Protokoll der Sitzung vom 17.10.2001

Vielen Dank. Ich wusste nicht, dass es hier eine so komfortable Technik gibt, Herr Kollege.

(Heiterkeit im Hause)

Herr Dr. Gölter, Sie haben mich gebeten, soweit ich schon kann, Informationen zu geben. Lassen Sie mich

deshalb jetzt zu dem aktuellen Thema sprechen. Das Kernkraftwerk Philippsburg besteht aus zwei Reaktorblöcken. Philippsburg liegt in Baden-Württemberg, ca. zehn Kilometer südöstlich von Speyer.

(Dr. Gölter, CDU: Och! Drei! Zwei!)

Auch wenn atomrechtlich das baden-württembergische Umweltministerium zuständig ist, haben wir sicherlich auch aus der Sicht von Rheinland-Pfalz Interesse an einer lückenlosen Aufklärung, auch was die Sicherheitslage betrifft. Nicht nur wegen der Nähe zur Landesgrenze und auch wegen der möglichen Auswirkungen auf die Bevölkerung unseres Landes verfolgen wir mit großer Aufmerksamkeit – ebenso wie im Übrigen bei den Reaktorblöcken Biblis und Cattenom – den Betrieb dieses Kernkraftwerks.

Sie haben es gesagt, im August dieses Jahres hat sich ein Vorkommnis im Block 2 des Kernkraftwerks Philippsburg ereignet, das zu ernsthaften Zweifeln an einer hinreichend zuverlässigen Betriebsführung der Anlage geführt hat. Der Bundesumweltminister sowie das baden-württembergische Umweltministerium haben daher am 7. Oktober 2001 die Betreiberfirma bei einem aufsichtlichen Gespräch in Berlin aufgefordert, Block 2 des Kraftwerks vom Netz zu nehmen, bis der Vorfall umfassend aufgeklärt und die erforderlichen Maßnahmen ergriffen worden sind. Daraufhin hat der Betreiber am 8. Oktober den Block 2 abgeschaltet. Das Wiederanfahren setzt die Durchführung von Änderungsmaßnahmen voraus und bedarf der Zustimmung der Aufsichtsbehörde.

Was war passiert? Ich weise darauf hin, dass meine Informationen im Wesentlichen auf einem Bericht des baden-württembergischen Umweltministeriums vom 11. Oktober dieses Jahres an den Umweltausschuss des baden-württembergischen Landtags beruhen, der am 15. Oktober bei uns eingegangen ist. Er ist uns ebenso wie dem Bundesumweltministerium, der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und dem Bundesamt für Strahlenschutz zur Unterrichtung zugesandt worden.

(Dr. Braun, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist schlecht! Eine schlechte Quelle!)

Danach wurde am 25. August dieses Jahres im Block 2 des Kernkraftwerks Philippsburg bei einer Probenahme aus einem so genannten Borwasser-Flutbehälter festgestellt, dass nach einer Jahresrevision der Anlage die spezifizierte Borkonzentration in diesem Behälter nicht vorlag. Die Borwasser-Flutbehälter gehören zu den Sicherheitseinspeis esystemen, die bei KühlmittelverlustStörfällen die Kühlung des Reaktorkerns und die Nachwärmeabfuhr sicherstellen sollen. Diese Systeme sind vierfach mit einer fünfzigprozentigen Redundanz vorhanden. Das bedeutet, dass zwei Flutbehälter zur Störfallbeherrschung ausreichen.

Die Systeme sind in der Lage, bei Brüchen der Hauptkühlmittelleitung und entsprechendem Kühlwasser- und Druckverlust den Reaktorkern mit einer genügenden Kühlwassermenge aus den Flutbehältern zu versorgen. Das dem Kühlwasser beigemischte Bor, das als Neutro

nengift wirkt, sorgt dafür, dass der Reaktor im unterkritischen, das heißt, abgeschalteten Zustand verbleibt.

In der Anlage Philippsburg 2 wird bei einem Brennelementewechsel, der in der Regel einmal pro Jahr bei der so genannten Anlagenrevision erfolgt, ein Teil des borierten Wassers aus den Flutbehältern zum Füllen der Reaktorgrube genutzt. Dies geschah auch bei der diesjährigen Anlagenrevision im Kernkraftwerk Philippsburg.

Am 11. August waren nach Beendigung der Jahresrevision des Blocks 2 drei der vier Flutbehälter wieder gefüllt worden. Der Flutbehälter in der vierten Redundanz war nicht betroffen, da er nicht nachgespeist werden musste. Nach dem Wiederauffüllen ist bereits am 12. August 2001 der Betrieb in der Anlage wieder aufgenommen worden – jetzt kommt es –, ohne dass zuvor der Borsäuregehalt der Flutbehälter überprüft worden war.

