Sie sind der Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der nach den Rassengesetzen des Naziregimes als sogenannter „Mischling“ beschrieben worden ist. Ihre Eltern stammen hier aus dieser Stadt.
Ihr Großvater hatte bis zu seiner Immigration im Jahr 1941 den Vorsitz der Jüdischen Gemeinde Mainz inne. Unter seinem Vorsitz wurde 1912 die neue Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße gebaut, die dann in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 zerstört
und in Brand gesetzt worden ist. Es kam auch zu zahlreichen Übergriffen auf jüdische Geschäfte und Menschen.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr wird in der Hindenburgstraße die Synagoge der jüdischen Gemeinde hier bei uns eine neue Heimat bieten. Deshalb freue ich mich sehr, dass ich die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz, Frau Stella Schindler-Siegreich, begrüßen kann. Herzlichen Dank für Ihr Ausharren, für Ihre Stärke, für Ihren Mut, das mit uns gemeinsam zu machen. Es war ein langer Weg hin zur neuen Synagoge, aber Sie können diesen Weg jetzt erfolgreich beenden.
Ich freue mich, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Herrn Dr. Peter Waldmann, begrüßen zu dürfen, und natürlich auch Herrn Jacques Delfeld, der für die Sinti und Roma bei uns ist.
Meine Damen und Herren, heute finden wir mehr Zeichen des respektvollen Miteinanders bei uns in Rheinland-Pfalz:
Die Zusammenarbeit der christlich-jüdischen Gesellschaften findet seit Jahren statt. Die älteste Vereinigung ist 46 Jahre.
Der Interregionale Parlamentarierrat hat im vergangenen Jahr empfohlen, eine „Route der Erinnerung“ in der Großregion Lothringen, Saarland, Rheinland-Pfalz und Luxemburg zu entwickeln. Wir wollen damit an den „Weg der Erinnerung und der Menschenrechte“ im Elsass anknüpfen. Wir wollen die Wallonen mit einbeziehen und unsere Gedenk- und Dokumentationsstätten Osthofen und Hinzert mit hinzunehmen.
Meine Damen und Herren, dass wir den Tag des Gedenkens heute in ganz Deutschland begehen, hat den Grund, dass Bundespräsident Roman Herzog am 27. Januar 1996 bereit war, diesen großen Schritt zu tun und zu sagen, wir müssen einen Tag bestimmen, an dem wir wirklich ganz deutlich machen, was dort geschehen ist.
Roman Herzog ist es auch zu verdanken – das ist jetzt gar nicht der Versuch des Aufrechnens –, dass wir heute wahrheitsgemäß sagen können, es war die Rote Armee, die Auschwitz befreit hat.
Lassen Sie mich Ihnen am Ende ein Zitat von Martin Niemöller mit auf den Weg geben, das auch beschreibt, wie wir uns heute verhalten können:
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich auch geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Auf dem Jüdischen Friedhof in Mainz, neben der Trauerhalle, steht ein großer Steinblock, ein Findling aus Granit. Die Jüdische Gemeinde – sie zählte im November 1945 etwas mehr als 20 Mitglieder – hat ihn 1948 aufgestellt. 1933 lebten in Mainz ungefähr 3.000 Juden. Wo sind sie geblieben? Die Inschrift auf dem Stein gibt Antwort. Zwei Zahlen:
Wo sind sie geblieben, die 3.000 Juden in Mainz? Ermordet, selbst in den Tod geflüchtet, günstigstenfalls emigriert. Wo sind sie geblieben? Wir müssen es genauer wissen, damit sich nicht wiederholt …
Lieber Herr Landtagspräsident, lieber Herr Ministerpräsident, liebe Mitglieder der Landesregierung, liebe Abgeordnete des Landtags Rheinland-Pfalz, liebe Damen und Herren, liebe Jugendliche! Heute, am 65. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, sind Sie, liebe Abgeordnete, nach Mainz gefahren: nicht zu einer der üblichen Gedenkfeiern in diesen Tagen, sondern zu einer Plenarsitzung des Landtags. Das ist das Besondere dieses Gedenkens, gibt ihm landespolitisch und zeichenhaft darüber hinaus eigenes Gewicht. Plenarsitzung zum Gedenken an die industriealisierte Massenvernichtung von 6 Millionen euro
Am 27. Januar 2000 begann der jüdische Auschwitzüberlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel seine Rede vor dem Deutschen Bundestag mit Worten, die ich mir zu eigen mache: „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“
Ihnen, lieber Herr Landtagspräsident, danke ich, dass Sie mich eingeladen und so freundlich mit guten Worten begrüßt haben, und Ihnen, liebe Abgeordnete, dass Sie gekommen sind, um zu bezeugen, dass Politik in Deutschland und der Welt seit Auschwitz – Symbol des Holocaust, der Schoah – nicht mehr an Auschwitz vorbeigehen kann, weil das, was damals geschah, im politischen Handeln heute wie künftig mitbedacht werden muss.
