Protokoll der Sitzung vom 17.06.2004

Darin wird nichts anderes gemacht, als sich in Lobhudelei über die angeblich so durchschlagenden Aktivitäten der Landesregierung oder die der Bundesregierung auszulassen. Es ist evident, dass all das, was Sie anführen, bislang nichts gefruchtet hat, sondern dass die Situation eher schlimmer wird. Diese Realität kann man nicht einfach ausblenden.

(Beifall bei FDP und CDU)

Man muss sicherlich eines feststellen: Die Probleme sind inzwischen so groß und haben so vielschichtige Ursachen, dass nicht allein die Politik gefordert ist. Es ist zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sich hier stellt, an deren Bewältigung neben der Politik auch die Familien mitwirken müssen und natürlich auch etwa die Wirtschaft in einem wichtigen Teilbereich, aber zum Beispiel auch die Gewerkschaften. Man denke nur an die Flexibilität bei der Gestaltung neuer Modelle für Ausbildungswege.

Wenn wir hier über das, was gestern unter dem Stichpunkt Ausbildungspakt zustande gebracht worden ist, sprechen, möchte ich in dem Kontext, in dem der Antrag der Union steht, vor allem einen Punkt erwähnen. Ich glaube, dieser Punkt ist in der Öffentlichkeit bislang viel zu wenig beachtet worden. Von der Wirtschaft ist ja nicht nur eine Absichtserklärung gegeben worden, was die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze betrifft, sondern von den Spitzenverbänden der Wirtschaft ist - wie ich finde - auch eine sehr wichtige Absichtserklärung gegeben worden, was die Schaffung von 25.000 zusätzlichen Praktikantenstellen angeht. Diese Praktikantenstellen sind für junge Leute gedacht, die von ihrer Qualifikation her noch nicht so weit sind, dass sie eine reguläre Berufsausbildung mit Erfolg absolvieren können. Sie sollen über ein solches Praktikum sozusagen für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden. Das ist ein Angebot für genau die Problemgruppe, die der vorliegende Antrag anspricht.

Die Politik muss natürlich nachziehen. Das tut sie in Schleswig-Holstein bislang nicht. In den „Lübecker Nachrichten“ vom 28. April ist zu lesen, dass nach einer Erklärung des Arbeitsamtes Lübeck in dessen Einzugsbereich in diesem Jahr nur jeder fünfte junge

Mensch mit einem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz hat. 80 % - das sind vier Fünftel - haben ihn nicht. Die Situation wird immer schwieriger, auch was die steigende Zahl von jungen Menschen ohne Schulabschluss angeht. Nach der Antwort, die mir die Landesregierung auf eine Kleine Anfrage hin vorgelegt hat, haben 2002 etwa 1.600 junge Menschen die Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien ohne Abschluss verlassen, wovon allein 1.244 auf den Bereich der Hauptschulen entfallen. Wenn das Jahr für Jahr unsere Situation ist, kann man nur sagen, dass wirklich noch viel getan werden muss. Keine Schulart wird von der Landesregierung in SchleswigHolstein so schlecht behandelt wie gerade die Hauptschulen. Sie haben das selbst eingeräumt.

(Beifall bei FDP und CDU)

Wenn man sich am bundesweiten Mittel der Stundentafeln orientiert, ergibt sich, Frau Erdsiek-Rave, dass im Hauptschulbereich in Schleswig-Holstein 342 Lehrerstellen fehlen. Rot-Grün praktiziert damit nichts anderes als Bildungsverweigerung zulasten der Hauptschüler. Das ist die Realität in diesem Land.

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich will Ihnen zum Schluss ganz kurz die Situation in einer solchen Hauptschulklasse schildern. Das ist das Ergebnis eines Schulbesuches: In einer achten Klasse sind 22 Schüler aus zehn Herkunftsländern. Bei sechs dieser Schüler gab es einen offiziell anerkannten sonderpädagogischen Förderbedarf, in drei Fällen wegen Legasthenie, in einem Fall wegen ADHS - Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. In vielen Elternhäusern wird kaum oder gar nicht Deutsch gesprochen. Die Konzentrations- und Merkfähigkeit ist vielfach sehr gering ausgeprägt. Von der vierten oder fünften Stunde an ist deshalb normaler Unterricht kaum möglich.

