Protocol of the Session on January 20, 2021

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Ich bitte Sie alle hier im Parlament um Unterstützung. Ich bitte auch die Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner außerhalb dieses Parlaments darum, in dieser Krise auf Abstand zu achten und trotzdem zusammenzustehen. Wir werden aus dieser Krise gut herauskommen, meine Damen und Herren. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und vereinzelt SPD)

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Herr Oppositionsführer, der Abgeordnete Dr. Ralf Stegner.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit den nüchternen Fak

ten zur Coronapandemie beginnen: Trotz des harten Lockdowns ist die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland noch immer nicht in dem Ausmaß gesunken, wie wir es uns wünschen. Noch immer steckt jeder Infizierte rechnerisch knapp eine weitere Person an. Auch wenn sich in den letzten Tagen abzeichnete, dass die Zahlen deutlicher zurückgehen, bleibt es bei der Feststellung: Die Werte liegen immer noch zu hoch. Das gilt für die Messlatte einer Inzidenz von weniger als 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, die wir erreichen müssen, um die Infektionswege durch die Gesundheitsämter nachvollziehen zu können. In der Tat: Die Gesundheitsämter müssen wir unterstützen, damit sie ihre Arbeit gut leisten können. Da aber schon der Ausbruch in einem Altenheim diesen Wert spürbar nach oben verschiebt, kommt es wohl noch mehr auf den sogenannten R-Wert an.

Wir sehen in Großbritannien, was passiert, wenn hohe Zahlen und die offenkundig sehr viel ansteckendere neue Mutation zusammentreffen. Die Bilder aus britischen Krankenhäusern sind erschütternd. Im Frühjahr hatten wir den Vorteil, dass wir auf die dramatische Lage in Italien gerade noch rechtzeitig reagieren konnten und damit das Schlimmste im Land verhindert haben. Einiges spricht dafür, dass uns jetzt, zehn Monate später, nur ein kleines Zeitfenster bleibt, ebenso rechtzeitig auf die Lage in Großbritannien zu reagieren.

Es geht um den Wettlauf bis zur Immunisierung der Bevölkerung nach großflächiger Impfung - gegenüber einem wohlmöglich wieder exponentiellen Wachstum des Infektionsgeschehens. Darum geht es. Wir müssen dafür sorgen, dass sich weniger Menschen anstecken und Infektionsketten gar nicht erst entstehen.

Ja, es kann sein, dass Virologen und Epidemiologen falschen Alarm schlagen und wir - nach einem Jahr der sich überschlagenden Botschaften - übervorsichtig sind. Aber dürfen wir dieses Risiko eingehen? „Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht“, heißt es schon bei Shakespeare, und in der Politik ist die Übersetzung von Vorsicht schlicht politische Verantwortung und Vernunft, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall SPD, SSW und vereinzelt CDU)

Wir müssen bedenken, wie katastrophal die Folgen wären, wenn wir jetzt in unseren gemeinsamen Anstrengungen zu früh nachließen. Dauerhaft hohe Infektionszahlen führen zu dauerhaft hohen Todeszahlen. Daran dürfen wir uns als Gesellschaft nicht gewöhnen!

(Ministerpräsident Daniel Günther)

Der Herr Bundestagspräsident hat in einer bemerkenswerten Rede sinngemäß gesagt, der Schutz des Lebens und die Vermeidung von Todesfällen seien nicht die einzige politische Kategorie bei der Bekämpfung der Pandemie. Er bezog sich damit auf die Abwägung verschiedener Handlungsoptionen. Darüber mag man philosophisch streiten, aber für mich steht eines völlig fest: Es ist nicht hinnehmbar, dass jeden Tag eine vierstellige Zahl von Menschen an diesem Virus stirbt. Deutschland liegt bei den Todeszahlen pro 100.000 Einwohner international mittlerweile weit vorn, sogar vor den USA, über deren Corona-Missmanagement wir zu Recht den Kopf geschüttelt haben. Das unterstreicht - ich sage das für meine Fraktion immer wieder und wiederhole es auch heute -: Der Gesundheitsschutz muss oberste Priorität haben. Dazu gibt es keine vernünftige Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Im Gegensatz zum Vorjahr gibt es einen Lichtblick. Vieles spricht dafür, dass wir uns im letzten Drittel dieser Pandemie befinden. Dank der in Rekordzeit entwickelten Impfstoffe ist ein Ende in Sicht. Dafür lohnt sich das Durchhalten. Die Verlängerung des Lockdowns ist deshalb richtig, Herr Ministerpräsident, und meine Fraktion wird diesen Kurs weiterhin unterstützen.

