Protocol of the Session on June 17, 2020

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Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 33. Tagung des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Das Haus ist ordnungsgemäß einberufen und beschlussfähig.

Erkrankt sind die Abgeordneten Hauke Göttsch, Dr. Andreas Tietze und Anita Klahn. Wir wünschen ihnen gute Besserung.

(Beifall)

Wegen auswärtiger Verpflichtungen sind beurlaubt: Ministerpräsident Daniel Günther ganztägig, Frau Finanzministerin Heinold nachmittags und Frau Ministerin Sütterlin-Waack ab 12 Uhr. Ich will gern für das Haus insgesamt sagen: Es finden während dieser Tagung eine ganze Reihe von Fachministerkonferenzen und Ministerpräsidentenkonferenzen statt, die sich sehr ballen. Das hat natürlich auch etwas mit der Coronapandemie zu tun. Wir haben das im Ältestenrat entsprechend erörtert.

Heute zum ersten Mal auf der Regierungsbank Platz genommen hat Frau Dr. Silke Torp als neue Staatssekretärin im Finanzministerium. - Herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, heute, vor genau 67 Jahren, erhoben sich Hunderttausende Deutsche in der damaligen DDR. Sie gingen auf die Straße und demonstrierten gegen die Politik der kommunistischen Einparteienherrschaft der SED. Neben Streiks und Demonstrationszügen kam es auch zu Gefangenenbefreiungen und sogar zur Besetzung von Dienststellen der Staatssicherheit.

Dieser Volksaufstand war der erste demokratische Massenprotest von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit der Menschen in der DDR mit dem kommunistischen Zwangssystem und seinem Kontrollanspruch über das Leben und die Freiheiten der Einzelnen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen - das bedrängte SED-Regime musste dazu sowjetische Truppen mit Panzern zu Hilfe rufen. 34 Menschen ließen am 17. Juni 1953 ihr Leben, 1.600 Menschen wurden nach den Ereignissen vor Gericht gestellt und zu langen Haftstrafen verurteilt, zwei Menschen wurden hingerichtet.

Meine Damen und Herren, der 17. Juni wurde im Jahre 1990 mit der Vollendung der Deutschen Ein

heit durch den 3. Oktober als neuem Feiertag ersetzt. Als Gedenktag jedoch ist er bis heute ein wichtiger Bestandteil der historischen Erinnerung an unsere jüngere deutsche Geschichte.

Der 17. Juni 1953 hat aber auch eine größere osteuropäische Dimension, denn der mutige Aufstand in der damaligen DDR inspirierte direkt oder indirekt auch die Aufstandsbewegungen von 1956 in Ungarn, von 1968 in der Tschechoslowakei und von 1980 in Polen.

Für uns Deutsche ist der 17. Juni eine stete Mahnung daran, dass Freiheit vor allem auch Mut braucht. Demokratie, Grund- und Menschenrechte sind keine Geschenke, sondern sie sind das Ergebnis eines niemals nachlassenden aktiven Bekenntnisses zu ihnen. Unsere Freiheitsrechte müssen täglich mit Leben gefüllt werden. Jeder von uns kann dazu seinen individuellen Beitrag leisten.

Die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten von Amerika und die dort in Demonstrationen geäußerte Kritik an rassistischem Verhalten von Polizeikräften haben deshalb auch viele Menschen in Deutschland dazu motiviert, Rassismus und Diskriminierung in unserem Land zu thematisieren, um dadurch einen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess anzuregen. Dieses Engagement steht, wenn es friedlich und gewaltlos geschieht, in bester demokratischer Tradition unseres Landes.

Meine Damen und Herren, das Gedenken an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ist ein Kernbestand unseres demokratischen Erbes. Zwischen den Ereignissen von damals und der friedlichen Protestbewegung der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR im Herbst 1989 besteht ein enger Zusammenhang. Einheit, Freiheit und Demokratie wurden 1989 durch eine friedliche, aber in ihren Forderungen unnachgiebige Zivilgesellschaft erkämpft. Der besondere Mut, den die Ostdeutschen angesichts des gnadenlosen Stasi-Unterdrückungsapparates der SED dafür aufbringen mussten, lässt sich erst vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse von 1953 angemessen würdigen.

