Protokoll der Sitzung vom 26.08.2004

Im neuen Schuljahr sieht die Situation ähnlich aus. Der Bedarf für den Aufbau der „Verlässlichen Grundschule“ in kreisfreien Städten ist so groß, dass von den 50 Stellen, von denen Frau Erdsiek-Rave in ihrer Pressemitteilung vom 12. August gesprochen hat, kaum etwas an der Hauptschule ankommt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass dort etwas ankommen wird. Es wäre schön, wenn Sie uns vielleicht die konkreten Zahlen zum Hauptschulbereich für dieses Schuljahr im Ausschuss nachlieferten.

Auch in diesem Schuljahr steigt die Zahl der Hauptschüler um 1,3 %. Da muss man sich fragen: Wie will die Landesregierung all die Maßnahmen, die sie zugunsten der Hauptschulen angekündigt hat und die zum Teil durchaus vernünftig sind, personell unterfüttern, wenn die Schulen nicht vernünftig mit Lehrkräften ausgestattet werden?

Mit Blick auf die Besetzung verfügbarer Stellen für Lehrer und Lehramtsanwärter - ich spreche ausdrücklich von den verfügbaren, im Haushalt ausgewiesenen Stellen - entsteht die Frage: Erhalten die Schulen tatsächlich immer das Personal, das sie wirklich besonders benötigen? Dies betrifft zum einen, und zwar quer über alle Schularten, die Lehrerversorgung in den Mangelfächern. Alle Informationen, die wir dort aus den Schulen erhalten und die in der Öffentlichkeit, beispielsweise auch in der Presse, diskutiert werden, zeigen da eher ein kritisches Bild. Unsere Schulen, so sage ich, brauchen einen Einstellungskorridor speziell für Lehrkräfte im Bereich der Mangelfächer. Sie brauchen ihn, um in Zukunft in aller Breite der Fächer ein qualitativ hochwertiges Unterrichtsangebot sicherstellen zu können. Nach meiner festen Überzeugung müssen wir die Einstellungspolitik darauf stärker ausrichten.

Ich teile auch die Auffassung des Schulleiterverbandes, dass in der Kapazitätsverordnung, die den Zugang zu Stellen im Vorbereitungsdienst regelt, der konkrete Bedarf der jeweiligen Schule in Zukunft stärker als bisher berücksichtigt werden muss.

(Beifall bei FDP und CDU)

Der Schulleiterverband hat das in einem Schreiben vom 7. Mai gegenüber dem Ministerium noch einmal angemahnt. Er hat darauf hingewiesen, dass insbesondere im Bereich der Grund- und Hauptschulen ein Bedarf an den Schulen regulär zuzuteilenden Sonderpädagogen besteht. Zumindest jene Schulen, die sich an sozialen und pädagogischen Brennpunkten befinden, brauchen dauerhaft Speziallehrkräfte, etwa Sonderpädagogen mit den Fachrichtungen Förder

(Dr. Ekkehard Klug)

schwerpunkt „emotionale und soziale Entwicklung“ oder Pädagogik für Verhaltensgestörte. Dieser Bereich ist mit besonders massiven Problemen belastet. Die Schulen, die in ihrem Umfeld diese Belastung haben, brauchen dauerhaft eine personelle Verstärkung durch solche Speziallehrkräfte und nicht nur eine partielle Unterstützung durch herumreisende Sonderpädagogen.

Für ein gutes Unterrichtsangebot zu sorgen bleibt die zentrale Aufgabe der Schulpolitik. Die Politik ist dabei freilich auch auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen. Eltern können ihre eigene Verantwortung für Erziehung und Bildung ihrer Kinder nicht vollständig auf die Schule abwälzen.

