Protokoll der Sitzung vom 16.12.2009

Die HSH Nordbank geriet in eine extreme Schieflage. Die Gründe dafür waren hausgemachte Fehler der Banker und der Landespolitik. Prompt wurde fast so etwas wie ein Staatsnotstand ausgerufen. Wird aber annähernd ein Drittel der Bevölkerung wirtschaftlich und sozial abgehängt, dann herrscht

hier seitens des Landes betretenes Schweigen, und es passiert so gut wie nichts.

(Ursula Sassen [CDU]: Unerhört!)

Es ist doch alles beinahe eitel Sonnenschein. Oder wie sonst soll man den Gegenantrag der Koalitionsfraktionen und hier insbesondere den zweiten Passus verstehen? - All die Maßnahmen, die Sie loben, wirken nicht einmal wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn ich den Koalitionsvertrag und die Regierungserklärung von Ministerpräsident Carstensen richtig verstanden habe, dann wird den Initiativen, die gegen Armut und Ausgrenzung in Schleswig-Holstein arbeiten, wahrscheinlich im nächsten Haushalt das Geld gekürzt oder gestrichen.

Die Maßnahmen, die es hier in Schleswig-Holstein gibt, bekämpfen schon gar nicht die Ursachen von Armut und Ausgrenzung. Es ist eine reine Alibipolitik, die von den betroffenen Menschen - so sage ich das jetzt einmal - nur als zynisch verstanden werden kann. Erst recht, weil sie natürlich mitbekommen haben, dass von heute auf morgen für die HSH Nordbank 1,5 Milliarden € auf den Tisch gelegt werden konnten und für weitere 5 Milliarden € umgehend gebürgt wurde. Für die Banker und ihre Aktionäre war sofort Geld da, nicht aber für eine weitgehende Kinderbeitragsfreiheit zum Beispiel in unseren Kindergärten. Wissen Sie, wie viele Kindergartenjahre man allein für die 1,5 Milliarden €, die die HSH Nordbank bekommen hat, beitragsfrei stellen könnte? - Ich habe es ausgerechnet: 43 Jahre könnten alle Kinder in Schleswig-Holstein beitragsfrei in die Kindergärten gehen.

Arme Kinder werden von Geburt an ausgegrenzt. Sie wachsen nicht so gesund auf wie andere Kinder. Das gilt im medizinischen wie auch im übertragenen Sinn. Ihre Chancen - das ist schon gesagt worden - auf gute Bildung sind deutlich schlechter als die anderer Heranwachsender. Das beginnt in frühester Jugend. Viele Kinder kommen ohne Frühstück in die Kindergärten und Schulen, und sie haben auch kein Geld für ein warmes Mittagessen.

Jetzt kommt sicherlich der Einwand: Da haben wir doch das Projekt „Kein Kind ohne Mahlzeit“. Okay, das ist erst einmal ein Anfang. Aber es ist nicht kostenfrei. Die Eltern müssen zum Mittagessen immer noch 1 € dazubezahlen. Diese 1-€-Hürde ist oft schon zu hoch. Das merken wir oft gerade in den Kommunen.

Es wird wahrscheinlich auch gesagt: Das letzte Kindergartenjahr ist beitragsfrei. - Das ist der erste Schritt. Der Kindergarten ist nämlich nur für fünf

(Rasmus Andresen)

Stunden beitragsfrei. Ganztagsplätze, die gerade von Alleinerziehenden so dringend gebraucht würden, kosten nach wie vor, und es mangelt an ihnen erheblich.

Besonders betroffen sind die Kinder Alleinerziehender und die von Migranten. Für Eltern und Kinder fehlt es hier an allen Ecken und Enden. Alleinerziehende Mütter haben kaum eine Chance auf adäquate Beschäftigung, solange es keine flächendeckende kostenlose Ganztagsbetreuung gibt. Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund brauchen wirksame kostenlose Möglichkeiten, unsere Sprache zu erlernen, um auf Dauer der Ausgrenzung zu entgehen.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Beifall des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Eine wöchentlich zweistündige Sprachförderung in den Kindergärten ist da nicht mehr als ein Feigenblatt.

