Protokoll der Sitzung vom 15.05.2002

(Beifall im Hause)

Es spricht nun Frau Staatsministerin Doris Ahnen.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die schreckliche Tat in Erfurt – das ist bei allen Rednerinnen und Rednern zum Ausdruck gekommen – hat bei uns allen große Betroffenheit ausgelöst. Alle Schulen des Landes haben ihr Mitgefühl zum Ausdruck gebracht. Die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler haben würdige Formen der Anteilnahme gefunden. Der Schultag nach dem schrecklichen Ereignis war bestimmt von Trauer, aber auch von wichtigen und feinfühligen Gesprächen in den Schulen. Dafür bedanke ich mich bei allen am Schulleben Beteiligten.

(Beifall der SPD und der FDP sowie vereinzelt bei CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mein besonderer Dank gebührt dem Schulleiter des Mainzer Gutenberg-Gymnasiums, der die Initiative ergriffen hat, dass Mainzer Lehrkräfte jetzt die Erfurter Schule in der schwierigen Situation unterstützen. Wir haben in Abstimmung mit dem Thüringer Kultusministerium zehn Lehrerinnen und Lehrer für zunächst zwei

Wochen nach Erfurt abgeordnet. Auch ihnen und denen, die ihre Arbeit hier machen, gilt unser aller Dank für ihr großes Engagement.

(Beifall der SPD und der FDP sowie vereinzelt bei CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Tat wie in Erfurt ist nicht vorhersehbar und kann deshalb auch kaum durch ein noch so gutes Eingriffsszenario verhindert werden. Sie lehrt uns aber doch, dass wir immer wieder genau hinsehen müssen, wenn es droht, dass gegenseitige Achtung verlorengeht, wenn Gewalt im Alltag zunimmt, aber auch wenn Kinder und Jugendliche keine Perspektive mehr sehen und wenn sie nicht mehr bereit sind, Regeln einzuhalten.

Die schreckliche Tat hat viele Fragen aufgeworfen, auf die es auch aus meiner Sicht – so wie das von allen gemeinsam betont worden ist – keine einfachen und auch keine schnellen Anworten gibt. Wir alle aber stehen in der Pflicht und tragen Verantwortung für eine Gesellschaft, in der Gewalt geächtet wird. Ich bin deshalb dankbar, dass dies auch von allen in dieser Aktuellen Stunde zum Ausdruck gebracht worden ist.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Anfang dieser Woche hatte ich Lehrkräfte, Eltern, Schüler, Schulpsychologen, Jugendschutz- und Medienexperten zu einem Gespräch über die Erfurter Ereignisse und mögliche Konsequenzen eingeladen. Dies ist bewusst mit ein bisschen Abstand geschehen, und es ist bewusst ein Gespräch in einer sehr offenen Form geführt worden.

Auch hier gab es völlige Übereinstimmung, dass wir voreilige Schritte vermeiden müssen. Zugleich gab es aber doch auch Übereinstimmung, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, um weitere präventive Maßnahmen zu entwickeln und dabei gerade bei dem, was die Schulen betrifft, auf Bestehendem aufbauen sollten.

Die Schulen unseres Landes haben sich seit längerem auf den Weg gemacht, ihren Beitrag zur Gewaltprävention zu leisten. Sie öffnen sich in ihr kommunales Umfeld; sie initiieren und moderieren die Zusammenarbeit mit außerschulischen Stellen, indem sie zum Beispiel Diskussionsrunden und runde Tische veranstalten, aber auch, indem sie mit den kriminalpräventiven Räten zusammenarbeiten.

Man könnte eine Vielzahl von Beispielen und von Projekten nennen, die die Schulen auf den Weg gebracht haben im Bereich der Mediation, im Bereich der Streitschlichtung, im Bereich der Schulsozialarbeit, im Bereich der Prävention im Team. Das sind alles nur Beispiele. Wir können meiner Meinung nach gemeinsam feststellen, dass sich in diesem Bereich in den letzten Jahren doch sehr viel getan hat; denn als der Landtag zum ersten Mal zusätzliche Gelder für den Bereich der Gewaltprävention bewilligte, taten sich die Schulen noch schwer, sich diesem Problem zu stellen. Sie taten sich vor allem schwer, einen Antrag auf Hilfe zu stellen. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert.