Die Aufständischen von 1953 und die Demonstranten von 1989 sind Meilensteine und Vorbilder für ein entschiedenes Bekenntnis zur Demokratie. Wenn wir heute an diese Menschen erinnern, so ist dieses Erinnern uns zugleich Mahnung und Ansporn, nicht nachzulassen, wenn es um die wehrhafte Verteidigung von Grund- und Menschenrechten in unserem Land, in Europa und der ganzen Welt geht. - Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Haus)

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verständigt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Reihenfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln:

Zu den Tagesordnungspunkten 2, 5, 6, 10, 13 bis 16, 19, 20, 21, 29, 31, 36, 40, 58, 59, 62, 64, 65 und 66 ist eine Aussprache nicht geplant.

Von der Tagesordnung abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte 8, 24, 28, 30, 63 und 70 bis 74.

Zur gemeinsamen Beratung vorgesehen sind die folgenden Tagesordnungspunkte: 3 und 7, Gesetz zur Aussetzung des Anpassungsverfahrens sowie zur Änderung des Schleswig-Holsteinischen Abgeordnetengesetzes, 4 und 55, Gesetz über die Errichtung der Anstalt Schleswig-Holsteinischer Landesforsten und Nutzungsausfallprämie bei Neuwaldbildung einführen, 18 A und 35, Entwurf eines Gesetzes und Antrag zum Staatsvertrag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland, 25 und 67, Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Solidarische Akzente setzen! und Europabericht 2019 bis 2020, 32, 33 und 34, Schluss mit Werkverträgen in der Fleischindustrie - gute Arbeitsbedingungen durchsetzen und prekäre Wohnsituation von Arbeitskräften in Schleswig-Holstein beenden!, 38 und 44, Regelmäßige Tests auf SARS-CoV-2 für Sozialberufe ermöglichen mit Bericht zum Coronavirus und seinen Auswirkungen auf Schleswig-Holstein, 41 und 69, Linksextremismus ächten - Politische Gewalt gegen Politiker und Parteien darf nicht toleriert werden und Verfassungsschutzbericht 2019, 42 und 45, Familien, Alleinerziehende und Kinder in der Coronakrise stärker unterstützen, 43 und 54, mündlicher Bericht zu sogenannten Grundrechte- oder Hygienedemonstrationen in Schleswig-Holstein und Verschwörungserzählungen stoppen, 46 und 61, Familien bei schulischen Lernmitteln unterstützen, 47, 48, 53 und 57, Anträge zu Hilfen für die berufliche Bildung, Kulturschaffende, öffentlicher Personennahverkehr und ein Konjunktur- und Krisenbewältigungsprogramm sowie 49, 50, 51 und 52, Bericht und Anträge zu Wirtschaftshilfen in der Coronapandemie.

Anträge zu einer Fragestunde oder einer Aktuellen Stunde liegen nicht vor.

Wann die weiteren Tagesordnungspunkte voraussichtlich aufgerufen werden, ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Übersicht über die Reihenfolge der Beratungen der 33. Tagung.

(Präsident Klaus Schlie)

Wir werden morgen um 9 Uhr beginnen und heute und morgen unter Einschluss einer zweistündigen Mittagspause längstens bis 18 Uhr tagen. Am Freitag beginnen wir ebenfalls um 9 Uhr und tagen mit einer einstündigen Mittagspause bis circa 16 Uhr; so jedenfalls steht es hier. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, hängt aber davon ab, wie Sie die Diskussion gestalten.

(Heiterkeit)

Ich höre keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.