Liebe Damen und Herren, Gedenken verlangt Erinnerung. Schmerzliche Aufgabe, von der finstersten Zeit deutscher Geschichte zu sprechen, einer Schreckenszeit, die Sie selbst nicht erlebt haben, von Verbrechen, die zu beschreiben menschliche Worte versagen. Deshalb muss ich Ihnen jetzt einiges zumuten. Unser Gedenken verlangt das.
Stellen Sie sich vor, heute, am frühen Morgen, schellt es an Ihrer Haustür, Polizei! Sie sind verhaftet. – Sie haben nur wenig Zeit, sich fertig zu machen, einen Handkoffer zu packen. Mehr nicht! Dann geht es unter Bewachung zur Sammelstelle, Feldbergschule. Da sind schon andere. Weitere kommen dazu. Die Verhafteten sind Juden. Endloses Registrieren, bis auch der Letzte da ist. Dann geht es ab zum Todeszug.
Nein, nicht zum Bahnsteig für Personenverkehr, sondern zum Güterbahnhof. Sie sind aus der Sicht der NSIdeologie keine Menschen. Sie sind Stückgut und werden entsprechend abgefertigt. Von der SS, Gestapo, Polizei werden sie gezwungen, nicht Personenwagen, sondern meist Viehwagen zu besteigen mit nur kleinem Luft- und Sehschlitz.
Möglichst viele, Männer, Frauen, Kinder, Greise, Gesunde, Behinderte werden in die Wagen gestopft. Keine Toilette, nur ein Kübel für alle. Grauenvoll! Der Wagen wird von außen verriegelt, ist von innen nicht zu öffnen. Der Zug setzt sich in Bewegung, rattert zwei bis drei Tage in unbekannte Richtung. Was sich in den Wagen abgespielt hat an Weinen, Verzweiflung, Schreikrämpfen! Einige verlieren den Verstand, andere sterben unterwegs.
Endlich hält der Zug, empfangen von SS-Schergen und kläffenden, auf Gefangene abgerichteten Wachhunden. – Schneller! Schneller! – Zunächst werden Männer und Frauen getrennt – Ehepaare für immer! –, und dann kommt die Selektion. Ein flüchtiger Blick des SSOffiziers, dann nur ein Wink. – Die einen kommen zur Zwangsarbeit ins Lager, die anderen, die weit größere Zahl, gleich ins Gas. Sie bekommen deshalb auch keine Nummer eingebrannt. – Unnötiger Aufwand! – Sie müssen nur das einzig Verwertbare, ihre Kleider, ausziehen. Dann geht es in die als Duschraum getarnte Gaskammer.
Die Tür wird geschlossen. Das tödliche Gas strömt ein: Zyklon B, hergestellt von DEGESCH, der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung. Der grauenvolle Todeskampf beginnt. Ins Krematorium gebracht, wird ihre Asche durch den Schornstein gejagt. – Endstation der Reise in den Tod! – Der nächste Transport steht schon auf der Rampe.