Trotz dieser positiven Entwicklung sind wir jedoch alle aufgefordert, uns weitergehende Gedanken zu machen und weitere Hilfen gerade auch für die schulische Problemlösung zur Verfügung zu stellen. Wenngleich ich mich den inhaltlichen Aussagen voll anschließe, dass in diesem Fall nicht allein die Schule gefordert ist, haben wir doch für sie eine besondere Verantwortung.

Ich habe deshalb auch gern den Vorschlag des Ministerpräsidenten aufgegriffen, zum Beispiel die professionelle Beratung des Schulpsychologischen Dienstes bei der Aussprache eines Schulausschlusses verpflichtend einzuholen. Gott sei Dank ist das eine Maßnahme, die nur sehr selten zum Tragen kommt, aber gerade für solche außergewöhnlichen Fälle bedarf es dann auch einer Vorsorge. Ich bin dem Schulpsychologischen Dienst ausgesprochen dankbar, dass er diesen Vorschlag nicht nur aufgegriffen hat, sondern mir inzwischen bereits ein konkretes Handlungskonzept vorgelegt hat, mit dem wir in Kürze an die Schulen herantreten werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Grundlage all dieser präventiven Maßnahmen ist aus meiner Sicht das, was wir im schulischen Bereich – Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern, Bildungspolitik – gemeinsam in den letzten Jahren als Kultur der Anerkennung definiert haben, das heißt, die gegenseitige Achtung aller am Schulleben Beteiligten. All diese Ansätze und Initiativen zeigen aber aus meiner Sicht auch, dass manch theoretische Diskussion, die weniger in den Schulen geführt wird als manchmal über die Schulen, dass man das schön aufteilen könnte einerseits in den Bildungsauftrag und andererseits in den Erziehungsauftrag, ins Leere läuft.

Bildung heißt auch Persönlichkeitsbildung. Das heißt immer auch Erziehung zu sozialem Verhalten. Die Schulen wissen, dass sich diese beiden Dinge miteinander bedingen und es keinen Sinn macht, vermeintliche Grenzen zu ziehen.

Wir würden den Schulen nicht helfen, wenn wir theoretische Trennungen vornehmen. Wir dürfen aber auch nicht alle Probleme bei ihnen abladen oder sie gar mit ihrem Auftrag allein lassen. Wir müssen in diese Problemlösung alle Verantwortlichen einbeziehen; denn obwohl Kinder und Jugendliche heute anders aufwachsen als früher und die öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen und Kindertagesstätten, sehr an Bedeutung gewonnen haben, ist die Familie in all ihren existierenden Formen für die meisten Kinder und Jugendlichen nach wie vor der zentrale Ort des Aufwachsens.

Deshalb brauchen wir eine Stärkung der Familien und eine enge und gute Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. Das ist aus meiner Sicht die unerlässliche Voraussetzung für das gemeinsame Gelingen des Bildungs- und Erziehungsauftrags. Ich bin mit dem Landeselternbeirat einig, dass wir hierfür jede erdenkliche Hilfestellung anbieten wollen, übrigens auch eine möglichst gute Information der Eltern über die schulische Arbeit.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir ein breites Bündnis aller an der Erziehung Beteiligten brau

chen, zeigt sich meines Erachtens auch in dem bereits angesprochenen Bereich des Jugendschutzes. Auch hier sind Gesetzgeber, Eltern, Schulen, Medien und das soziale Umfeld gemeinsam gefragt.

Ich begrüße es nachdrücklich, dass eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes in diesem Bereich auf den Weg kommt. Machen wir uns aber nichts vor. Die Wahrnehmung des Jugendschutzes im Internet ist eine Aufgabe, die der Staat nicht allein, sondern nur gemeinsam mit der Internetindustrie, den Anbietern, den großen Providern, den Anbietern von Suchmaschinen und Ähnlichem lösen kann.

Genauso wichtig ist, dass es gerade die enge und vertraute Beziehung zwischen Kindern und Eltern in besonderer Weise gestattet, sich über Jugend beeinträchtigende und Jugend gefährdende Inhalte gemeinsam auseinander zu setzen und wir diesen Bereich im Blick haben müssen.