Eine in diesem Jahr von der ARD und dem ZDF veröffentlichte Studie nennt eine bemerkenswerte und, wie ich finde, eigentlich erschreckende Zahl. Etwa 39 % der 6- bis 13jährigen Kinder verfügen heute über ein eigenes Fernsehgerät. 1990, also vor 14 Jahren, waren es nach einer damaligen Erhebung durchschnittlich nur 19 %. Das Fernsehen mag ja, in Maßen und in vernünftiger Auswahl konsumiert, der Bildung durchaus förderlich sein. Aber der eigene Fernsehapparat im Kinderzimmer ist doch eher problematisch.

Ich könnte das jetzt noch mit vielen Beispielen auch aus Schulen unterlegen.

(Zuruf von der SPD: Was haben Sie gegen das Fernsehen?)

- Dies ist ein Appell, den wir als Politiker in der Öffentlichkeit auch an die Adresse der Eltern verstärkt richten müssen. Denn ohne die Unterstützung aus der Gesellschaft und ohne das Mitdenken derjenigen, die heute ihren Kindern, ohne lange darüber nachzudenken, Fernsehapparate in die Kinderzimmer stellen, werden wir viele Probleme nicht in den Griff bekommen. Das ist meine feste Überzeugung.

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich komme zum Schluss. Es gibt erfreulicherweise viele Beispiele dafür, dass an den Schulen in unserem Land auch gute Arbeit geleistet wird. Am Eutiner Johann-Heinrich-Voss-Gymnasium wurde gerade demonstriert, dass die Schüler der 5. Klasse Mathematikaufgaben der finnischen Abiturprüfung fast vollständig und erfolgreich gelöst haben. 23 von 26 Schülern haben es gepackt. So etwas sind doch große Beispiele dafür, dass es auch gut gehen kann. Wir brauchen Konzepte für unsere Schulen, die ganz gezielt das Unterrichtsangebot dort verstärken, wo wir heute erkennbare Schwächen haben. Zum Beispiel brauchen wir - das ist meine feste Überzeugung - eine

Vorverlegung des Unterrichtsangebots in den naturwissenschaftlichen Fächern Physik und Chemie schon vor die 7. beziehungsweise 8. Jahrgangsstufe. In den weiterführenden Schulen muss man diese Fächer früher beginnen.

Das Fördegymnasium in Flensburg macht mit einem Unterrichtsprojekt, bei dem Physik und Chemie schon ab Klasse 6 unterrichtet werden, ein sehr gutes Versuchskonzept. Solche Dinge gilt es zu unterstützen. Dann werden wir über die Inhalte und über ein gutes didaktisches Konzept unsere Schulen mit einem guten pädagogischen Angebot weiterhin unterstützen können.

(Beifall bei FDP und CDU)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich der Frau Abgeordneten Angelika Birk das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es leider nicht lassen, ein kleines Stichwort dem letzten Thema von Herrn Klug hinzuzufügen.

Wenn die großen Supermärkte alle ihre Süßwaren in Augenhöhe von Dreijährigen platzieren und wir dann einen Appell an die Mütter loslassen, ihre Kinder doch bitte zu vernünftiger Nahrungsaufnahme zu erziehen, dann finde ich das scheinheilig. Was soll eine einzelne Mutter gegen die gesamte Süßwarenindustrie kämpfen?

So ähnlich verhält es sich mit all diesen frommen Appellen zum Thema Fernsehen. Ihre Partei ist mir bisher nicht dadurch aufgefallen, dass sie in den entsprechenden Aufsichtsräten oder ähnlichen Institutionen eine Debatte darüber losgetreten hätte, was Reality-Shows im Fernsehen zu tun haben und was man gegen Werbestrategien tun kann, die insbesondere auf Kinder, und zwar sogar auf Kindergartenkinder, abzielen.

Ich finde Ihren Anstoß, dass man die Eltern stärken soll, sehr ehrenwert, aber man sollte auch in den Gremien politische Vorstöße unternehmen, in denen man tatsächlich Einfluss hat. So weit zum Stichwort Medienpolitik.