Aber vor allem müssen die Ursachen bekämpft werden, die Ursachen, die künstlich geschaffen wurden. Diese Ursachen sind vor allem in der gigantischen Umverteilung von unten nach oben zu finden.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass wir alle die Gürtel enger schnallen müssen, ist nichts anderes als ein Märchen. Auch wenn in diesen Krisenjahren das Bruttoinlandsprodukt erstmals sinkt, so liegt die Produktivität immer noch im Inflationsbereich 30 % höher als vor 20 Jahren.

Die Schaffung des Niedriglohnsektors, die Schaffung von Hartz IV und vieles andere diente allein dazu, das gestiegene Gesamteinkommen in die Taschen einiger weniger zu schaufeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Die obersten 10 % der Bevölkerung horten mittlerweile 60 % des bundesdeutschen Privatvermögens. Die Zeche zahlen die Kinder, die hungrig in Kindergärten und Schulen sitzen. Die Zeche zahlen die Mütter, die nicht arbeiten gehen können, weil sich die Gesellschaft nicht um ihren Nachwuchs kümmert. Die Zeche zahlen die Menschen, die wir hier ins Land geholt haben, damit sie den Wohlstand der bereits Wohlhabenden noch weiter steigern. Die Zeche zahlen aber auch fast alle anderen: die Landwirte, die Bäcker, die Metzger, die Handwerker, der Einzelhändler an der Ecke, denn fast ein Drittel der Menschen kann sich deren Qualitätsprodukte und Dienstleistungen nicht mehr oder kaum noch leis

ten. Am Ende zahlen die kommenden Generationen die Zeche. Sie, meine Damen und Herren, können noch so viele Leistungen des Landes und noch so viele Planstellen streichen, Sie werden die Finanzen des Landes niemals in den Griff bekommen, wenn Sie weiterhin immer größer werdende Kreise der Bevölkerung wirtschaftlich und sozial ausgrenzen!

(Beifall bei der LINKEN)

Ohne die Kaufkraft dieser Menschen kommen Handel, Gewerbe und auch die Staatsfinanzen nie mehr in Schwung.

Wollen Sie also dem „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“, wollen Sie vor allen Dingen den Menschen in unserem Land gerecht werden, dann bleibt nichts anderes als ein radikaler Politikwechsel. Lassen Sie uns im Jahr 2010 damit anfangen! Greifen wir die Volksinitiative des Kinderschutzbundes, der AWO und des Sozialverbandes Deutschland zur Stärkung der Kinderrechte und zur Bekämpfung der Kinderarmut auf!

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Benennen wir - das ist von den Grünen auch schon gefordert worden - in der Landesverfassung die Bekämpfung der Kinderarmut als verbindliches Staatsziel! Oder besser noch: Lassen Sie uns dort verbindlich festschreiben, dass allen Formen der Armut verbindlich und wirksam zu begegnen ist! Nur so können wir die so wichtigen und richtigen Worte des Landtagspräsidenten, die er anlässlich der Übergabe der 30.000 Niederschriften der Volksinitiative gefunden hat, mit Leben füllen. Er sagte:

„Wichtig, ja für unser Land existenziell ist eine ökonomisch-psychologisch kluge Politik. Deutschland und auch Schleswig-Holstein kann es sich nicht leisten, dass viele Kinder von heute die materiell und geistig Armen von morgen sind.“

(Beifall bei der LINKEN)

„Für unser aller Wohlstand und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft brauchen wir jeden Menschen, und das unter Förderung und Forderung all seiner Stärken.“

(Beifall bei der LINKEN)

Schon heute sollten wir den ersten Schritt in die richtige Richtung machen. Verwerfen Sie von den Koalitionsfraktionen Ihren Gegenantrag! Er wird weder der Sache noch den Menschen auch nur im Ansatz gerecht. Am besten ziehen Sie ihn gleich

(Antje Jansen)

zurück. Stimmen Sie stattdessen dem meiner Fraktion, dem sich die anderen Oppositionsfraktionen dankenswerterweise bereits angeschlossen haben, zu!

(Beifall bei der LINKEN, SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort für die SSW-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Flemming Meyer.