Da die neuen Medien – darauf ist hingewiesen worden –, insbesondere die Spiele, fast ausschließlich unter Jugendlichen gespielt werden und Erwachsene, Eltern wie Lehrkräfte, kaum Kenntnis von ihrem Inhalt haben, ist ein Vorschlag, den ich unterbreiten möchte, dass Experten aus dem Landesmedienzentrum, der Schule und der Arbeitsstelle Jugendschutz.net gebeten werden – ich habe sie gebeten –, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Handlungsfähigkeit der Erwachsenen verbessert werden kann. Das ist vielleicht auch ein Bereich, wo wir bereit sein müssen, uns sprachfähig zu machen und etwas zu lernen.

(Beifall der Abg. Frau Grützmacher, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch ich habe keine fertigen Antworten, wahrscheinlich wir alle nicht. Wir sollten versuchen, gemeinsam Schritte zu gehen, die Gewalt vermeiden helfen, die Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeit stärken und die Lehrkräfte und Eltern in ihren verantwortungsvollen und sicher oft schwierigen Aufgaben unterstützen.

(Beifall der SPD und der FDP)

Es spricht Herr Abgeordneter Dr. Gölter.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bei aller Notwendigkeit, was bezüglich der Analyse der notwendigen Konsequenzen gesagt worden ist, will ich doch versuchen, eine Antwort zu geben, die mir persönlich sehr wichtig ist. Unterschiedliche Menschen wie Bernhard Vogel und Johannes Rau haben darauf hingewiesen, dass es nicht auf alle Fragen Antworten und nicht immer eine Erklärung gibt.

Es gibt aber ein Buch, das uns sehr vieles erklärt, das früher wichtiger als heute war, und das das Buch der

Bücher genannt wird. Dieses Buch der Bücher beginnt die Geschichte des Menschengeschlechts mit dem Brudermord. Es hat natürlich keinen Herrn Kain gegeben, der einen Herrn Abel erschlagen hat. Die Bibel sagt uns damit, dass es das Böse und die Versuchung in jedem Menschen gibt.

Das zum Teil erschrockene Mittelalter hat das in dieser Kurzform zum Ausdruck gebracht, homo homini lupus – „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ –, wobei das im Grunde eine Beleidigung des Wolfs darstellt. Im Zuge der Evolution ist der Wolf eines der sozial entwickeltsten Wesen, das die Schöpfung kennt. Keinem Wolf würde einfallen, was dem Menschen im Umgang mit dem anderen Menschen einfällt.

Ich wollte das sagen, weil das die tiefste Erklärung dafür ist, dass wir bei aller Analysen der einzelnen Familiensituationen und der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, wie das fürchterliche Wort lautet, nicht sicher sind.

Jeder trägt die Versuchung des Bösen in sich. Ohne diesen Satz wäre für mich weder Hitler noch Auschwitz, Ruanda und vieles andere überhaupt erträglich. Ich könnte damit nicht fertig werden. Das heißt natürlich nicht, dass wir nichts tun sollen.

Herr Ministerpräsident, ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg für die Gespräche, die jetzt geführt werden. Das, was ich gesagt habe, sagt mir: Alles, was denkbar ist, wird irgendwann von irgendwelchen Menschen gemacht, und sei es um des schnöden Mammons willen, bis hin zu dem Video, in dem Kinder so lange vergewaltigt werden, bis sie wirklich sterben. Auch das gibt es. Solche Dinge wird es immer wieder geben.

Deshalb hat das Stichwort „Globalisierung“ auch eine ganz andere Dimension. Wir haben immer gesagt, die Welt als Dorf. Das war die Formulierung der 70er- und der 80er-Jahre für die Globalisierung angesichts der Vernetzung. Wir werden an diese ganzen Dinge nicht herankommen, wenn es nicht weltweite Vereinbarungen zumindest in den Staaten gibt, die sich als entwickelt verstehen und die gegen diese Dinge vorgehen, und zwar nicht als Kavaliersdelikt, wenn nicht die Produktionen solcher Dinge in den Vereinigten Staaten, in Asien und in Europa – dort liegen die Sünder mitten unter uns – unter hohe Strafen gestellt werden. Wir dürfen uns nicht Illusionen hingeben bezüglich dessen, was zu leisten ist und geleistet werden kann.

Eine ganz kurze Bemerkung zu einem Aspekt, nämlich der Schule.

Meine Damen und Herren, diese Diskussion darf natürlich nicht dazu führen, dass wir uns in Illusionen hineinreden.