Jedem muss klar sein, dass einer solchen Klasse nur eines hilft, nämlich ein auf diese Schülerklientel zugeschnittenes, spezielles, sie förderndes pädagogisches Angebot. Alles andere ist eigentlich sekundär. Das, was ich eben gesagt habe, muss zentral im Mittelpunkt stehen.

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Birk das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 6-Punkte-Programm der CDU - 6-Punkte-Programm, das ist ein stolzer Name - trägt einerseits Eulen, ande

(Angelika Birk)

rerseits aber auch schwarze Raben nach Athen. Immer wieder machen Sie von der CDU dieselben Vorschlägen zur Verbesserung der Hauptschulsituation. Wir haben uns in dieser Legislaturperiode im Bildungsausschuss - bei Anhörungen und dergleichen - mehrfach mit Ihren Vorschlägen auseinander gesetzt. Die meisten dieser Vorschläge sind schon, bevor Sie sie formuliert haben, von der Landesregierung aufgegriffen worden und sie werden glücklicherweise von den Schulen vor Ort zunehmend und engagiert umgesetzt. Es gibt sehr viele konkrete Beispiele für eine Zusammenarbeit von Betrieben und Schulen. Wir haben Partnerschaftsmodelle. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die in die Betriebe gehen und sich dort informieren. Ebenso gibt es Betriebe, die in die Schulen kommen. Beim Ausbau des Ganztagsangebots haben wir eine Priorität gerade auch auf die Hauptschulen gesetzt. Wir haben gesagt, dass Schulen, die sich in Problemregionen befinden, besonders ermutigt werden müssen, dieses Angebot wahrzunehmen. Wir haben auch bei der Thematik Jugendhilfe und Schulen immer wieder an die Hauptschulen gedacht.

Einige der heute hier erneut vorgelegten Vorschläge der CDU - so der Vorschlag betreffend neue Lehrpläne auf der Grundlage neuer Bildungsstandards mit zentralen Abschlussprüfungen - tragen zwar, um im Bild zu bleiben, zu lautem Gekrächze bei, sind aber wie schwarze Raben Totengräber einer Schulreform.

(Widerspruch bei CDU und FDP)

So vermischen und verwechseln Sie von der CDU immer wieder die Schaffung neuer Bildungsstandards und ihre Sicherung durch international anerkannte Testverfahren zur Qualität der Schulen mit Ihrem Lieblingsthema, der Einführung von zentralistischen, landesweit gleichen Schülerabschlussprüfungen. Wir wissen, es gibt inzwischen Initiativen von den Hauptschulen, Prüfungen zum Abschluss der Hauptschulzeit zu gestalten. Dem hat sich hier auch niemand verschlossen. Das ist inzwischen auf dem Weg. Was Sie aber darüber hinaus fordern, ist wieder typisch für Sie: Es ist etwas, was bürokratisch von oben kommt und was die Schulen in einen neuen Zugzwang bringt, anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, Ressourcen und Qualität von unten zu entwickeln.

Wir wollen stattdessen mehr Autonomie. Wir wollen moderne Evaluationsverfahren einerseits, angelehnt an internationale Test beziehungsweise Teilnahme an diesen. Andererseits wollen wir regionale Schulnetzwerke zur gegenseitigen kritischen Begutachtung sowie eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen. In diesem Zusammenhang soll hier auch der so genannte

Schul-TÜV noch einmal erwähnt werden. Dies alles halten wir für sinnvoller als das, was Sie in Ihrem 6-Punkte-Programm vorschlagen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sind - wie gesagt - zum Teil alte Kamellen; der andere Teil ist unbrauchbar.

