Protokoll der Sitzung vom 19.11.2010

tiger Schritt in die richtige Richtung. Es ist allgemein bekannt, dass wir dabei in Schleswig-Holstein nicht etwa Neuland betreten, sondern auf Erfahrungen aus anderen Bundesländern zurückgreifen können. Aktuelle Zahlen belegen deutlich, wie stark der allgemeine Bedarf in der Pflege schon in naher Zukunft steigen wird. Verantwortlich hierfür sind vor allem der demografische Wandel und die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung. Nach Meinung vieler Experten kann dieser Mehrbedarf bei Weitem nicht durch die Angehörigen selbst gedeckt werden. Deshalb wird die Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen im ambulanten und stationären Sektor besonders im Bereich der Altenpflege rasant steigen.

So kommt zum Beispiel eine aktuelle Studie zur Entwicklung im Heimbereich zu dem Ergebnis, dass bundesweit schon im Jahr 2025 bis zu 400.000 zusätzliche Pflegeplätze benötigt werden. Insgesamt wird sich die Zahl der professionell zu versorgenden Pflegefälle bis zum Jahr 2050 um rund 270 % erhöhen. Nicht zuletzt, weil im gleichen Zeitraum der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung voraussichtlich um circa 40 % abnehmen wird, stehen wir hier vor einer großen Herausforderung.

Diese Aufgabe lässt sich aus Sicht des SSW aber nicht allein durch die Integration von ausländischen Fachkräften oder durch die gezielte Umschulung von Arbeitsuchenden lösen. Wir sehen hier zwar einen Teil der Lösung, aber dabei darf man nicht vergessen, wie sehr sich die Anforderungen an den Pflegeberuf verändern: Neben der hohen körperlichen Belastung müssen professionelle Pflegekräfte auch immer neue Technologien und Methoden erlernen.

Auch das Spektrum der Krankheiten, mit denen sich die Pflegenden auseinandersetzen müssen, erweitert sich. Neben der Heilung von Krankheiten wirken die Pflegekräfte auch immer mehr an präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen mit. Für uns ist deshalb klar: Grundsätzlich geht es nicht nur darum, die Zahl der Berufstätigen in der Pflege zu erhöhen, sondern es ist mindestens genauso wichtig, die Qualifizierung des Personals zu verbessern und die moralische Verantwortung der Pflegenden in ihrem Beruf näher zu bestimmen, um eine weitere Professionalisierung zu erreichen.

(Beifall bei SSW und der LINKEN sowie vereinzelt bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Antje Jansen)

Durch eine Pflegeberufsordnung wie in Bremen, Niedersachsen oder im Saarland werden Begriffe wie die Schweige-, die Auskunfts- oder auch die Beratungspflicht genauer definiert. Die Mitarbeiter können sich in schwierigen Situationen an den Vorgaben der Berufsordnung orientieren, und sie erhalten damit mehr Sicherheit für ihr Verhalten im Beruf. Dies betrifft den Umgang mit den Patienten beziehungsweise den Klienten genauso wie das Verhalten gegenüber den Angehörigen und den Kollegen. Gerade weil sich die moderne Gesundheitsund Krankenpflege immer weiter zu einem eigenständigen Berufsfeld mit immer neuen Aufgaben und damit auch immer neuen Herausforderungen entwickelt, ist eine solche Orientierungshilfe absolut notwendig.

Das Krankenpflegegesetz bietet hier keine Hilfe, denn es gibt keine Hinweise dazu, mit welchen beruflichen Einstellungen die pflegerische Tätigkeit ausgeübt werden sollte. Der SSW ist der Meinung, dass wir durch die Einführung einer Berufsordnung für Pflegeberufe letzten Endes auch zu einer höheren beruflichen Anerkennung und zu einem verbesserten Ansehen dieses Berufs beitragen können. Denn ganz allgemein bleibt es eine wichtige Aufgabe, die Attraktivität der Gesundheits- und Pflegeberufe zu erhöhen, um dadurch viel mehr junge Menschen für diesen Beruf zu gewinnen.

(Beifall bei SSW, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Das Wort für die Landesregierung erteile ich dem Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Herrn Dr. Heiner Garg.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 400.000 qualifizierte Pflegekräfte, die perspektivisch bis 2025 fehlen. Angesichts der demografischen Entwicklung hieße das, wenn man diese Lücken komplett füllen wollte - ob nun mit oder ohne Berufsordnung -, dass sich jeder dritte junge Mensch für eine Ausbildung in der Pflege entscheiden müsste.