Nach den Vorgaben des Betriebshandbuchs muss nach jeder Füllung der Flutbehälter und nach der Revision die Borsäurekonzentration in den Behältern bestimmt werden. Ein genauer Zeitpunkt ist hierfür im Betriebshandbuch jedoch nicht vorgesehen. Dies wird jetzt schon geändert.

Ein sicherheitsgerichtetes Vorgehen hätte allerdings schon damals die Bestimmung des Borsäuregehalts vor der Wiederaufnahme der Anlage erfordert. Dies ist jedoch nicht geschehen. Mit der Bestimmung der Borsäurekonzentration wurde vielmehr erst am 25. August, das heißt, 13 Tage nach Wiederinbetriebnahme, begonnen.

Durch Nachfüllen von Borsäure in der Zeit vom 27. bis 31. August wurde die Borsäurekonzentration in den drei betroffenen Flutbehältern wieder auf den spezifizierten Wert angehoben. Herr Dr. Gölter, ich habe insofern eine kleine Korrektur. Nicht am 27. August, sondern erst am 31. August konnte man quasi mit komplett betriebsbereiten Sicherheitsflutbehältern und Sicherheitssystemen rechnen.

Die nachfolgende Fehleranalyse ergab, dass die Fehlstellung einer Armatur im Borsäuresystem die Ursache für die mangelhafte Borsäurekonzentration in den Flutbehältern war.

Meine Damen und Herren, wie ist dieses Ereignis jetzt sicherheitstechnisch zu bewerten? Mit der mangelhaften Borkonzentration in drei der vier Flutbehälter waren in Block 2 des Kernkraftwerks die Maßnahmen auf der Sicherheitsebene „Störfallbeherrschung“ nicht mehr auslegungsgemäß verfügbar.

Es bleibt festzuhalten, dass ab dem 25. August der Betreiber von einer unzureichenden Borkonzentration in einem Flutbehälter definitiv wusste und in Betracht ziehen musste, dass auch die beiden anderen wieder aufgefüllten Flutbehälter die gleiche mangelhafte Borkonzentration aufwiesen. Tatsächlich wurde aber erst nach dem 27. August der spezifizierte Wert der Borkonzentration wieder erreicht. Der Betreiber hatte somit zumindest für den Zeitraum vom 25. bis 27. August keine Klarheit darüber gehabt, ob die Sicherheitssysteme der Anlage voll funktionsfähig waren. Dennoch ist die Anlage weiter betrieben worden, obwohl ein sicherheitsgerichtetes

Verhalten die sofortige Abschaltung erfordert hätte. Dieses Fehlverhalten ist der Betriebsleitung anzulasten.

(Beifall des Abg. Dr. Schiffmann, SPD)

Hierzu darf ich jetzt Herrn Goll, den Vorstandsvorsitzenden der Betreiberfirma zitieren. Ich sage an dieser Stelle auch, nur der Rückzug von Personen aus der Führungsebene bei E.ON, entweder dem technischen Betriebsleiter oder dem technischen Vorstand, ist noch keine Störfallbewältigung, die dauerhaft wirkt.

(Beifall der SPD und der FDP)

Ich darf jetzt Herrn Goll, den Vorstandsvorsitzenden der Betreiberfirma, zitieren, der laut „Handelsblatt“ vom 16. Oktober 2001 gesagt hat – er beschreibt dies richtig –: „Die Vorschriften sind einzuhalten, und im Zweifel ist immer abzuschalten.“ – Eine wahre, aber in diesem Fall zu späte Erkenntnis.

Ich komme nun zur Informationsweiterleitung durch Baden-Württemberg:

Das baden-württembergische Umweltministerium hat mit Schreiben vom 10. September 2001 dem Bundesumweltminister, der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit und dem Bundesamt für Strahlenschutz die vorgeschriebene schriftliche Meldung des Betreibers über dieses meldepflichtige Ereignis übersandt. Das rheinland-pfälzische Umweltministerium wurde mit selbem Schreiben nachrichtlich unterrichtet.

Wie wir heute wissen, war das Ereignis in dem Meldeformular von dem Betreiber – vorsichtig formuliert – zumindest unzureichend beschrieben worden. Es war zudem fehlerhaft in der Bewertungsstufe 0, das heißt, keine oder sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung nach der INES-Skala, zugeordnet worden. Das ist die Skala der internationalen Bewertung für bedeutsame Ereignisse in kerntechnischen Anlagen. Inzwischen wird der Vorfall der Stufe 2 der INES-Skala, das heißt, „Störfall“, zugeordnet.

Die ganze Bedeutung des Ereignisses ließ sich nach der Bewertung des baden-württembergischen Umweltministeriums den Angaben des Betreibers in dem Meldeformular vom 5. September 2001 nicht entnehmen. Die Meldung gab jedoch Anlass zu eingehenden Nachfragen der zuständigen atomrechtlichen Aufsichtsbehörden.