(Beifall SPD, vereinzelt CDU und Jörg Han- sen [FDP])

Wir müssen uns aber damit auseinandersetzen, dass es im Land spürbar mehr Vorbehalte gegen die Maßnahmen gibt, dass die kritischen Fragen zunehmen und dass die Ansprüche an die Politik noch größer werden. Dem haben wir gerecht zu werden.

Bereits vor nicht einmal 14 Tagen trafen wir uns hier zu einer Sondersitzung, um über die Ministerpräsidentenkonferenz, die davor stattgefunden hatte, zu beraten. Erst am vergangenen Montag traten die neuen Verschärfungen in Kraft. Quasi unmittelbar danach begannen politisch Verantwortliche einmal mehr mit Spekulationen und Andeutungen, die nichts anderes waren als verklausulierte Ankündigungen einer Verschärfung oder zumindest Verlängerung des Lockdowns. Damit hilft man niemandem.

(Beifall SPD, FDP und SSW)

Im Gegenteil, es hat das Werben um Akzeptanz für die neuen Maßnahmen erheblich erschwert; denn es hat bei vielen Menschen den Eindruck hinterlassen, Entscheidungen würden unabhängig von der Ent

wicklung des Infektionsgeschehens getroffen. Diese Form der Kommunikation hilft nicht. Sie entwertet die gemeinsamen Beschlüsse der Bund-LänderRunden. Die Bevölkerung darf erwarten, dass gemeinsam vertreten wird, was gemeinsam beschlossen wurde.

(Beifall SPD, FDP, SSW und vereinzelt CDU)

Das ist übrigens das Mindeste, was die demokratischen Parteien zu leisten haben, wenn wir nicht wollen, dass Coronaleugner, Rechtsradikale und Wirrköpfe mit ihren Tiraden über ein angebliches Staatsversagen als politische Rattenfänger Erfolg haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch das muss bedacht werden, wenn wir über Zustimmung reden.

Ich will hinzufügen: Expertenanhörungen im internen Kreis - wie vor der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz wieder praktiziert - scheinen mir nicht übermäßig gut geeignet zu sein, die Bevölkerung mitzunehmen. Wir müssen vermeiden, dass der Eindruck von vermeintlichem Geheimwissen entstehen kann, was nicht nur wildeste Spekulationen blühen lässt, sondern auch den Verdacht nährt, dass auf fragwürdigen Grundlagen Beschlüsse gefasst werden. Das darf in der Demokratie nicht der Fall sein.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Das ist übrigens einer der Gründe, warum meine Fraktion die heutige Sondersitzung beantragt hat. Noch besser sind Parlamentsberatungen vor solchen Gipfeltreffen.

(Beifall FDP)

Ich füge hinzu: Solche Landtagsdebatten sind keine Show, wie ich gelegentlich lese, sondern sie sind das notwendige Herstellen von Öffentlichkeit für die Abwägung der politisch Verantwortlichen im Lande. In diesem Zusammenhang finde ich den Vorstoß der Freien Demokraten in diesem Hause sehr bemerkenswert, zumal er in die gleiche Richtung geht wie die Vorschläge, die die SPD-Landtagsfraktion gemacht hat.

Nicht allein das Parlament ist in der Pflicht. Die Bundesregierung und alle Landesregierungen werden sich in den kommenden Monaten mehr Mühe geben müssen, öffentlich zu erklären, auf welcher Grundlage die Beschlüsse getroffen werden, welche Szenarien wahrscheinlich erscheinen und welche als nicht plausibel verworfen worden sind. Wir müssen weg von Pressekonferenzen kommen, bei

(Dr. Ralf Stegner)

denen im Wesentlichen zu später Stunde die Beschlüsse vorgelesen werden, die schon stundenlang über die Liveticker von Boulevardzeitungen nachzulesen waren.

(Beifall SPD, FDP und Lars Harms [SSW])

In der Demokratie muss die Politik immer schlüssig begründen, warum sie welche Entscheidungen trifft. Diesen Anspruch hat die Bevölkerung zu recht.

(Christopher Vogt [FDP]: Lesen Sie etwa Springer?)

