Protokoll der Sitzung vom 19.11.2010

In unseren Augen hätte die Fortschreibung aber schon in der vergangenen Legislaturperiode erfolgen müssen. Doch nachdem die SPD das während ihrer Amtszeit anscheinend versäumt hat - das muss ich hier einmal sagen -, ist es gut, dass es jetzt zumindest mit dem vorliegenden Antrag einen Impuls gibt, über den Psychiatrieplan zu sprechen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Schwerpunktsetzung für die Fortschreibung ist im Antrag der SPD sehr umfassend erarbeitet worden und wird von uns als Linke sehr begrüßt.

Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Prävention. Im Psychiatrieplan 2000 ist dieser Aspekt nur unzureichend ausgearbeitet. Hier besteht eindeutig Handlungsbedarf. Wie wichtig es ist, ein präventives Konzept zu entwickeln, zeigen verschiedene Studien zur aktuellen Situation. In Schleswig-Holstein sind in den letzten zehn Jahren die psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten der Berufstätigen um 34 % gestiegen. Besonders betroffen davon sind Sozial- und Erziehungsberufe. Das Versorgungsvolumen mit Antidepressiva ist ebenfalls angestiegen. Die Gründe liegen häufig in der steigenden psychischen Belastung von Berufstätigen und Erwerbslosen. Die Erwartungen an die einzelnen Angestellten nehmen zu. Die einzelnen Gründe dafür haben meine Vorrednerinnen hier auch schon benannt.

Es ist die Folge einer auf Leistung getrimmten Gesellschaft - dies belegen auch verschiedene Studien. Burn-out entwickelt sich zu einer Volkskrankheit, Erwerbslosigkeit oder Erwerbsarbeit dürfen die Gesundheit nicht gefährden. Deshalb müssen wir uns intensiv mit der Weiterentwicklung der Präventionsinstrumente auseinandersetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein weiterer Schwerpunkt, der uns auch besonders wichtig erscheint, ist der Einzelfahrplan für Gerontopsychiatrie. Vor zehn Jahren befand sich dieser Bereich noch im Aufbau. Die Strukturen und Ange

bote, ebenso wie die Erkenntnisse dazu, haben sich erweitert. Wir müssen uns im Zuge des demografischen Wandels auf steigende Behandlungszahlen auch in diesem Bereich einstellen. Auch hier muss der Ansatz gelten: ambulant vor stationär.

(Beifall bei der LINKEN)

Die gemeindenahe Versorgung in der gewohnten Umgebung durch Einbindung der Angehörigen und der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen den Betroffenen und den Unterstützern der verschiedenen Versorgungsleistungen sollten die Rahmenbedingungen bilden. Was für eine flächendeckende hausärztliche Versorgung gilt, muss auch an dieser Stelle noch einmal betont werden.

Diese Lücken müssen schnellstmöglich geschlossen werden. Uns fehlt es an Fachpersonal, nicht nur im Pflegebereich, nicht nur in der Ergotherapie oder im Sozialpsychiatrischen Dienst. Es ist die Aufgabe der Landesregierung, einen Psychiatrieplan vorzulegen, der ein ausgearbeitetes Konzept zur Förderung der gesellschaftlichen Integration für Menschen mit psychischen Behinderungen und Erkrankungen enthält und ebenso die Möglichkeiten der Erwerbsarbeit beleuchtet. Nur so kann angemessen auf die aktuelle Entwicklung reagiert werden.

Natürlich gibt es noch viele andere wichtige Bereiche, die an die aktuelle Situation angepasst werden müssen, zum Beispiel der Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Wir als LINKE unterstützen den Antrag auf Fortschreibung des Psychiatrieplans und freuen uns darauf, die Schwerpunkte im Ausschuss intensiver zu diskutieren. Wir befürworten auch eine Anhörung zu diesem Thema, um inhaltlich daran weiterzuarbeiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort für die SSW-Fraktion erteile ich dem Kollegen Flemming Meyer.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Heinemann und Kollegin Bohn haben schon den Selbstmord von Robert Enke erwähnt. Ich möchte sagen, dass gerade dieser Selbstmord noch einmal mit voller Wucht in Erinnerung gerufen hat: Psychisch kranke Menschen benötigen eine Kultur der Aufmerksamkeit. Ansonsten drohen sie, an ihrer Krankheit zu zerbrechen.

(Antje Jansen)

Der Fall Enke zeigt aber auch anschaulich, dass aus Absichtserklärungen niemals Strukturen erwachsen. Dazu gehören solide Finanzstrukturen, klare Zuständigkeiten und eindeutige Kompetenzen. Ernüchtert haben durchweg alle Kommentatoren nach einem Jahr die Bilanz gezogen, dass sich im ProfiFußball in Sachen Umgang mit Depression überhaupt nichts geändert hat. Es geht nicht ohne klare Zielvorgaben, was die Behandlung, Nachsorge und Prävention psychisch Erkrankter angeht.