Ich glaube, wir sind uns einig: Bei allem Engagement - unabhängig von der Parteizugehörigkeit und unabhängig davon, ob sich Gewerkschaften, Berufsverbände oder Parlamente damit beschäftigen wäre es sehr ambitioniert, jeden dritten jungen Menschen in die Pflege bringen zu wollen. Wir

brauchen also eine Vielzahl von Maßnahmen und Möglichkeiten, um Pflegeberufe attraktiver zu machen. Das, was Sie heute vorschlagen, mag ein Weg dahin sein. Ich will Ihnen am Anfang deutlich sagen: Ich sehe Ihren Vorschlag - jedenfalls momentan - ausgesprochen kritisch, sehr geehrte Kollegin Pauls. Bremen hat im Jahr 2004 den Weg einer Berufsordnung für Kranken- und Kinderkrankenpflegekräfte gewählt, um beispielsweise die von Ihnen zitierten Standards festzusetzen.

In vielen Bundesländern machen Berufsverbände auf die Notwendigkeit aufmerksam, entsprechende Verordnungen zu erlassen. Das Saarland und Hamburg sind gefolgt. Mit dem vorliegenden Antrag von Ihnen wird das Thema in Schleswig-Holstein zum ersten Mal aus dem parlamentarischen Raum heraus aufgegriffen und nicht mehr ausschließlich von Verbandsvertretern angestoßen.

Ich will deutlich sagen, dass ich die Berufsordnungen in den von Ihnen genannten Ländern als Vorbilder für wenig tauglich halte. Ich bin deshalb dieser Auffassung, weil diese Berufsordnungen ausschließlich für dreijährig ausgebildete Pflegefachkräfte gelten. In Bremen gilt die Berufsordnung noch nicht einmal für die Altenpflegefachkraft, Frau Kollegin Pauls. Ich glaube, das ist das Gegenteil dessen, was wir eigentlich wollen, nämlich die Pflegeberufe insgesamt auf ein Fundament zu stellen und nicht mehr in unterschiedliche Schubladen zu stecken.

Eines halte ich für ausgesprochen problematisch: Der Bereich der Pflegehilfskräfte und der Pflegeassistenzausbildungen bleibt in diesen Berufsordnungen völlig außen vor, und das, obwohl Defizite in der Pflegequalität oft in Bereichen mit zu hohen Anteilen von an- und ungelernten Beschäftigten zutage treten. Eine staatliche Berufsordnung müsste, wenn wir sie ernsthaft diskutieren wollten, für alle professionell Pflegenden gelten, um als Instrument der Qualitätssicherung überhaupt funktionieren zu können.

(Beifall bei FDP und CDU sowie des Abge- ordneten Bernd Heinemann [SPD])

Im Moment jedenfalls sehe ich eher, dass die schlechten Arbeitsbedingungen dafür ursächlich sind, dass die Pflegefachkräfte den eigenen Ansprüchen an ihren Beruf nicht gerecht werden können, weil die Arbeitsbedingungen, die hier - zu Recht! moniert wurden, nach wie vor verbesserungsfähig sind. Ich sage deutlich: Dagegen hilft eine Berufsordnung zunächst einmal herzlich wenig.

(Flemming Meyer)

Die Schere zwischen den Ansprüchen an das eigene pflegerische Handeln und den Möglichkeiten, ihnen zu entsprechen, belastet die Berufsangehörigen schon heute. Die Betonung von Berufspflichten verlagert die Verantwortung auf die Beschäftigten und verschärft diese Probleme eher. Das bedeutet übrigens nicht, dass Pflegekräfte grundsätzlich von jeder Verantwortung freigesprochen würden. Schon heute werden Pflegekräfte für Pflegefehler und Pflichtverletzungen zivil- und strafrechtlich belangt und durch die Rechtsprechung zur Einhaltung von Standards gezwungen.

