dem
schrittweisen Rückbau der Förderschulen muss ein entsprechender Ausbau der Regelschulen gegenüberstehen. Wir wollen den Rechtsanspruch auf in
klusive Bildung so schnell wie möglich gesetzlich verankern. Elternwille auf Augenhöhe ist dabei allerdings das oberste Gebot. Das durch die Schließung der Förderschulen eingesparte Geld muss zu hundert Prozent in die inklusiven Schulen investiert werden. Auf keinen Fall darf es zum Stopfen von Haushaltslöchern herangezogen werden.