Protokoll der Sitzung vom 30.09.2015

Die UN-Behindertenrechtskonvention – und somit auch die Inklusion – ist in den Augen der Piraten kein Ideal, das irgendwann einmal wohlwollend verwirklicht werden soll. Nein, die UN

Behindertenrechtskonvention ist ein Minimum, eine Grundlage für staatliches Handeln, auf die das gesellschaftliche Zusammenleben behinderter und nicht behinderter Menschen aufbaut.

In diesem Zusammenhang habe ich sehr viele Probleme mit der Formulierung aus Art. 1 § 5 des Gesetzentwurfs. Ich zitiere:

„Die Herstellung inklusiver Lebensverhältnisse ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

Das kann man mit Sicherheit so sehen, und es ist mit Sicherheit auch nicht falsch, doch eine solche Aussage hat meiner Meinung nach in dem Gesetz nichts zu suchen. Denn in dem genannten Paragrafen geht es um das Handeln der Träger öffentlicher Belange, und nicht um gesamtgesellschaftliches Handeln, welches sowieso nicht in einem Gesetz vorgeschrieben werden kann. Den einzigen Sinn, den ich in dieser Formulierung erkenne, ist, dass sich die Träger öffentlicher Belange in Kombination mit den Sollvorschriften hinter der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe verstecken können.

Natürlich kann ich Ihre Intention, liebe Landesregierung, verstehen, im Gesetz bloß nicht zu konkret zu werden. Denn je konkreter die Vorschriften, umso eher werden unabwendbare Kosten entstehen und geltend gemacht. Aber Inklusion darf, da es sich um ein Menschenrecht handelt, nicht von der Kassenlage abhängig gemacht werden. Inklusion muss, solange sie nicht vollständig umgesetzt ist, wie alle anderen Menschenrechte auch, ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, auch bei den Finanzen. Denn Inklusion ohne entsprechende finanzielle Mittel funktioniert nicht, wie sich unlängst bei der Inklusion in der Schule gezeigt hat.

Aber davor scheinen Sie, liebe Landesregierung, Angst zu haben. Angst davor, dass es zu teuer werden könnte. Wie, wenn es nicht ums Geld geht, wäre es anders zu erklären, dass Sie durch die Sollvorschriften in Ihrem Gesetzentwurf weit hinter der UN-Behindertenrechtskonvention zurückbleiben?

Sie merken schon: Wir Piraten kritisieren weniger den Inhalt und schon gar nicht das Ziel hinter dem Gesetzentwurf, sondern ausschließlich die Unverbindlichkeit der Vorschriften. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussionen in den Ausschüssen.

Zum Schluss meiner Rede möchte ich mich noch im Namen meiner Fraktion bei Ihnen, Herr Minister Schneider, für Ihre gute Zusammenarbeit bedanken, trotz aller Differenzen und Streitereien, die entstanden sind, was natürlich völlig normal ist. Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Wegner. – Weitere Wortmeldungen liegen hier nicht vor.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Wir stimmen ab über den Tagesordnungspunkt 7, und zwar empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/9761 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend –, an den Ausschuss für Schule und Weiterbildung sowie an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend. Wer hat etwas dagegen? – Niemand. Gibt es Enthaltungen? – Nein. Damit ist

einstimmig so überwiesen, und weitere Debatten sind gewährleistet.

Wir kommen nun zu:

8 Gezielte Förderung nicht nur bei Mädchen –

Lebenslagen von Jungen stärker in den Fokus nehmen!

Große Anfrage 14 der Fraktion der CDU Drucksache 16/8472

Antwort der Landesregierung Drucksache 16/9548

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDUFraktion Herrn Kollegen Kern das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zunächst einmal möchte ich mich bei der Landesregierung für die Beantwortung der Großen Anfrage „Gezielte Förderung nicht nur bei Mädchen – Lebenslagen von Jungen stärker in den Fokus nehmen!“ im Namen der CDU-Fraktion bedanken, auch wenn aus meiner Sicht die eine oder andere Antwort den Eindruck erweckte, dass diese Fragen stören.

Auf eine kurze Formel gebracht: Für mich stellt sich ein Problem. Die Anfrage erkundigt sich nach den Ursachen. Wir haben es mit der Jungen-Förderung sehr ernst gemeint. Die Landesregierung lobt sich teilweise selbst – aber so kommen wir ja nicht weiter. Deswegen müssen wir einmal schauen, wie wir mit den Antworten umgehen.

Einige Antworten der Landesregierung zu der Großen Anfrage sind meines Erachtens von der Grundhaltung gekennzeichnet, eine Jungenthematik nicht aufkommen zu lassen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Beantwortung der Frage 2. Jeder, der einigermaßen an der Jungenförderung interessiert ist, muss da enttäuscht sein. Die Antwort bewegt sich vielfach in dem Bereich, der die Lebenswelt und die Räume der Jungen in Nordrhein-Westfalen wenig einbezieht.