Ich komme zur Unterrichtsversorgung zurück. Trotz ansteigender Schülerzahlen hat sich die Unterrichtsversorgung im vergangenen Schuljahr deutlich verbessert und wurde durch die Verlässliche Grundschule und mehr Ganztagsangebote sogar ausgeweitet. Bei aller Kritik konnte auch die Opposition nicht umhin,

(Angelika Birk)

das festzustellen. Dies ist möglich durch ein Plus von 200 Lehrerstellen und durch die Maßnahmen des Programms „Jede Stunde zählt“ gegen den Unterrichtsausfall. Wer das selber nachprüfen möchte, kann sich ab diesem Herbst durch monatliche aktuelle Daten im Internet davon überzeugen.

All dies hatte das Parlament und insbesondere auch meine Fraktion gefordert. Insofern lautet mein erstes Fazit nach Ihrem Bericht, Frau Erdsiek-Rave: Die Unterrichtsversorgung hatten wir von der jetzigen Opposition sehr in den roten Zahlen geerbt, jetzt befinden wir uns fast im grünen Bereich.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei CDU und FDP)

Vor diesem Hintergrund ist mir allerdings unverständlich, dass einige Schulverbände, wie insbesondere der Philologenverband demnächst im September, ihre landesweiten Jahreshauptversammlungen mit Fachprogramm immer noch an einem Schulvormittag stattfinden lassen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Das ist kein Beitrag der Schulverbände zum Programm „Jede Stunde zählt“. Ich will einmal dahingestellt sein lassen, welche Verbände noch dabei sind. Mir ist es anhand dieser Einladung aufgefallen.

(Jost de Jager [CDU]: GEW!)

Gleichzeitig kämpfen Lehrerinnen und Lehrer mancherorts immer noch verzweifelt um den Erhalt von Projekttagen oder Exkursionen in Naturschutzgebiete oder beispielsweise zu Ausstellungen wie der Phänomenta, weil sich leider immer noch nicht herumgesprochen hat, dass Unterricht auch anders aussehen kann als die klassische 45-Minuten-Stunde. Aber möglich ist es. Es wird nicht verhindert durch „Jede Stunde zählt“, dieses Programm muss nur sinnvoll und autonom an den Schulen angewandt werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Ulf von Hielmc- rone [SPD])

Nach wie vor sind Klassen in Schleswig-Holstein im Durchschnitt kleiner als in anderen Bundesländern und nach wie vor gibt es weit mehr Lehrernachwuchs, als eingestellt werden kann. Dass wir nicht genügend einstellen können, bedauern wir, aber die Tatsache, dass nach wie vor sowohl Lehrerinnen und Lehrer, die hier ausgebildet sind, als auch aus anderen Bundesländern sich massenweise bewerben, ist doch zu begrüßen. Die Kassandrarufe der Opposition laufen in diesem Punkt ins Leere.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Es ist richtig - da folge ich der FDP -: Wir müssen uns eingehend mit den Mangelfächern beschäftigen. Auch wir hatten einen Korridor für Quereinsteiger gefordert. Es ist Ausschussarbeit zu sehen, wie weit wir damit sind.

Wie sieht es nun mit der Verteilung der pädagogischen Kapazitäten in den unterschiedlichen Jahrgängen und Schularten aus? - Am besten ist die Unterrichtsversorgung immer noch in der gymnasialen Oberstufe, allerdings ist deutlich eine erste Umsteuerung der pädagogischen Ressourcen zugunsten der Grundschule zu erkennen. Diesen Weg gilt es weiter zu gehen und zu beschleunigen.

Ein genaues Hingucken erfordert die Situation im förderpädagogischen Bereich. Erfreulich: In den letzten Jahren hat sich der Anteil der Kinder, die integrativ beschult werden, verdoppelt. Entsprechend haben die Förderschulen ihre Klassen verringert. Andererseits gibt es immer mehr Kinder mit förderpädagogischem Bedarf, - auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen - und Kritik an zu wenig Ressourcen für gelingende Integration hören wir auch immer mal wieder.