Dichterinnen und Dichter haben versucht, das Unfassbare in Worte zu fassen, wie etwa Nelly Sachs, überschrieben mit der Zeile „In den Wohnungen des Todes – meinen toten Brüdern und Schwestern“, lesen wir den Aufschrei ihres Entsetzens:
„Oh die Schornsteine auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch durch die Luft (…) Oh ihr Schornsteine, oh ihr Finger, und Israels Leib im Rauch durch die Luft.“
Elie Wiesel sagte dazu: „In Auschwitz ist nicht nur der Mensch, sondern auch die Idee des Menschen gestorben. In Auschwitz hat die Welt ihr Herz verbrannt.“
Am 28. September 2005 stehe ich an der JAMA – übersetzt „Grube“ –, nahe dem ehemaligen jüdischen Ghetto in Minsk, Belarus. Hier fanden Massenerschießungen statt. Eine israelische Künstlerin hat in erschütternder Weise nachgebildet, was dort von deutschen Besatzern geschah. Lebensgroße Gestalten in Bronze: Männer, Frauen, Kinder. – Im Gänsemarsch hintereinander gehen sie nackt vom oberen Rand in die Grube hinunter. Eine Mutter hat ihr Kind auf dem Arm, eine andere hält ihr Kind an der Hand. Es schaut zurück, nicht ahnend, was auf es selbst, die Eltern, die Menschenkette in den nächsten Minuten zukommt. Alle werden im Knattern der Maschinengewehre ermordet, nur weil sie Juden sind.
Auch nach Minsk deportierte deutsche Juden – etwa aus Düsseldorf – sind darunter. In einer Gedenkbaracke am Ghetto habe ich einen offenstehenden, mit Namen gekennzeichneten Handkoffer gesehen. – Er ist leer. Nur eine Stoffpuppe liegt in ihm, zurückgelassen auf dem Weg in die JAMA.
„Wer kann noch an den Menschen glauben, wenn er im KZ das Ende der Menschlichkeit erfahren musste“, heißt es in einer Besprechung des Films „Ein Leben für ein Leben“ von Paul Schrader.
Und noch zu einem dritten Ort der Judenvernichtung führe ich Sie, nämlich nach Babij-Jar in der Ukraine. Ich verweise auf die derzeitige Ausstellung im Dom. Der Schriftsteller und Zeitzeuge Anatolij Kuszenow schildert in seinem autobiografischen Roman-Dokument, was in Babij-Jar geschah. Er bringt das Plakat der deutschen Besatzer im Wortlaut:
„Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung müssen sich am Montag, 29. September 1941, 8:00 Uhr morgens, an der Ecke Melnikowskaja- und Dochturowskaja-Straße einfinden. Ausweise, Geld und Wertsachen sind mitzubringen, ebenso warme Kleidung, Unterwäsche usw. Jeder Jude, der dieser Anordnung zuwiderhandelt und an anderem Ort angetroffen wird, wird erschossen.“ Und
dann wurden in zwei Tagen 33.771 Männer, Frauen, Kinder – die Zahl stammt von den Tätern – am oberen Rand der Schlucht aufgereiht, von gegenüber im Maschinengewehrfeuer dahingemäht. Tot, manche auch noch nicht, stürzen sie getroffen in die Schlucht. Dann die nächste Reihe usw., zwei Tage und Nächte. – Noch Monate hob und senkte sich die Erde über den darunterliegenden, verwesenden Leichen.
Liebe Damen und Herren, drei Beispiele, nur Momentaufnahmen! – Ich habe nicht von Birkenau, Majdanek, Treblinka, Sobibor, Belcek, nicht von den KZs mit Krematorien wie Buchenwald, Stutthof, Mauthausen, Ravensbrück, Flossenbürg, Dachau und vielen anderen gesprochen. Überall wurde gemordet. In den besetzten Gebieten spielte sich immer das Gleiche ab: Zuerst kam die Wehrmacht. Ihr folgten SS, SD, Gestapo, und die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma begann. Nur zu verständlich ist es, wenn der jüdische Lyriker und Überlebende Paul Celan in seinem Gedicht „Todesfuge“ schreibt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“
Auch nachdem der Krieg für Deutschland verloren war, wurde weiter gemordet bis Kriegsende. Noch am 27. Januar 1945, heute vor 65 Jahren, Stunden vor dem Eintreffen der Roten Armee, trifft die SS im Nebenlager von Auschwitz III Fürstengrube-Wesola ein und steckt den Häftlingskrankenbau an. Alle Kranken verbrennen, 239 Leichen werden geborgen.
Die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler schreit ihre Trauer über die Massenverbrechen der NSSchreckenszeit heraus: „Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär.“
Bundespräsident a. D. Roman Herzog sagte in Auschwitz am 27. Januar 1995: „Hier öffnen die Toten den Lebenden die Augen.“