Ich freue mich, dass ich heute auf der Besuchertribüne einzelne Besucherinnen und Besucher begrüßen kann. Wir freuen uns, dass es auch wieder ein Stückchen möglich ist, dass diese direkt und unmittelbar an unseren Sitzungen teilnehmen können. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32, 33 und 34 auf:

Gemeinsame Beratung

a) Schluss mit Werkverträgen in der Fleischindustrie - Gute Arbeitsbedingungen durchsetzen

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 19/2188

Beschäftigungsbedingungen für Werkvertragsarbeitnehmer und Werkvertragsarbeitnehmerinnen wirksam verbessern

Alternativantrag der Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Drucksache 19/2253

b) Prekäre Wohnsituation von Arbeitskräften in Schleswig-Holstein beenden!

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 19/2189

c) Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen der Freizügigkeit wahren und Neuregelungen der EU-Entsenderichtlinien in Schleswig-Holstein umsetzen

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 19/2190

Das Wort zur Begründung, sehe ich, wird nicht gewünscht.

Nach Einigung im Ältestenrat hat die Fraktion der SPD zu diesem Tagesordnungspunkt 10 Minuten Redezeit beantragt. Bei den übrigen Tagesordnungspunkten haben wir uns auf eine Redezeit von 7 Minuten verständigt.

Das Wort für die Fraktion der SPD hat der Herr Oppositionsführer, der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Ralf Stegner.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Coesfeld, Dissen, Birkenfeld, Bogen, Ulm, Bad Bramstedt - alles Orte, die in der neueren Zeit wegen Corona-Neuinfektionen in Schlachthöfen in die Schlagzeilen gekommen sind. Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum sich gerade dort die Infektionen häufen: im Akkord schlachten, zerlegen, verpacken; das ist körperlich knallharte Arbeit, niedrige Temperaturen in den Kühlräumen, lange Schichten, beengte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Hängen bleibt: Das stimmt etwas nicht.

Der Skandal hinter dem Skandal ist dabei offensichtlich: Erst mit der Coronapandemie, als die Bedingungen in den deutschen Fleischfabriken wegen der Gefahr von Hotspots und Infektionsherden auch die Mehrheitsgesellschaften direkt betrafen, bekamen die Beschäftigten in der Fleischindustrie die öffentliche und breite Aufmerksamkeit, die ihnen schon längst zugestanden hätte. So muss die Bilanz der letzten Wochen lauten, und darauf kann niemand stolz sein.

Zwei Drittel der Beschäftigten bei den vier großen Fleischkonzernen sind nach Schätzungen der Gewerkschaften Werksvertragsarbeiter; ein großer Teil von ihnen kommt aus Rumänien. Die Tatorte sind hauptsächlich in NRW, Niedersachsen und bei uns in Schleswig-Holstein.

Werkverträge sollen eigentlich Flexibilität bei spezialisierten Tätigkeiten bieten. In der Realität werden sie aber genutzt, um systematisch Löhne zu drücken, Verantwortung zu verschachteln, bis kaum noch durchgestiegen werden kann, für wen der Arbeitnehmer im Betrieb gerade tätig ist und wer dafür die Verantwortung hat. Das ist im Übrigen bislang ein Wundermittel gegen wirksame Kontrollen. So gedeiht Lohnsklaverei im 21. Jahrhundert.

(Beifall SPD)

Nach der Recherche des NDR hatten wir alle in der vergangenen Woche Gelegenheit, Einblick in die Realität der Vertragstricksereien zu bekommen.

(Präsident Klaus Schlie)

Höchst zweifelhafte Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen sollen Arbeitnehmer davon abhalten, Beratung zu suchen und Zustände in ihren Betrieben zu verschleiern. Knebelverträge schreiben bei Kündigung die Rückzahlung des Lohns für eine Ausbildungszeit fest, die es in der Realität der Betriebe gar nicht gibt. Damit stellt man sicher, dass der Arbeitnehmer auch bei unwürdigsten Bedingungen nicht in Versuchung kommt zu gehen. Miteinander reden dürfen sie auch nicht, wenn sie es mit ihren sprachlichen Kenntnissen überhaupt können.

Der Mindestlohn wird systematisch unterlaufen, indem massenhaft unbezahlte Überstunden weit jenseits des Arbeitszeitgesetzes Normalität sind.