- Leider haben sich andere davon anstecken lassen, auch solche, die früher seriöser berichtet haben.

Aber ich will das trotzdem sagen: Da lese ich von Windhundverfahren, Frau Merkel gegen Frau Schwesig, als wenn wir sozusagen beim Sport wären und es darauf ankäme. Das ist für keinen der Beteiligten besonders hilfreich, füge ich hinzu. Ein bisschen Diskretion darf man auch von den Menschen verlangen, die in der Bundesrepublik Deutschland Führungsverantwortung haben. Das finde ich schon.

(Beifall SPD und vereinzelt FDP)

Das ist keine parteipolitische Bemerkung, füge ich ausdrücklich hinzu.

In der Demokratie muss die Politik schlüssig begründen, warum sie welche Entscheidungen trifft. Diesen Anspruch hat die Bevölkerung zu Recht. Wir sollten aus den vergangenen Wochen lernen. Meine Fraktion ist davon überzeugt, dass wir für die kommenden Monate eine Strategie brauchen, die nicht bereits in der übernächsten Woche über den Haufen geworfen wird, wenn wir eine breite Zustimmung in der Bevölkerung behalten beziehungsweise zurückgewinnen wollen.

Diese Strategie muss auf Maßnahmen basieren, die nachvollziehbar, transparent und effektiv sind. Darum habe ich mich gefreut, dass die Koalition in der vergangenen Woche unseren Vorschlag einer Inzidenzampel aufgegriffen hat - auch wenn Sie das anders nennen -, die das böte.

(Zurufe FDP)

Erfreulicherweise findet sich das nicht nur so ähnlich bei der FDP-Landtagsfraktion wieder, sondern auch in dem gestern verabredeten Beschluss einer Arbeitsgruppe der Ministerpräsidenten zu diesem Thema. Da wir das schon seit Monaten fordern, wünschen wir uns in dieser Frage ein bisschen mehr Drive - wenn ich das einmal sagen darf.

Das ist nicht nur wegen unserer Frisuren so, Herr Ministerpräsident - der Kollege Hamerich kann dem gelassen entgegensehen, was die Öffnung der Friseure angeht, aber andere haben da schon Bedarf -; das ist nicht der einzige Grund.

(Heiterkeit)

Die Fotografen machen ohnehin mit uns, was sie wollen. Insofern müssen wir damit umgehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Ernst: Wir leben glücklicherweise in einem Land, in dem alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf umfangreiche Freiheitsrechte haben. Diese wurden von unseren Vorgängergenerationen der Obrigkeit abgetrotzt und hart genug erkämpft. Sie sind der Grundpfeiler unserer demokratischen Verfassung. Begründet werden muss nicht, wenn diese Rechte in Kraft sind, denn das ist der Normalzustand, sondern begründet werden muss immer ihre Einschränkung. Diese Begründung muss überzeugend sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall SPD, FDP, vereinzelt SSW und Bei- fall Tim Brockmann [CDU] und Werner Ka- linka [CDU])

Das gilt übrigens umso strenger, je länger diese Einschränkungen dauern. Wir fangen an, uns an Dinge zu gewöhnen, an die wir uns nicht gewöhnen dürfen. Alle Maßnahmen müssen verhältnismäßig, angemessen und faktenbasiert sein. Genau dabei würde die Inzidenzampel helfen, weil sie den Anlass für Einschränkungen transparent und verständlich macht, und auch aufzeigt, wann die Bedingungen für Einschränkungen nicht mehr gegeben sind.

Zum Glück haben wir eine unabhängige Justiz, die die Maßnahmen wirksam kontrolliert und gegebenenfalls einschreitet. Aber besser ist es, wenn wir das von vornherein im Auge behalten. Das erscheint mir sehr viel Akzeptanz versprechender zu sein als so manche brachial vorgetragene Forderung nach Ausgangssperren und Radiuseinschränkungen, wie wir sie gerade aus dem Süden der Republik vernehmen. Das ist politische Kraftmeierei, die vom realen Infektionsgeschehen ablenken soll, kein Problem löst, aber viele Probleme schafft.

(Beifall SPD, FDP und SSW)

Deshalb ist es gut, dass sich derlei politischer Unfug in den Verabredungen von gestern nicht wiederfindet. Ich füge aber hinzu: Wir hätten das auch nicht mitgetragen.