Hier scheint es sinnvoll, genau hinzugucken. Herr Dr. Klug, wenn Sie sagen, es wäre richtig, dass wir den Sachverstand von Förderschullehrerinnen und -lehrern an Grundschulen in sozialen Brennpunkten brauchen, wäre auch einmal darüber nachzudenken, ob eine Grundschullehrerinstelle mit einer Pädagogin, die dieses Fach im Schwerpunkt studiert hat, besetzt werden soll. Da müssen wir auch einmal quer überlegen und nicht immer nur zusätzlich fordern, sondern überlegen, wie man die Ressourcen bündeln kann.

Ich gebe zu, dass dies an manchen Orten noch zu wenig geschieht. Herumreisende Lehrer - wie immer ein wenig abschätzig gesagt wird - sind natürlich in bestimmten Konstellationen nicht die Lösung. Dass wir aber ein integratives Konzept haben und Lehrerinnen und Lehrer herumreisen statt Schülerinnen und Schüler, halte ich für den richtigen Weg.

Die schlechte Versorgung von Hauptschulen und Berufsschulen lässt sich nicht, wie die Opposition meint, allein durch die Verteilung von Lehrerstellen lösen. Sie ist ein Indiz dafür, dass unser ständisches Schulsystem in Deutschland und Schleswig-Holstein diese Schulen benachteiligt.

Dagegen setzen wir bekanntermaßen unser Programm: neun gemeinsame Schuljahre für alle Kinder. Dies würde sich pädagogisch und - da widersprechen

(Angelika Birk)

wir dem Landesrechnungshof - auch finanziell auszahlen. Wir freuen uns auf eine eingehende Diskussion der Landesrechnungshofzahlen. Ich glaube, es gibt eine ganze Menge von Annahmen, wo man hinterfragen muss, ob der Landesrechnungshof nicht einfach nur traditionelle Überlegungen fortschreibt, anstatt tatsächlich wie die Ministerin über kreative Schulentwicklungsplanung nachzudenken.

Frau Erdsiek-Rave, ich freue mich sehr, dass Sie das Stichwort Schulentwicklungsplanung aufgegriffen haben. Denn das ist doch die Chance. Wir haben jetzt den Generationswechsel in den Lehrerkollegien. Wir haben finanzielle Sonderanstrengungen für Schulsanierung und Neubau von Stadt, Land und Kommune. Das muss man natürlich nutzen, indem man zukunftsweisende Strukturen schafft. Da sind die Kommunen gefordert, aber da sind natürlich auch wir auf Landesebene gefordert. Wenn wir jetzt wieder Hauptschulstrukturen an Standorten festschreiben, wo absehbar ist, dass sie in den nächsten Jahren auslaufen werden oder nur mit kleinsten Klassen weiterzuführen sind, dann ist das eine Sackgasse. Da tun wir auch den Schülerinnen und Schülern an diesen Schulen keinen Gefallen.

(Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Um mich nicht misszuverstehen: Jede Hauptschülerin und jeder Hauptschüler hat das Recht auf optimale Förderung, aber wenn man eine Schulentwicklungsplanung macht, sollte man Sackgassen in der Schullaufbahn nicht weiter fortschreiben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Auch ich möchte an dieser Stelle - ähnlich wie der Kollege Höppner - an den interessanten Interviewbeitrag in der „Welt“ zum Thema Grundschule erinnern und deutlich machen: Auch wir wollen die Grundschule der kurzen Wege, auch wir können uns vorstellen, dass an solchen Grundschulstandorten, an denen sich nur wenige Schülerinnen und Schüler befinden, tatsächlich klassenübergreifend unterrichtet wird, also das berühmte Modell der Dorfschule, in der sich unterschiedliche Altersgruppen in einer Lerngruppe befinden. Wir glauben, dass man, wenn man beispielsweise die Schulleitung mehrerer solcher kleinen Dorfschulen dorfübergreifend organisiert, wenn man die Schulverwaltung dorfübergreifend organisiert, wenn man zum Beispiel auch den Vertretungsunterricht im Krankheitsfall dorfübergreifend organisiert, dadurch eine ganze Menge Ressourcen gewinnen kann.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)