Der Grundsatz „Ambulant vor stationär“, ist wichtig, und er war 2000 auch wegweisend. Heutzutage ist das allein nicht mehr ausreichend. Darum begrüßt der SSW ausdrücklich den detaillierten Forderungskatalog. Wir benötigen einen genauen Überblick über die Versorgungsstrukturen. Dabei ist der Blickwinkel des Antrags für uns allerdings nicht weitgehend genug. Es geht nicht nur um die Profis, sondern auch um flankierende Gruppen, vor allem die Selbsthilfegruppen. Gerade da wird aber derzeit massiv gespart. Wie man der Presse entnehmen konnte, rechnen zum Beispiel die Selbsthilfekontaktstellen KIBIS in Flensburg und Schleswig mit Kürzungen ihrer Förderung in Höhe von 45 %. Das bedeutet, dass Sprechzeiten reduziert werden, Treffen seltener werden und sich einzelne Selbsthilfegruppen gar auflösen müssen. Das betrifft im Bereich psychosoziale Probleme allein in Flensburg zwölf Gruppen. In anderen Städten sieht es ähnlich aus. Hier wird auf lange Sicht ehrenamtliche Präventionsarbeit weggespart.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Erhöht wird dabei das Risiko, stationäre Kosten in den Einrichtungen zu erhöhen, wenn bei Prävention beziehungsweise Rehabilitation gespart wird. So eine Logik kann nur dort gedeihen, wo einzelne Versorgungsformen isoliert vor sich hin arbeiten. Auch darum benötigen wir einen Plan mit klaren Zielvorgaben.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Die Fortschreibung des Psychiatrieplans muss eine reale Landkarte der Versorgung erstellen. Das, was der Breitbandatlas erstmals bietet - nämlich einen ständig aktualisierten Überblick über Versorgungsstandards -, muss auch bei der psychiatrischen Versorgung hinzubekommen sein.

(Beifall der Abgeordneten Anke Spooren- donk [SSW])

Gerade der Dynamik muss dabei Rechnung getragen werden. Das ist derzeit unzureichend möglich.

Wir erleben nämlich gerade einen rasanten Wandel in der Auffassung dessen, was psychische Erkrankung beziehungsweise Störung ist.

Viele Betroffene kritisieren die um sich greifende Pathologisierung. Heutzutage werden allzu schnell bei Problemen am Arbeitsplatz Psychopharmaka verschrieben, damit der Patient oder die Patientin möglichst schnell wieder funktioniert. Ein Psychiatrieplan muss Standards setzen, aber muss auch die ständigen Überprüfungen und Hinterfragungen der Standards ermöglichen.

(Beifall bei SSW, der LINKEN, vereinzelt bei der SPD und Beifall des Abgeordneten Rasmus Andresen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Im Antrag ist die Rede von Systemsprengern, deren Zahl zunehme. Ich möchte an dieser Stelle dafür plädieren, nicht den Patienten ans System anzupassen, sondern das System stärker auf die Bedürfnisse des Patienten und seiner Angehörigen abzustimmen.

(Beifall bei SSW, der LINKEN und des Ab- geordneten Rasmus Andresen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

In Skandinavien heißt das integrierte Versorgung, das heißt eine bedürfnisangepasste Behandlung, die einen Patienten bei Bedarf auch zu Hause behandelt. Dort wird Fallmanagement zur Pflicht gemacht und auskömmlich honoriert. Allerdings kennt man in Skandinavien auch nicht die Behandlung nach Versichertenstatus. Wer in SchleswigHolstein im Internet nach der Adresse eines Psychotherapeuten sucht, wird gleich nach dem Versicherungsstatus gefragt - also ob man privat oder gesetzlich versichert ist. Danach richtet sich dann das Behandlungsspektrum. Das ist natürlich ein anderes Problem, das auch kein Psychiatrieplan lösen kann.

(Beifall bei SSW, SPD, der LINKEN und der Abgeordneten Dr. Marret Bohn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das Wort für die Landesregierung erteile ich dem Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Herrn Dr. Heiner Garg.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschen mit psychischer Krankheit oder psychischer Behinderung benötigen ein differen

(Flemming Meyer)

ziertes, abgestuftes und fachübergreifendes System der Hilfen. Ich bin sehr im Zweifel, ob der vorgelegte Antrag auf Fortschreibung eines Psychiatrieplans diesem Anliegen gerecht wird. Hilfen im Übrigen, die bei kaum einer anderen Art von Erkrankung oder Behinderung klinische und psychosoziale Angebote umfassen, die auf der Grundlage unterschiedlichster Sozialgesetze vernetzt und aufeinander abgestimmt sein müssen.

Ich habe das gerade schon angedeutet: Ich stehe dem Antrag auf Fortschreibung des Landespsychiatrieplans sehr - um es höflich zu sagen - skeptisch gegenüber. Wenn tatsächlich die genannten 22 Positionen - wie im Antrag bezeichnet -, Schwerpunkte sein sollen, dann frage ich mich, was wir uns eigentlich als Ganzes vorstellen sollen. Da soll ein regelhaftes Berichtswesen alle fünf Jahre eingeführt werden - eine interessante Vorstellung von der Personalentwicklung in der öffentlichen Verwaltung.

