Protokoll der Sitzung vom 18.11.2010

(Silke Hinrichsen)

Zweitens. Dass ausgerechnet die Sozialdemokratie hier im Landtag und überall sonst die zugrunde gelegte Datenbasis kritisiert, finde ich nicht redlich. Hier wird bewusst ein Maßstab angelegt, der überhaupt nicht erfüllbar ist. Sie wissen das in Wahrheit auch, jedenfalls Ihre Sozialpolitiker wissen das. Die Daten der statistischen Einkommens- und Verbraucherstichprobe aus dem Jahr 2008 sind die einzigen Daten, die man als Grundlage heranziehen kann. Sie müssen einmal sagen, welche repräsentativen Daten Sie ansonsten sinnvollerweise heranziehen wollen. Auf welcher verbindlichen Basis soll denn Ihrer Auffassung nach die Ermittlung erfolgen, zumal in der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Art und Weise?

Drittens. Die Kritik, dass die Ableitung aus der statistischen Einkommens- und Verbraucherstichprobe willkürlich sei, ist nichts anderes als stereotyp und substanzlos.

(Bernd Heinemann [SPD]: Sie sind Minis- ter!)

Selbstverständlich ist es eine politische Frage, welche Ausgabeposten aus dem Warenkorb man als Bestandteil eines soziokulturellen Existenzminimums ansieht und welche nicht. - Herzlichen Dank für den Hinweis, dass ich Minister bin. Als Minister darf man durchaus politisch sein. Wenn ich an die Reden des Kollegen Stegner als Finanzminister denke, tut man gut daran, wenn man im Landtag nicht nur Harmoniesülze verbreitet, sondern solche Behauptungen, wie sie heute von dieser Seite zum Teil gekommen sind, genauso deutlich zurückweist.

(Beifall bei FDP und CDU)

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Bohn?

Nein, im Moment gestatte ich keine Zwischenfrage.

Selbstverständlich ist es eine politische Frage, welche Ausgabeposten aus dem Warenkorb man als Bestandteil eines sozialkulturellen Existenzminimums ansieht und welche nicht.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Habersaat [SPD])

Selbstverständlich war es eine politische Entscheidung, anders als SPD und Grüne im Übrigen, erstmals internetbezogene Kosten mit in dieses sozial

kulturelle Existenzminimum einzubeziehen. Das gilt im Übrigen auch für die sogenannte Praxisgebühr, solange sie noch erhoben wird. Ebenso ist es eine richtige politische Entscheidung, Ausgaben für Haushaltshilfen, Flugreisen, Schnittblumen, illegale Drogen, Tabak, Alkohol und Glücksspiel aus den Berechnungen der Regelsätze herauszunehmen.

(Beifall bei FDP und CDU)

Darüber kann man gern diskutieren und streiten. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Es war richtig, diese Entscheidung zu fällen. Es ging um die begründete Entscheidung -

(Zurufe von der SPD - Glocke des Präsiden- ten)

- Das mag Ihnen alles nicht gefallen, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

- Ich habe viel Verständnis, dass Ihnen das alles nicht gefällt. Warum haben Sie das Märchenland, das Sie den Menschen in den vergangenen Monaten versprochen haben, denn in den letzten fünf Jahren nicht erfüllt? Das hätten Sie doch machen können!

(Beifall bei FDP und CDU)

Sie hatten doch die Möglichkeit, Schulsozialarbeit und höhere Regelsätze einzuführen. Sie hatten wirklich lange genug Zeit, all die Forderungen, die Sie heute hier katalogmäßig aufführen, zu erfüllen.

(Bernd Heinemann [SPD]: Sagen Sie die Wahrheit!)

Sie haben es nicht getan. Sich heute als Opposition hier hinzustellen, ist zwar Ihr gutes Recht -

(Glocke des Präsidenten)

Augenblick. Zunächst einmal erteile ich Herrn Kollegen Heinemann für seinen Zwischenruf einen Ordnungsruf.

Dann frage ich Sie, ob Sie eine Zwischenfrage erlauben.

Nein!

(Minister Dr. Heiner Garg)

Ich empfehle, grundsätzlich wieder ein wenig Ruhe einkehren zu lassen. Die Menschen, über die wir reden, sind es wert, dass wir die Debatte ruhig führen.

(Beifall)

Nein, Herr Präsident, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu.

(Zurufe)

- Ich fürchte mich ganz gewiss nicht vor Zwischenfragen.

Meine Damen und Herren, es geht um die begründete Entscheidung - darüber kann man gern politisch streiten und diskutieren, aber man kommt an ihr nicht vorbei -, was man zur Sicherung des sozialkulturellen Existenzminimums für erforderlich hält und was nicht. Das ist mitnichten Willkür, das ist das Gegenteil von Willkür.

Viertens. Auch zur verschiedenen Behandlung von Single- und Mehrpersonenhaushalten, die Sie in Ihrem Antrag aufgegriffen haben, will ich gern etwas sagen, weil es möglicherweise der eine oder andere von Ihnen gar nicht zur Kenntnis nehmen will. Die Annahme, dass in einem Mehrpersonenhaushalt bestimmte Kosten nicht für jede Person voll anfallen, sollte nachvollziehbar sein. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: der Erwerb eines Kühlschranks. Wenn Sie alleine leben, brauchen Sie einen, wenn Sie zu zweit oder dritt leben, brauchen Sie ebenfalls einen und nicht zwei, drei oder vier.