Im Übrigen ist mit der Pflicht zur eigenen beruflichen Fortbildung und zum Erhalt der beruflichen Kompetenz für die Gesundheits- und die Krankenpflege eine zentrale Berufspflicht bereits geregelt. Ende 2007 wurde die Fortbildungspflicht für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpfleger in § 4 des SchleswigHolsteinischen Gesetzes über die Berufsausübung in Gesundheitsberufen festgeschrieben. Dabei handelte es sich um die Umsetzung der EU-Richtlinie 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen.

Ich will dazu allerdings einschränkend bemerken, dass schon damals keinerlei Kapazitäten bestanden, um die Einhaltung dieser Pflicht zu überwachen. Es handelt sich also lediglich um einen reinen Appell. Damit stellt sich allerdings die Frage, ob ein staatlicher Appell zur Einhaltung von beruflichen Pflichten eher beachtet wird als eine konsistente Berufsordnung. Dies schreiben die Berufsverbände selbst in Anlehnung an den Ethik-Kodex des International Council of Nurses vor. Entsprechendes gilt für den heute von Ihnen vorgelegten Antrag. Eine staatlich geregelte Berufsordnung für Angehörige der Pflegeberufe wäre nur dann funktional, wenn man auch eine staatliche Aufsicht über die Einhaltung der dort normierten Berufspflichten etablierte und wenn Verstöße konsequent sanktioniert würden.

Da, wie angesprochen, die Einhaltung von Berufspflichten bereits heute dem Zivil- und dem Strafrecht unterliegt, es hier also kein reines Gutdünken gibt, sage ich ganz offen: Eine tatsächlich kontrollierte Berufsordnung wäre eine zusätzliche öffentliche Aufgabe. Darüber müssen Sie sich dann im Ausschuss unterhalten, und das müssen Sie offen diskutieren. Eine staatlich normierte Berufsordnung, noch dazu eine nur für einige, nicht für alle Pflegeberufe geltende - ich betone die Problematik der Pflegehilfskräfte und der Assistenzausbildungen -, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für eher problematisch und nicht im Sinne der Findung eines

konsistenten Lösungsbausteins für die Probleme, die wir unbestritten im Bereich der Pflege zu bewältigen haben.

(Beifall bei FDP und CDU)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 17/993 dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.

Ich darf Ihnen mitteilen, dass sich die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf verständigt haben, die Tagesordnungspunkte 39, 45, 49 und 58 in der Dezember-Tagung aufzurufen. Damit bleibt uns noch ein Tagesordnungspunkt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:

Fortschreibung des Psychiatrieplans

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/994

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat Herr Kollege Bernd Heinemann.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die psychischen Belastungen - manchmal sogar hier im Parlament

(Beifall des Abgeordneten Christopher Vogt [FDP])

haben in unserer mobilen und komplizierter werdenden Welt stark zugenommen. Gleichzeitung hat die Belastungsfähigkeit mitunter etwas abgenommen. Beides geht also auseinander. Das zeigt auch, ausgelöst durch den Tod Robert Enkes, stellvertretend die öffentliche Diskussion über das spektakuläre Thema Depression und die rasante Zunahme der Antidepressiva-Verschreibungen um bis zu 200 % in den letzten zehn Jahren. Die Gesundheitsberichte der TK, der AOK und der BARMER-GEK bestätigen die Zunahme von Krankschreibungen wegen psychischer Störungen gleichermaßen.

Das Wegschließen von Menschen mit auffälligen psychiatrischen Störungsbildern in zentralen, aber

(Minister Dr. Heiner Garg)

weit abgelegenen Massenverwahranstalten gehört seit der Psychiatrie-Enquete in den 70er-Jahren ebenso wie Elektroschocks, Eisbäder und andere menschenverachtende Therapiemethoden unserer dunklen Vergangenheit an. Wir haben Schritt für Schritt die Förderung von Beratungsdiensten und Selbsthilfegruppen im Rahmen einer gemeindenahen, menschenfreundlichen Versorgung entwickelt und ausgebaut. Die Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen wurde als Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung differenziert und gemeindenah neu geordnet. Somatische und psychische Erkrankungen sind gleichgestellt. Förderprogramme für Aus-, Fort- und Weiterbildung tun ihr Übriges. Die Psychiatrieplanung in den Händen der Länder konzentriert sich auf diese grundsätzlichen Vorgaben bundesweit.