Herr Kollege Wiechmann, ich höre Ihnen gern zu. Das wissen Sie. Ich sage Ihnen das auch von Platz zu Platz. Der Satz, dass in der Schule nicht Fächer, sondern Menschen unterrichtet werden, führt uns natürlich auch mitten in die Illusion. Das Fach Mathematik ist unverzichtbar, und zwar in einer noch intensiveren Form, als es zurzeit betrieben wird. Die Schule lebt mit Unvollkommenheiten und in den Spannungsverhältnissen.

Junge Leute haben das Recht, dass sie in der Schule etwas lernen können und müssen und sich im Sinn ihres Lebens entfalten können.

Meine Damen und Herren, junge Leute, die in der Schule drei oder vier Sprachen lernen wollen, wenn es zeitlich einigermaßen hinhaut, haben doch einen Anspruch darauf. Manche schaffen viel weniger. Manchmal rennen wir hinter ganz bestimmten Entwicklungen her. Das gehört auch zur political correctness und zum guten Ton, dass Kinder jetzt Englisch lernen, die noch nicht einmal den primitivsten und einfachsten Zugang zur Muttersprache haben. So betreiben wir gelegentlich political correctness und laufen alle hinter ganz bestimmten Zielvorstellungen her, die wieder in Sackgassen führen. Das heißt, Schule ist vor dem Hintergrund nicht einfach und immer wieder auszutarieren.

(Glocke des Präsidenten)

Herr Präsident, gestatten Sie mir noch ein Wort.

Meine Damen und Herren, die Schule macht für die meisten viel zu viel. Das, was sie macht, macht sie nicht intensiv genug. Wir bräuchten eine Grundsatzdiskussion im Sinn der Abkehr von unserem enzyklopädischen Bildungsverständnis, was wirklich unverzichtbar ist, vor allen Dingen für diejenigen, die von dem Herrgott nicht mit einem hohen IQ gesegnet worden sind.

Die Schule braucht auch mehr Zeit, um nach vereinbarten Regeln zu leben – damit meine ich auch die Halbtagsschule, nicht nur die Ganztagsschule – und sie zu praktizieren, vor allen Dingen bei den Kindern – das sind 20 % bis 25 % der Kinder in unserer Gesellschaft –, die die Chance auf Erziehung zu Hause überhaupt nicht mehr haben. Das sind diejenigen, über die wir am intensivsten nachdenken und die uns das größte Kopfweh bereiten müssen.

„Vereinbarte Regeln“ heißt, Rahmen und Ordnung. Dann muss man auch über Sanktionen reden. Dann muss man auch darüber reden, was es bedeutet, ob nicht in Schulen auch von Zeit zu Zeit kontrolliert werden muss, dass das Mitbringen des Klappmessers bestraft wird. Das Leben ist gelegentlich relativ hart.

Ich glaube, wir sollten eine Diskussion führen, ruhig, ehrlich und nüchtern. Ich glaube wir sollten aber auch von der einen oder anderen Illusion der letzten Jahre Abstand nehmen. In Amerika ist nicht alles gut, aber auch nicht alles schlecht. Man sollte sich vielleicht einmal – ich beziehe mich auf einige Beiträge in der „FAZ“; mehr Hintergrund habe ich nicht – mit den Themen beschäftigen, wie amerikanische Schulen, vor allen Dingen in Problemgebieten, versuchen, mit dem Problem fertig zu werden. Da spielt Restriktion und Kontrolle auch eine ganz offensichtlich erfolgreiche und hilfreiche Rolle. Also keine Illusionen und vielleicht manchmal einmal ein bisschen mehr Unvoreingenommenheit auch gegenüber neuen Wegen.

(Beifall bei der CDU)

Für die SPD-Fraktion spricht Frau Abgeordnete Pepper.

Der Exkurs über das Böse im Menschen veranlasst mich vielleicht zu einem Satz, dass dem Bösen im Menschen immer ein Pendant gegenübersteht. Das Pendant des Bösen im Menschen ist die Hoffnung, der Mut und die Zuversicht, dass Veränderung möglich ist, dass die Zukunft besser werden kann, wir daran arbeiten können. Herr Dr. Gölter, in dem Sinn bin ich sehr froh, dass wir heute diese Diskussion geführt haben, Hoffnung als Prinzip und nicht das Böse im Menschen. Ich glaube, das ist ein wirkungsvoller Ansatz in der Politik.

(Beifall bei SPD und FDP)