Das hat die Bundessozialministerin mit Plausibilitätsberechnungen offengelegt. Auch hier sehe ich Transparenz und nicht Willkür. Wenn Sie hier von Willkür sprechen, machen Sie sich doch einfach einmal die Mühe, und gucken Sie sich die 100-seitigen Plausibilitätsberechnungen an, die veröffentlicht wurden! Herr Thoroe, auch wenn Ihre Zwischenbemerkungen noch so witzig sind, ich wette mit Ihnen, dass Sie sich nicht eine einzige Plausibilitätsberechnung angeguckt haben.

(Beifall bei FDP und CDU)

Fünftens. Wir kommen jetzt zum Kern dessen, was hier ständig gefordert wurde. Es war von Anfang an gefährlich - ich will mich da ganz vorsichtig ausdrücken -, aber ein bewusstes Spiel, und es war falsch zu behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht höhere Regelsätze gefordert habe. Die Enttäuschungen, von denen Sie heute sprechen, die Sie

heute beklagen, haben Sie zu verantworten, nicht diejenigen, die das Bundesverfassungsgerichtsurteil umgesetzt haben.

(Beifall bei FDP und CDU)

Es war unverantwortlich, diese Erwartungen zu schüren, statt sich ernsthaft zu fragen, welches die Kriterien zur Bestimmung eines Mindestbedarfs sind. Jetzt, keine zwei Monate - das wissen Sie doch, das wissen jedenfalls die Sozialpolitiker in allen Fraktionen -, bevor die Neuregelung in Kraft treten muss, weil das im Bundesverfassungsgerichtsurteil so steht, die Einbindung von Experten zu verlangen, hilft niemandem, und - ich vermute einmal - es soll auch niemandem helfen, sondern es dient einzig und allein dazu, hier eine politische Clownshow zu veranstalten.

(Vereinzelter Beifall bei der FDP - Zurufe von der SPD)

Sechstens. Mir geht es darum, die Ermöglichung von Teilhabe für Kinder und Jugendliche zu sichern. Mir geht es darum, dass die Leistungen, die für Kinder gedacht sind, auch wirklich bei den Kindern ankommen. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Wir wollen und wir können es bei den jetzigen Schritten zum 1. Januar 2011 nicht belassen.

Das will im Übrigen auch die Bundesregierung nicht. Auch wenn es ein erstmaliger großer Schritt ist, dass kinderspezifische Bedarfe im Rahmen der Sonderauswertung der Einkommens- und Verbraucherstichprobe gesondert ermittelt wurden. Es wurde erstmals auf die prozentuale Ableitung verzichtet. Ich verzichte jetzt auf den Hinweis, wer sich mit der prozentualen Ableitung begnügt hat. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen.

Siebtens. Richtig ist die Forderung, bei der Entscheidung über Leistungen zur Bildungsteilhabe auch Bildungs- und Beratungskompetenz in bestehenden Institutionen in den Kommunen zu nutzen. Natürlich wäre es völlig unsinnig, eine Parallelstruktur hochzuziehen. Das hat die Landesregierung von Anfang an gesagt, und genau das ist jetzt der Diskussionsstand der Bundesregierung.

Zum Thema Bildungsteilhabe zählt selbstverständlich auch das Anliegen, Schulwegkosten im Regelsatz zu berücksichtigen. Dazu gibt es übrigens einen mit Mehrheit angenommenen Bundesratsantrag. Es macht keinen Sinn, ein Kind aus einer ALG-II-Gemeinschaft vom Besuch eines Gymnasiums fernzuhalten, weil nach der 10. Klasse die Schulbuskosten nicht mehr übernommen werden. Es macht keinen Sinn, ein Bildungspaket zu schnü

ren und die Teilhabe an diesem Bildungspaket daran scheitern zu lassen, dass der Sportverein im nächsten Dorf nicht aufgesucht werden kann. Das wird jetzt im Bundesrat nachgebessert. Insofern bedarf es hier keiner besonderen Aufforderung. Ich empfinde das als Unterstützung der Position der Landesregierung.

(Beifall des Abgeordneten Christopher Vogt [FDP])

Meine Damen und Herren, gänzlich anderer Meinung bin ich, was die Anträge der Fraktion DIE LINKE angeht, die Sanktionsmöglichkeiten nach § 31 SGB II auszusetzen. Es ist völlig unbestritten, und es ist auch richtig, dass es innerhalb des Sanktionssystems im SGB II Verbesserungsbedarf gibt. Wenn zum Beispiel eine Sanktion nicht unmittelbar aufgehoben werden kann, nachdem die gewollte Verhaltensänderung bewirkt wurde, dann fehlt es offenkundig an der Flexibilität einer Regelung. Auch bei den Regelungen für die unter 25-Jährigen sehe ich unbestritten Änderungsbedarf. Eine Kürzung der Leistung um 100 % inklusive des Wegfalls der Leistungen für Unterkunft und Heizung ist schlicht kontraproduktiv, denn sie führt zu Mietschulden und im schlimmsten Fall zu Wohnungslosigkeit. Nebenbei bemerkt, dadurch entstehen auch erhebliche Folgekosten für die ordnungsrechtliche Unterbringung von Wohnungslosen auf der Ebene der Kommunen. Viel sinnvoller wäre beispielsweise - statt einer Einstellung der Leistungen für Unterkunft und Heizung - die Direktüberweisung an den Empfangsberechtigten. Das wäre eine viel sinnvollere Maßnahme.

(Beifall bei der FDP)

Dadurch würde eine zweckentsprechende Verwendung sichergestellt. Mietschulden und Wohnungslosigkeit könnten so vermieden werden.

Meine Damen und Herren von den LINKEN, ich weiß, dass Sie versuchen, hier den Anschein zu erwecken, Sie seien ganz besonders sozial.