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Europäischen Jahr für kleine und mittlere Unternehmen und Handwerk im Jahre 1983 hat es immer wieder mehr oder weniger bekannte Initiativen gegeben, bestimmte Anliegen oder Personengruppen ein Jahr lang in den Mittelpunkt zu stellen. Die Intention der EU ist dabei durchweg ehrenhaft und gut, aber in der Regel völlig wirkungslos.

Was wir dagegen brauchen, ist eine andere Politik. Eine Politik, die den gesellschaftlichen Reichtum besser verteilt, den Armen bessere Teilhabechancen eröffnet und existenzsichernde Beschäftigung ermöglicht.

(Beifall bei SSW, der LINKEN und verein- zelt bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Doch gerade davon sind wir in Deutschland weiter denn je entfernt. Immer wieder rügen internationale Organisationen Deutschland für seine hohe Kinderarmut, zuletzt im September die OECD. Deutschland gebe zwar für Kinder 20 % mehr aus als die meisten anderen Industrieländer, trotzdem lebe fast jedes sechste Kind in relativer Armut, also mit weniger als 50 % des Durchschnittseinkommens; in Dänemark ist es dagegen nur jedes 37. Kind.

Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt: Gießkannenprinzip, mangelnde strukturelle Hilfen und kein Gesamtkonzept in der Familienförderung. Eine Ganztagsbetreuung in der Krippe, der Kita und der Schule, damit auch Alleinerziehende arbeiten können und von Hartz IV wegkommen, findet man auf dem Land wenig oder gar nicht. Andererseits gibt es für Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen, zu wenig Geld, sodass sie zu Außenseitern werden. Das ist ein Teufelskreis der Armut, der zu einem gnadenlosen Abwärtsstrudel wird. Wer es mit dem Europäischen Jahr ernst meint, der muss die Sätze

für Kinder aus Hartz IV-Familien erhöhen und die Einrichtungen - also Kita und Schule - besser ausstatten - finanziell und personell.

(Beifall bei SSW und der LINKEN)

Stattdessen macht die neue Bundesregierung genau dort weiter, wo die alte aufgehört hat, nämlich mit einem Betreuungsgeld und 20 € mehr Kindergeld. Wir müssen weg von den individuellen Leistungen. Wir müssen die Neigungen und Talente der Kinder gezielt fördern, und zwar in professionellen Institutionen. Nur so werden später aus ihnen Erwachsene, die auf eigenen Beinen stehen können, und keine dauersubventionierten Schulabbrecher.

In Schleswig-Holstein haben wir zu viele private Schuldenhaushalte, zu viele junge Erwachsene ohne Qualifikationsperspektive und immer noch viel zu wenig Plätze in Kinderkrippen. An dieser Tatsache gibt es nichts zu deuteln. Genau das aber tut der Änderungsantrag von CDU und FDP, indem er auf bestehende Maßnahmen abhebt. Diese Maßnahmen beheben aber weder die Kinderarmut noch deren Folgen. Dazu sind sie völlig unterfinanziert.

(Beifall bei SSW, der LINKEN und verein- zelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu kommt, dass das viel beschworene Netzwerk bereits jetzt völlig überlastet ist. Viele Profis leisten in diesem Bereich gewohnheitsmäßig Überstunden, von denen sie wissen, dass sie niemals vergolten werden. Viele Kreise und Kommunen sparen in diesen Zeiten bei diesen Netzwerken weiter. Die Regierungsfraktionen wollen offensichtlich nur ihr Image polieren. Der SSW will dagegen Armut wirkungsvoll, nachhaltig und dauerhaft bekämpfen. Darum lehnen wir diesen Änderungsantrag ab. Wir fordern einen Politikwechsel, allerdings fehlt es an einer politischen Mehrheit, um diesen auch umzusetzen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Für die Landesregierung erteile ich dem Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Herrn Dr. Heiner Garg, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Meyer, Sie haben etwas

(Antje Jansen)

vergessen zu erwähnen, was ich für durchaus erwähnenswert halte. Gerade die neue Bundesregierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass sämtliche familienpolitischen Leistungen evaluiert werden, und zwar mit dem Ziel, in Zukunft gezielter und passgenauer zu helfen. Dazu hat der Vorgängerregierung der Mut gefehlt. Das hätten Sie in Ihrer Aufzählung erwähnen dürfen.

(Zuruf des Abgeordneten Andreas Tietze [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])