Protokoll der Sitzung vom 09.10.2002

Antwort der Landesregierung Drucksache 15/2139

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Zur Beantwortung der Großen Anfrage erteile ich zunächst der zuständigen Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie das Wort. Frau Lütkes, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir legen Ihnen heute die Beantwortung der Großen Anfrage zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein vor, eine Fülle von Daten und Materialien zu den verschiedenen Problemlagen und besonders belastenden Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen.

Wir gehen davon aus, dass in der Beantwortung der Großen Anfrage deutlich wird, dass sich Jugendpolitik den sozialen Ungleichheiten und den schwierigen Lebenslagen widmen und stellen muss. Sie muss die Ursachen identifizieren und entsprechende strukturelle Maßnahmen zur Veränderung ergreifen. Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat dies in den letzten Jahren durch vielfältige richtungweisende Programme, Projekte, Beratungs- und Hilfeangebote auf den Weg gebracht.

Leitlinie unseres Handelns war dabei unter anderem die UN-Kinderrechtskonvention, die beispielhaft über Kinderrechte Normen festgeschrieben hat. Ich freue mich, dass in der Großen Anfrage vonseiten der Union auch hierzu Fragen formuliert worden sind. Bedauerlich ist allerdings, dass sich auf Bundesebene gerade die unionsgeführten Landesregierungen dagegen aussprechen, ihre Vorbehalte gegen die UNKinderrechtskonvention zurückzunehmen. SchleswigHolstein hat eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, über die bisher nicht entschieden ist, weil

die unionsgeführten Länder nicht bereit sind, im Bundesrat positiv hierzu Stellung zu nehmen.

Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr Interesse an der Lebenssituation der Kinder ein echtes ist und auch darin zum Ausdruck käme, dass Sie die Initiative der Landesregierung im Bundesrat dadurch unterstützen, dass Sie im Rahmen Ihrer sicher vorhandenen Einflussmöglichkeiten darauf hinwirken, dass im Bundesrat eine gemeinsame Stellungnahme erarbeitet wird und auch, was den Bundestag und die unterschiedlich befassten Bundesministerien angeht, deutlich gesagt wird, dass die Vorbehalte zurücknehmbar sind.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Ich möchte einige wenige Beispiele dafür anführen, wie die Kinderrechtskonvention in den Alltag hineinwirkt. Ein erstes Beispiel: Artikel 12 der UNKonvention verlangt, die Meinung des Kindes angemessen zu berücksichtigen. Über die bundesgesetzlichen Regelungen hinaus haben wir in SchleswigHolstein die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen durch den Ausbau von Beteiligungsrechten verbessert. Ich verweise auf den Ihnen gut bekannten § 47 f der schleswig-holsteinischen Gemeindeordnung.

Ein anderes Beispiel: Kinder und Jugendliche müssen auf die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten vorbereitet werden; sie müssen sie üben. Im Zusammenhang mit der Fachhochschule Nordost-Niedersachsen und dem Deutschen Jugendverband Nordschleswig haben wir die Projekte „Planen und Fantasie“ und „Fit für Mitbestimmung“ entwickelt. Sie kennen darüber hinaus alle die Demokratiekampagne und wissen, welche Vielzahl von Einzelbeteiligungsprojekten wir seit 1996 gefördert haben.

Ein drittes Beispiel: In Umsetzung oder Ausformung des Artikels 39 der Konvention haben wir das Zeugenbegleitprogramm entwickelt, das den Schutz von Kindern und Jugendlichen stärkt, die Opfer von sexuellen Gewalttaten geworden sind. Das Wissen über den Prozessverlauf ist wesentlich, um einen Prozess durchzustehen. Bei Bedarf stellen wir die Begleitung während einer Hauptverhandlung sicher. Mit diesem Begleitprogramm können die Belastungen und Ängste im Strafverfahren zwar nicht abgebaut, aber abgemildert werden.

Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext ist unsere modellhafte Förderung des betreuten Umgangs. Im Gefolge der Kindschaftsrechtsreform haben wir vom Jugendministerium ein Modellversuch mit dem Deutschen Kinderschutzbund gefördert, um den be

(Ministerin Anne Lütkes)

treuten Umgang im Sinne der Rechte der Kinder wirklich lebendig zu gestalten.

Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass unsere Förderrichtlinien für die Jugendhilfe verlangen, die besonderen Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen ebenso wie die von Jungen und jungen Männern zu berücksichtigen. Dabei ist die Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen an der Gesellschaft zu berücksichtigen. Es geht darum, ihre Möglichkeiten auszubauen und strukturelle Benachteiligungen abzubauen beziehungsweise ihnen wenigstens entgegenzuwirken. Die Auswertung der Zahlen über die Teilnahme an geförderten koedokativen Projekten belegt es: Beide Geschlechter partizipieren in Schleswig-Holstein zu gleichen Teilen.