Mir liegen jetzt keine Informationen dazu vor, wieso der TÜV noch zu einer ähnlichen Beurteilung kam; denn dieses TÜV-Gutachten liegt uns nicht vor.

Trotzdem: Es gab Anlass zu eingehenden Nachfragen der zuständigen atomrechtlichen Aufsichtsbehörden, sowohl des baden-württembergischen Umweltministers als auch des Bundesumweltministers, das – wie bei allen meldepflichtigen Ereignissen – die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit und das Bundesamt für Strahlenschutz eingeschaltet hatte.

Wie geht es nun mit Philippsburg weiter? – In einem aufsichtlichen Gespräch am 10. Oktober wurde dem Betreiber eine Reihe technischer und personell

organisatorischer Maßnahmen mitgeteilt, deren Durchführung aus Sicht des Bundesumweltministeriums und des baden-württembergischen Umweltministeriums die Voraussetzung für das Wiederanfahren darstellt. Das Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg hat weiter mitgeteilt, dass es in enger Abstimmung mit dem BMU überprüfen werde, ob die Maßnahmen des Betreibers ausreichen. Erst wenn dies der Fall sei, könne der Block 2 wieder angefahren werden.

Wir werden diese Analysen sowie die von der zuständigen Aufsichtsbehörde zu treffenden Maßnahmen intensiv verfolgen.

Herr Dr. Gölter, ich kann Ihnen jetzt schon zusagen, wir werden uns in den entsprechenden Ausschüssen, sei es in dem Länderausschuss für Atomenergie, wo wir im Hauptausschuss oder im Fachausschuss Reaktors icherheit beteiligt sind, sei es im Länderarbeitskreis Leichtwasserreaktoren oder auch in der Reaktorsicherheitskommission einbringen und dort diese oder auch andere Fragen dazu stellen. Selbstverständlich werde ich Sie gegebenenfalls in den Ausschüssen weiter unterrichten, soweit uns Informationen vorliegen.

Meine Damen und Herren, da die Sicherheitseinspeis esysteme in Block 2 des Kernkraftwerks im fraglichen Zeitpunkt nicht eingreifen mussten, hatte das Ereignis keine Auswirkungen auf die Anlage selbst bzw. auf die Umgebung und somit auch nicht auf Rheinland-Pfalz. Dennoch muss das Versäumnis in Philippsburg – insbesondere wegen des dabei deutlich gewordenen Mangels an Sicherheitskultur – sehr ernst genommen werden.

(Beifall bei SPD und FDP)

Oberstes Prinzip muss sein, dass bei dem Betrieb eines Kernkraftwerks alle notwendigen Sicherheitssysteme und -einrichtungen stets voll funktionsfähig sein müssen. Wenn dies nicht gewährleistet ist oder eine Unsicherheit besteht, ist die Anlage so lang abzuschalten, bis der vorgeschriebene Sicherheitszustand wiederhergestellt ist. Hier kann es keinerlei Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Interessen des Betreibers geben.

(Beifall der SPD und der FDP)

Gestatten Sie mir zum Schluss noch zwei Sätze zu der möglichen Frage der Übertragbarkeit des Ereignisses im Kernkraftwerk Philippsburg auf das rheinland-pfälzische Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich.

Ich sage ganz deutlich, ein Vorkommnis, wie dies im Kernkraftwerk Philippsburg aufgetreten ist, kann sich in Mülheim-Kärlich nicht mehr ereignen. Die Anlage ist abgeschaltet, die Systeme sind kalt und drucklos, und die Brennelemente befinden sich nicht mehr im Reaktordruckbehälter. Die Sicherheitseinspeisesysteme haben daher keine sicherheitstechnische Bedeutung mehr.

Meine Damen und Herren, das Ereignis in Philippsburg ist für uns jedoch ein weiterer Beleg dafür, dass in der Kerntechnik niemals in dem Bemühen um eine hohe Sicherheitskultur nachgelassen werden darf. Dies gilt auch bei einem stillgelegten Kraftwerk, das zurückgebaut werden soll. Ich sage das hier ausdrücklich. Ich

bestätige Ihnen auch – mein Eindruck stimmt da schon –, wir verfügen durchaus – Herr Dr. Braun, weil Sie dies angesprochen haben – über eine kompetente und sehr kritische Atomaufsicht.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. – Doch.

Spät kommt er, doch er kommt.

Ich erteile Herrn Abgeordneten Dr. Braun das Wort.

Herr Präsident, nehmen Sie es nicht als Kritik, aber man könnte auch sagen, spät schaut er.

(Beifall und Heiterkeit im Hause)

Die Ausführungen von Ministerin Frau Conrad nehmen wir zur Kenntnis. Sie haben uns aber sehr wenig neue Erkenntnisse erbracht, vielleicht weil wir uns alle – ich habe dies mit Herrn Dr. Gölter eben noch nebenbei besprochen – vorher doch sehr intensiv informiert hatten.