Das Verdienst der rot-grünen Landesregierung unter Federführung der Minister Günther Jansen 1990 - und Heide Moser - 2000 - war es, in der psychiatrischen Planung Konzepte einer differenzierten, gemeindenahen psychiatrischen Versorgung voranzutreiben.

(Beifall bei der SPD)

Gut ausgebaute, qualifizierte, regionale und überregionale Versorgungsnetzwerke sind gewachsen, und viele differenzierte regionale Planungskonzepte sind auf Kreisebene entwickelt worden.

Auch in der schwarz-roten Koalitionsvereinbarung war die Landespsychiatrieplanung ein wesentliches Kernthema. Ministerin Trauernicht hat es systematisch weiterentwickelt. Das Netz von örtlichen Tageskliniken in der Erwachsenen- sowie der Kinderund Jugendpsychiatrie wurde ausgebaut. Weitere Beispiele dafür sind die Initiativen zur geriatrischen Versorgung, der Ausbau dezentraler Wohnprojekte sowie die Weiterentwicklung geschlechtssensibler und migrationspezifischer Hilfsangebote. Die gerontopsychiatrische Versorgung hat sich seit 2005 weiter differenziert. Die Landesagentur für Demenz in Norderstedt beispielsweise hat Großartiges geleistet.

Leider konnte die schwarz-rote Idee, den landesweiten Psychiatrieplan nach zehn Jahren fortzuschreiben, wie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen, unter den gegebenen Umständen 2009 nicht mehr in Angriff genommen werden. Nun wird es allerdings langsam Zeit; denn wir haben ein Jahr verloren. Wenn wir dem zunehmenden Behandlungsbedarf und zum Beispiel den Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern gerecht werden

wollen, benötigen wir Eckpunkte für ein vielfältig differenziertes Präventionskonzept. Sekundärund tertiär-präventive Elemente von der Information bis hin zur Beratung und Selbsthilfe gehören mit dazu.

Nach der erfolgreichen Regionalisierung der Psychiatrie stehen jetzt die neu gefundenen Grundwerte für das Versorgungssystem und die Leitlinien für die Arbeitsfelder der psychiatrischen Hilfen und Angebote auf dem Prüfstand, um gemeinsame Strukturvorgaben und Standards landesweit zu verabreden. Dabei gilt es, von den Besten zu lernen, aber auch Mindeststandards für quantitative Festlegungen zu erarbeiten.

Dabei soll es nicht nur um Bettenmesszahlen für Erwachsene oder Jugendliche oder den Realisierungsgrad von Wohnplätzen gehen. Auch die Qualität der Versorgung unter Berücksichtigung von Bevölkerungszahl und Sozialstruktur sollte landesweit an Zielvereinbarungen ausgerichtet werden. Erste Erfahrungen mit den regionalen Budgets im Bereich der psychiatrischen Versorgung zum Beispiel im Kreis Steinburg sowie die weitere Synchronisierung von Krankenhaus- und Psychiatrieplanung sollten uns auf dem Weg zur besten Lösung unterstützen. Wir brauchen mehr dieser regionalen Budgets. Wir sollten sie überregional intelligent weiter verzahnen und den Beteiligten dabei Spielräume besserer Wirtschaftlichkeit sichern. Das spart Geld und erhöht den Wirkungsgrad nachhaltig.

Elf Bundesländer haben inzwischen auf Landesebene einen Psychiatriebeirat geschaffen, der die Aufgaben der Landesplanung steuert und deren Weiterentwicklung gemeinsam mit den Arbeitskreisen der gemeindenahen Psychiatrie auf Kreisebene begleitet. Schleswig-Holstein fehlt hier noch.

Auch die Versorgung mit psychotherapeutischen Fachangeboten ist lückenhaft. Die langen Wartezeiten in diesem Sektor, insbesondere für Kinder und Jugendliche, zeigen, dass der Bedarf größer ist als das Angebot. Kinder- und Jugendpsychiater fehlen in der Fläche völlig. Dies ist ein Themenkreis, den wir mit der Kassenärztlichen Vereinigung diskutieren müssen.

Außerdem gibt es neue Entwicklungen, für die wir bisher kein einheitliches Konzept bieten können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ebenso wie die deutschen Gerichte das Thema Sicherungsverwahrung problematisiert und dabei indirekt angemessene neue psychiatrische Hilfsangebote und Perspektiven eingefordert. Vielleicht

(Bernd Heinemann)