Der Bericht fragt nach der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen. Wir machen deutlich, dass immer mehr Kinder von allein erziehenden Elternteilen erzogen werden. 45.000 Kinder in Schleswig-Holstein leben von Sozialhilfe. Das bedeutet, dass Kinderarmut zu bekämpfen ist und dass die Grundsicherung von Familien entscheidend verbessert werden muss. Die Reform des Ehegattensplittings - erlauben Sie mir diese bundespolitische Anmerkung - könnte sicher Mittel freisetzen, um die Lebens- und Betreuungssituation von Kindern nachhaltig zu verbessern.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Da die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich abschließend nur noch Folgendes sagen. Ich hoffe, dass das Ihnen zur Verfügung gestellte Material in der Lage ist, Ihre und unsere gemeinsame Arbeit für die Kinder und Jugendlichen in Schleswig-Holstein zu stärken und voranzubringen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Ich eröffne die Aussprache. Für die CDU-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Torsten Geerdts das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich im Namen der CDU-Landtagsfraktion für die Beantwortung unserer Großen Anfrage bedanken. Ich glaube, wir bekommen mit der Antwort wirklich umfassendes Material geliefert, um auch in anderen Bereichen eine qualifizierte Diskussion im Lande führen zu können, sowohl im Bereich der Betreuung als auch im Bereich der Bildungspolitik; denn die demographische Entwick

lung, die uns dargestellt wird, reicht wirklich in alle Bereiche der Politik hinein. Ich halte es für wichtig, dass wir in der Jugendpolitik nicht immer nur darauf angewiesen sind, auf die Shell-Studie zurückzugreifen. Wir sollten vielmehr auch sagen können, dass wir die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen im Lande Schleswig-Holstein wirklich ernsthaft hinterfragt haben und darüber auch in den Ausschüssen diskutieren. Wir waren mit dem Sozialausschuss in der vergangenen Woche in Oslo. Es ist uns dargestellt worden, dass es dort ebenfalls eine große Jugendstudie gibt, wobei der Name „Heide - what?“ fiel, was uns ein bisschen irritiert hat.

(Heiterkeit - Beifall bei CDU und FDP)

Die Inhalte haben uns aber so begeistert, dass wir gesagt haben: Erstens führen wir das hier im Parlament mit ein. Zweitens wollen wir auch in den Ausschüssen vertiefen, was uns dort dargestellt worden ist. Wenn die Skandinavier in einem Bereich weiter sind als wir, sollten wir dies auch zugeben und sagen, dass wir Nachholbedarf haben.

(Beifall bei CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich freue mich, dass die Ministerin schon Zustimmung signalisiert hat.

Was wir in dem Papier vorfinden, ist eine Aufschlüsselung der demographischen Entwicklung im Land. Wir müssen aus der Sicht der Politik Rückschlüsse auf Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche, in Bezug auf das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch in Bezug auf Integrationserfolge für Aussiedler und ausländische Kinder und Jugendliche ziehen.

Wir müssen weiter zur Kenntnis nehmen, dass in den vergangenen 30 Jahren der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung in Schleswig-Holstein dramatisch gesunken ist, nämlich von 27,4 % auf unter 20 %. Das sagt natürlich auch etwas darüber aus, was auf die Gesellschaft insgesamt in Zukunft zukommen wird.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Ich darf darum bitten, dass es bei dieser Debatte eine vergleichbare Aufmerksamkeit wie bei der vorhergehenden Debatte gibt.

(Beifall bei CDU und SPD)

Der zweite wesentliche Punkt sind aus unserer Sicht der Umgang mit ausländischen Kindern und Jugendlichen und die Integrationserfolge. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in Schleswig-Holstein 6 % ausländische Kinder und Jugendliche leben. Im Bundesgebiet sind es demgegenüber 9 %. Das heißt, wir müssten beim Thema Integration eigentlich deutlich besser sein als andere Länder, weil wir weniger junge Menschen zu integrieren haben. Ich weiß nicht, ob wir dies wirklich schon leisten, wenn wir uns den Bereich des Beginns der Schulpflicht und damit des Eintritts in die Schule und den Bereich des Übergangs von der Schule in das Berufsleben anschauen. Dort gibt es erhebliche Defizite. Auch diese müssen aufgearbeitet werden.