Der Antrag suggeriert ferner die Erhebung umfangreicher Daten sei erforderlich, weil der Psychiatrieplan aus dem Jahr 2000 stammt, der übrigens fachlich - das will ich hier ganz deutlich sagen - in seinen Grundaussagen nach wie vor gültig ist. Berichte und Daten haben wir mehr als genug, neben weiteren den Bericht der Gesundheitsministerkonferenz aus dem Jahr 2007 „Psychiatrie in Deutschland - Strukturen, Leistungen und Perspektiven“, mit einem noch nie da gewesenen umfangreichen Statistikteil, der auch die Angebotsstruktur in Schleswig-Holstein und die Darstellung in allen Handlungsperspektiven konkret abbildet. Dieser Bericht befasst sich auch mit geschlechtsspezifischen Aspekten, mit Besonderheiten bei Menschen mit Migrationshintergrund. Er geht auf viele weitere Fachgebiete wie Gerontopsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und den Maßregelvollzug ein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der antragstellenden Fraktion, meine Vorgängerin, die Ihnen ja nicht ganz unbekannt ist, hat diesen Bericht mitgetragen. Schleswig-Holstein hat aktiv daran mitgewirkt. Die SPD-Fraktion hat das damals intensiv lobend begleitet. Aktuell wird im Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz an zwei Teilberichten zur Kinder- und Jugendpsychiatrie und zur Gerontopsychiatrie gearbeitet. Vorlagetermin ist spätestens 2012. Zur Umsetzung der UN-Konvention in Schleswig-Holstein hat die Landesregierung vor wenigen Wochen einen Bericht vorgelegt. Darin sind die Position der Landesregierung, Maßnahmen sowie das künftige Vorgehen der Landesregierung dargestellt, exakt auch, wenn es um Menschen mit psychischer Behinderung geht.

Das Stichwort Arbeitsaufwand, das hier schon das ein oder andere Mal gefallen ist, betrifft übrigens auch die Kommunen. Wer sich für das Thema des Antrags interessiert, weiß, dass die Vorgängerregierung eine umfassende Kommunalisierung der psychiatrischen Versorgung betrieben hat. Es gilt ebenso wie für die gesamte Eingliederungshilfe: Auch Menschen mit psychischer Behinderung sind in die Verantwortung der Kommunen übergegangen.

Die Landesregierung hat in ihrem Gestaltungsbereich, nämlich der Krankenhausplanung, ihre Hausaufgaben erledigt. Der gerade verabschiedete Krankenhausplan umfasst auch die Psychiatrieplanung im klinischen Bereich. Sie bildet in diesem Plan sogar einen Schwerpunkt. Mehrere Aspekte im SPD-Antrag könnten geradezu aus dem Landeskrankenhausplan aktuellen Datums sein.

Sie merken, ich bin Ihrem Antrag gegenüber ausgesprochen skeptisch, um nicht zu sagen irritiert davon. Dezentralisierung und Kommunalisierung der psychiatrischen Versorgung wurden in der Vergangenheit fraktionsübergreifend unterstützt. Sie sind auf vielen Ebenen vor Ort angekommen. Damit wurde ein wesentliches Ziel des Psychiatrieplans von 2000 erreicht. In der Folge haben viele Kreise und kreisfreie Städte inzwischen eigene, regionale Psychiatriepläne aufgelegt.

Ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn die Landesregierung dem Landtag zunächst das nicht wenig vorhandene Datenmaterial herzlich gern zur Verfügung stellt. Dann bestünde die Möglichkeit, sich auf wesentliche Schwerpunkte zu verständigen, um gemeinsam zu sehen, wo möglicherweise echter Handlungs-, meinetwegen auch Nachholbedarf besteht.

(Beifall bei FDP und CDU)

Das Wort zu einem Dreiminutenbeitrag erteile ich dem Kollegen Bernd Heinemann von der SPDFraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst einmal vielen Dank, dass wir das im Ausschuss weiter beraten können.

Ich muss einmal etwas richtigstellen. Wir haben zehn Jahre lang dezentralisiert. Darauf sind wir auch stolz. Jetzt müssen wir aus den Best-PracticeModellen der Kreise lernen und das Wissen zusam

(Dr. Heiner Garg)

menführen. Dafür brauchen wir einen Landespsychiatriebeirat wie die anderen elf Bundesländer, die ich genannt habe. Dazu müssen wir die Kompetenzen, die in den Kreisen vorhanden sind, austauschen, und wir müssen unsere Rolle als Koordinator wahrnehmen, Herr Minister. Wir haben die Aufgabe der Psychiatrieplanung, wir haben die Aufgabe zu koordinieren. Wir müssen die Kreise dabei unterstützen, die besten Modelle, die besten Erfahrungen zusammenzutragen und zurückzugeben in die Praxis. Jetzt kommt es auf uns an, jetzt ist der nächste Schritt dran, von der Dezentralisierung zum Best-Practice-Modell.

Herr Minister, mit anderen Worten: Ich hoffe, Sie haben es noch nicht verstanden. Sonst müsste ich Ihnen unterstellen, dass Sie keine Lust zur Psychiatrieplanung haben, aber das ist wohl nicht der Fall.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)