Frau Eisenberg, Sie haben sich zu den Ursachen geäußert und gesagt, wir müssten an die Ursachen herangehen. Was fällt Ihnen als Ursache ein? - Die Familie! Ich muss sagen, das macht mich richtig wütend. Sie schicken - ich sage es einmal im Klartext - die allein erziehende Mutter in den Wettbewerb mit der Werbekampagne von McDonald’s und von Milky Way. Die allein erziehende Mutter soll ihrem Dreijährigen im Supermarkt beibringen, dass er an die Sachen, die in den niedrigen Regalen liegen, an die Süßigkeiten, an die schlechten Ernährungsprodukte nicht herandarf. Sie lassen die allein erziehende Mutter in Konkurrenz zu allen möglichen privaten Fernsehsendern treten. Sie sagen: Die Mutter soll es richten, dass das Kind nur die guten Sendungen sieht.

(Widerspruch bei der CDU)

Sie schicken die allein erziehende Mutter in den Kommunen vor Ort ins Nichts, indem Sie bei den Kindertagesstätten sparen. Das ist Ihr Beitrag nach der PISA-Diskussion. Dann aber reden Sie hier von der Familie. Das ist eine Unverschämtheit!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD - Glocke des Präsidenten)

Frau Abgeordnete Birk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klug?

Nein, ich möchte meinen Beitrag zu Ende formulieren.

Sie brauchen das nicht zu begründen.

Wir können gern noch in einen Dialog eintreten. Wir haben für dieses Thema ja ein bisschen Zeit eingeplant. - An dieser Stelle wird eine verlogene Debatte geführt, wenn immer wieder auf die Familie abgestellt wird. Letztlich geht es um die Mütter, denn die Väter kümmern sich ja leider noch viel zu wenig um die Kinder; es geht faktisch um die Mütter. Diese schicken Sie, wenn es um die Ursachenbekämpfung

(Angelika Birk)

geht, dann als Sündenbock nach vorn. Das finde ich einfach nur lächerlich.

(Widerspruch bei der CDU)

- Ja, das trifft Sie. Im Gegensatz zu dem, was Sie uns immer unterstellen, sind wir Grünen an der Seite der Familien und an der Seite der Mütter, aber nicht mit einer solchen Art von Schuldzuweisung, wie wir sie hier gerade gehört haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Meine Zeit geht zu Ende.

(Veronika Kolb [FDP]: Das ist auch gut so! - Weitere Zurufe von CDU und FDP)

- Ich warte ein bisschen, damit ich nicht so schreien muss.

(Veronika Kolb [FDP]: Sie schreien schon seit geraumer Zeit!)

Es gab in den letzten Tagen Berichte, dass gerade in Schleswig-Holstein die Zahl der Teenieschwangerschaften zugenommen hat.

(Glocke des Präsidenten)

Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Schluss.

(Unruhe)

Ich muss gestehen, ich komme nicht zu meinem Redebeitrag, weil ich immer gegen diesen Lärmpegel angehen muss.

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Ich komme jetzt zum Schluss. - Auch dieses Thema hat natürlich mit dem Thema „Keine Lehrstellen, keine Perspektiven“ zu tun. Insofern gebe ich Ihnen Recht: Die Schule muss natürlich auf das weitere Leben, auf Beruf und Familie vorbereiten. Wir können all diejenigen unterstützen, die dies in den Hauptschulen tun. Allein mit einer Verbesserung der Situation an den Hauptschulen werden wir das Ziel aber nicht erreichen. Die Hauptschule muss aus dem Getto heraus. An dieses Thema wagen Sie sich aber gar nicht heran.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Spoorendonk das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines möchte ich meinem Beitrag in dieser von der CDU angestoßenen Debatte über die Ausbildungsfähigkeit und Berufsorientierung unserer Jugendlichen voranstellen. Bei aller berechtigten Kritik dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, das Problem der fehlenden Ausbildungsplätze liege ausschließlich in schulischen oder menschlichen Defiziten der Ausbildungssuchenden begründet.

(Beifall bei SSW und SPD)