Der dritte Punkt - er ist eben schon angesprochen worden - betrifft die Zahl der Alleinerziehenden. 1996 gab noch 101.000 allein erziehende Mütter mit Kindern. Jetzt sind es schon 113.000 Kinder, die allein erzogen werden. Das ist ein Anstieg von über 11 %. Es stellt sich natürlich die Frage, ob wir ein ausreichendes Betreuungsangebot für diesen Personenkreis haben. Über diesen Punkt sollten wir intensiv beraten.

Was die Nutzung des Erziehungsgeldes angeht, so gab es in den vergangenen Jahren einen Anstieg von 40 % auf über 54 %. Sogar die Zahl der Väter, die das Erziehungsgeld in Anspruch nehmen, konnte man positiv verkaufen. Dort gibt es einen Anstieg von 107 auf 344 Väter, wobei dieser Anstieg allerdings, wie man ehrlicherweise auch sagen sollte, auf einem sehr niedrigen Niveau erfolgt ist. Ich meine, hier ist nicht nur die Politik gefordert. Vielmehr sind verstärkt auch die Tarifvertragsparteien gefordert, die einmal dazu Stellung nehmen müssten, ob sie mit ihren Forderungen bei Tarifverhandlungen ausreichend die Lebenssituation von Frauen im Arbeitsleben berücksichtigen. Ich glaube, auch das wird deutlich.

(Beifall bei CDU und SPD)

Ich möchte gern, dass wir im Ausschuss die Diskussion über den Bereich der Heimunterbringung der Kinder und Jugendlichen vertiefen. Die Landesregierung stellt dar, dass es mit entsendenden Jugendämtern nach wie vor Probleme gibt. Das war auch in den vergangenen Jahren so. Wir hatten eigentlich gehofft, dass es mittlerweile Verbesserungen gibt, was die Kontrolle und die Heimaufsicht in diesem Bereich angeht. Ich denke, dies müssen wir hinterfragen.

Bedrückend ist die Zahl von 25.000 Personen unter 18 Jahren, die Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen. Kinder dürfen nicht automatisch zur Armut füh

ren. Ich glaube, auch darüber müssen wir diskutieren. Ich hoffe, dass das, was wir zu diesen Themen im Bundestagswahlkampf gesagt haben, nicht nur Wahlkampfgeplänkel war, sondern dass wir über diese Themen auch weiterhin diskutieren werden. Wir sollten also ganz klar sagen: 45.000 Kinder und Jugendliche im Bereich der Sozialhilfe bedeuten, dass wir hier eine Umsteuerung erreichen müssen.

(Beifall bei CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Eine abschließende Bemerkung. Die Verweildauer in der Sozialhilfe ist negativ zu bewerten. Sie ist in Schleswig-Holstein deutlich länger als in anderen Bundesländern. Sie beträgt in Schleswig-Holstein über 27 Monate, während sie im Bundesdurchschnitt bei 21 Monaten liegt.

Dies waren einige Punkte, die ich aus der Beantwortung der Großen Anfrage der CDU-Fraktion kurz ansprechen konnte. Für die Beantwortung möchte ich mich insgesamt noch einmal bedanken. Ich denke, wir vertiefen die Aussprache gemeinsam unter Einbeziehung der Shell-Studie und der Ergebnisse unserer Norwegenreise.

(Beifall bei CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das Wort für die Faktion der SPD erteile ich jetzt der Frau Abgeordneten Herdejürgen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort auf die Große Anfrage hat eines gezeigt: Man könnte der Verwaltung einige Arbeit ersparen, wenn man sich die Mühe machen würde, bei Informationsbedarf die einschlägigen Quellen, wie zum Beispiel die Daten des Statistischen Landesamtes oder bereits vorliegende Berichte der Regierung heranzuziehen.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Gerade deshalb geht mein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums, die sich mit den vorliegenden Fragen auseinander setzen mussten und dies auch umfangreich getan haben.

Die Antworten waren aus dem genannten Grund nicht überraschend. Wer sich mit den Shell-Studien, den Jugendberichten der Bundesregierung, dem Integrationsbericht, den Veröffentlichungen des Deutschen Jugendinstitutes oder anderen Quellen regelmäßig

(Birgit Herdejürgen)

auseinander setzt, kann kaum überrascht sein, dass auch in Schleswig-Holstein zum Beispiel die Individualisierung und die Differenzierung von Lebensentwürfen den Alltag von Jugendlichen bestimmen und dass die Bindung an Institutionen abnimmt.

Wer weiß, dass 1995 eine Erweiterung des Opferbereiches der polizeilichen Kriminalstatistik erfolgte, wundert sich nicht, dass die in dieser Statistik erfasste Zahl von Straftaten auch bei Kindern und Jugendlichen angestiegen ist.