In den mir zur Verfügung stehenden fünf Minuten kann ich diese komplexe Thematik nur punktuell behandeln. Es bleibt allerdings festzuhalten: Spezifische Problemlagen oder Bedarfe von Jungen werden in den Antworten nur selten sichtbar. Die Antworten verlieren sich in allgemeinen Äußerungen zur Gender- und Mädchenförderung.

In anderen Antworten dagegen lohnt sich eine Analyse. Für die verschiedenen Zielfelder wie Bildung, Jugendarbeit, Gesundheit, Sport und Bewegung ergeben sich Chancen zur Weiterentwicklung für die tatsächliche Jungenförderung.

Auch ergeben sich aus den Antworten neue Fragen, die wir mit den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Parteien gerne im Gleichstellungsausschuss und auch mit der Regierung besprechen wollen. Wie findet zum Beispiel die partizipative Praxis in der Jugendarbeit statt?

Es bleibt festzuhalten: Allein in der Jugendverbandsarbeit bestehen eklatante Unterschiede zwischen dem Engagement und der qualitativen und quantitativen Partizipation. Wodurch unterstützt zum Beispiel die Landesregierung die gesellschaftliche Teilhabe von Jungen im Programm „Kein Kind zurücklassen“?

Wir fragen die Landesregierung: Welche konkreten Maßnahmen berücksichtigen die Geschlechtsdifferenzen, wie zum Beispiel häufigeres negatives Bildungsverhalten von Jungen, andere Krankheiten, ein stärker ausgeprägtes Risikoverhalten oder ein stärkerer Bewegungsdrang von Jungen? Wie ist es mit der Tatsache, dass bei Jungen ab etwa zehn Jahren im Vergleich zu gleichaltrigen Mädchen ein deutlich höheres Unfallrisiko besteht, das etwa drei- bis viermal so hoch ist? Das gilt übrigens auch für die Selbstmordrate. Dies sind Fakten, die uns alle sehr nachdenklich stimmen müssen.

Wir erwarten von der Landesregierung konkrete Antworten auf die Frage – das ist wieder ein anderer Themenbereich –, ob in Kitas oder im schulischen Leben alles dem Entwicklungsstand der Jungen Entsprechende im Förderbereich erfolgt und ob die Bildungsbenachteiligung von Jungen, wenn es um den Abschluss geht, abgebaut werden kann. Es muss uns beunruhigen, dass die Ergebnisse bei den Jungen heute nachhaltig schlechter sind. Wir erwarten von der Landesregierung Antworten auf die Frage, ob im Kinder- und Jugendförderplan die Jungenförderung zukünftig stärker berücksichtigt wird.

Ein weiteres Beispiel – das kann ich durchaus unterfüttern –: Gerade in Sachen „Sport und Bewegung im Alltag“ ist sportbezogene Jungenförderung kaum vorhanden. Pädagogen schlagen Alarm, dass im Sportunterricht vielfach die Jungen mangels Bewegung im Alltag weit hinter den Möglichkeiten der Mädchen zurückbleiben. Dieser Tage hat mich noch ein Lehrer darauf hingewiesen. Wir erwarten auch hier Gespräche und entsprechendes Regierungshandeln.

In Gesundheitsfragen bleibt festzuhalten: Was tun wir in Nordrhein-Westfalen spezifisch für die Gesundheit von Jungen?

Abschießend: Es gibt sehr viele Ansätze, die wir in den nächsten Jahren gemeinsam besprechen wollen. Der Ansatz der Landesregierung gibt diese Punkte sicherlich wieder. Ich möchte hinzufügen, dass wir gerade unter dem aktuellen Aspekt, was die Flüchtlinge angeht, junge Männer und Jungen bekommen, die aufgrund ihres kulturellen Hinter

grundes die Gleichberechtigung, die wir hier leben, nicht kennen. Auch da müssen wir noch einmal Ziellinien und Zielhorizonte besprechen, um die Gleichberechtigung zu stärken.

In diesem Sinne werden wir – die Anfrage wird ja nicht an den Ausschuss überwiesen – im Obleutegespräch mit Ihnen zusammen an Einzelpunkten versuchen, den einen oder anderen Ansatzpunkt weiterzuentwickeln, um Gleichstellung tatsächlich zu leben. – Danke schön.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Für die SPD-Fraktion hat das Wort nun Frau Kollegin Jansen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kern, ich bin ja eine sehr höfliche Vorsitzende. Insofern möchte ich Ihnen zunächst einmal zugestehen, dass es teilweise sehr wichtige und richtige Fragen sind, die Sie in der Großen Anfrage gestellt haben. Auch in der Vorbemerkung gibt es eine Formulierung, die mir sehr gut gefällt. Ich darf sie mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren:

„Es geht … um ein Mehr von geschlechterbezogener Reflexion der verschiedenen gesellschaftlichen relevanten Maßnahmen und Angebote, das hier mit Fokus auf die Jungen angefragt und ausdifferenziert wird.“

Damit bin ich sehr einverstanden. Man muss allerdings sagen: In den wirklich interessanten Themenfeldern, die Sie angesprochen haben, ist die Landesregierung bereits aktiv.

Zu den Einzelheiten Ihrer Anfrage. Es gibt zunächst einmal die Frage nach dem Umgang mit Partizipationshindernissen, also Misserfolgen von Jungen in den verschiedenen Ebenen. Ich glaube, da sitzen Sie einem Missverständnis auf, dass es zwischen Geschlecht und Bildungserfolg einen relevanten statistischen Zusammenhang gibt. Ich glaube das nicht.

In den Kitas, die sich damit beschäftigen, gibt es vielmehr das Konzept, dass die Handlungsfähigkeiten von Kindern gestärkt werden und Kinder auch Widerstandsfähigkeit entwickeln. Der Fachbegriff dafür ist Resilienz. Das Wort gefällt mir sehr gut; deswegen nenne ich es noch einmal. Und das ist unabhängig vom Geschlecht. Man soll mit Frustration umgehen können – egal ob man Mädchen oder Junge ist.

Zum Thema „Individuelle Förderung“. Auch das greifen Sie auf. Hier soll eine Förderung ebenfalls völlig unabhängig davon sein, ob ein Mädchen oder ein Junge gefördert werden muss; denn das Geschlecht ist nur – ich betone das ganz bewusst – ein

Merkmal von vielen, das sich auf Potenziale und Talente auswirkt.

Ein spezielles Anliegen haben Sie auch benannt: Die Leseförderung für Jungen und Mädchen. Ich kenne da ein Beispiel aus meinem eigenen Wahlkreis: „ax-o“ – vielleicht sagt Ihnen das etwas. Die haben sich zur Aufgabe gemacht, Jungen zu Vorlesern zu machen. Das ist ein meiner Meinung nach sehr guter geschlechtersensibler Ansatz, der meine Zustimmung findet.

Meine eigene Erfahrung ist auch, dass mein Sohn mehr liest als meine Tochter. Das kann natürlich mit der Auswahl der Lektüre zusammenhängen, wenn man Starwars-Bücher als Lektüre betrachten will. Aber das ist, glaube ich, eine Diskussion, die ich zu Hause führen muss.

Ich komme zu dem Kernthema Ihrer Anfrage und Ihres Interesses: dem schlechteren Schulerfolg von Jungen. Da fand ich die Aussagen des MSW in dem Zusammenhang sehr aussagekräftig. Man darf die etwas schlechteren Werte in Bezug auf Klassenwiederholungen bei Jungen natürlich nicht verharmlosen – ganz sicherlich nicht.

Im Geschlechterverhältnis jedoch spielt das meiner Meinung nach keine Rolle und ist daraus auch nicht zu konstatieren. Da gibt es andere Faktoren, die über den Bildungserfolg entscheiden. Das sind eher soziokulturelle Hintergründe, wie der Bildungsstand der Eltern und die Muttersprache: ob das Deutsch ist oder eine andere Sprache.

Ich empfehle übrigens die Kurzstudie des Instituts der deutschen Wirtschaft zu dem Thema „Bildungsverlierer“. Da gibt es überhaupt keine Rubrik, die sich mit dem unterschiedlichen Bildungserfolg von Mädchen und Jungen befasst; da geht es nur um soziokulturelle Merkmale.

Da das Thema sehr interessant ist, ich aber nur wenig Zeit habe, springe ich etwas. – Sie bemängeln, dass es weniger männliche als weibliche Lehrkräfte gibt. Dazu muss man sagen, dass die Landesregierung eine spezielle Lehrkräfteanwerbung betreibt und an Unistandorten mit Zentren für schulpraktische Ausbildung auch Aktionstage durchführt.

Interessanter fand ich eigentlich Ihren Punkt bei dem Thema „Gesundheit“. Da haben Sie gesagt, dass das Nichtfunktionieren von Jungen und auch die häufigeren Diagnosen von ADHS oder Asperger-Syndrom auch dem biologischen Geschlecht zuzuschreiben seien. Hierzu würde ich Ihnen gern zwei Sätze aus dem ADHS-Infoportal vorlesen – dahinter steckt die Uniklinik Köln –

„ADHS tritt bei Jungen wesentlich häufiger auf als bei Mädchen... Die Ursachen dafür sind noch unbekannt. Es wird jedoch vermutet, dass erbliche Faktoren hierfür hauptsächlich verantwortlich sind.... Jungen werden jedoch deutlich

häufiger als Mädchen zur Diagnose und Therapie vorgestellt.“