Protokoll der Sitzung vom 23.11.2011

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit Entsetzen und Abscheu haben wir von den furchtbaren Verbrechen rechtsextremistischer Mörder erfahren. Ich bitte darum, dass wir uns vor Eintritt in die Tagesordnung im stillen Gedenken an die Opfer von unseren Plätzen erheben.

(Die Anwesenden erheben sich.)

Danke.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 44. Sitzung des 5. Sächsischen Landtags.

Folgende Abgeordnete haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt: Frau Kagelmann, Frau Clauß, Frau Neukirch und Herr Petzold.

Die Tagesordnung der heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat für die Tagesordnungspunkte 3 und 4 sowie 7 bis 10 folgende Redezeiten festgelegt: CDU bis zu 90 Minuten, DIE LINKE bis zu 60 Minuten, SPD bis zu 36 Minuten, FDP bis zu 36 Minuten, GRÜNE bis zu 30 Minuten, NPD bis zu 30 Minuten, Staatsregierung 60 Minuten. Die Redezeiten der Fraktionen und der Staatsregierung können auf diese Tagesordnungspunkte je nach Bedarf verteilt werden.

Ich sehe, dass weder Änderungsanträge zur Tagesordnung noch Dringliche Anträge gestellt werden. Ich sehe auch keinen Widerspruch gegen die Tagesordnung. – Die Tagesordnung der 44. Sitzung ist damit bestätigt.

Wir treten ein in

Tagesordnungspunkt 1

Erklärung des Staatsministers des Innern zum Thema:

Information des Staatsministers des Innern zum Sachstand

zum „Nationalsozialistischen Untergrund“

Im Präsidium wurden zu diesem Tagesordnungspunkt folgende Redezeiten vereinbart: Staatsregierung bis zu 45 Minuten, CDU bis zu 33 Minuten, DIE LINKE bis zu 24 Minuten, SPD bis zu 14 Minuten, FDP bis zu 14 Minuten, GRÜNE bis zu 12 Minuten, NPD bis zu 12 Minuten.

Ich übergebe das Wort zunächst an den Staatsminister des Innern, Herrn Markus Ulbig, und bitte ihn nach vorn an das Rednerpult.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Vor etwa zweieinhalb Wochen begann eine Kette von Ereignissen, die täglich neue Erkenntnisse zutage bringt. In ganz Deutschland sind die Menschen fassungslos und bestürzt; auch ich als Innenminister bin darüber bestürzt. Ich bedaure zutiefst, dass es nicht gelungen ist, die Verbrechen und das Leid der Familien, Angehörigen und Freunde der Opfer zu verhindern.

Zu Beginn ein kurzer Rückblick:

Freitag, 4. November 2011: Zwei Männer überfallen eine Bank in Eisenach in Thüringen und fliehen. Einige Stunden später entdecken Polizisten ihre Leichen in einem Wohnmobil. Es werden verschiedene Schusswaffen gefunden. Am gleichen Tag explodiert in Zwickau ein Wohnhaus. Es ist unklar, was mit den Bewohnern passiert ist.

Montag, 7. November 2011: Es stellt sich heraus: Unter den Waffen aus dem Wohnmobil befinden sich die Dienstwaffen einer Polizistin, die 2007 in Heilbronn in

Baden-Württemberg umgebracht wurde, und ihres Kollegen, der damals schwerst verletzt worden war. Die beiden Bankräuber werden identifiziert; es sind Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie haben zusammen mit einer Frau in Zwickau gelebt, in dem Haus, das am Tag des Banküberfalls explodierte. Die Frau wird mit internationalem Haftbefehl gesucht.

Dienstag, 8. November 2011: Die Gesuchte, Beate Zschäpe, stellt sich der Polizei in Jena.

Mittwoch, 9. November 2011: Es wird bekannt: Die beiden Männer gehörten zum rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“.

Donnerstag, 10. November 2011: Im explodierten Wohnhaus in Zwickau finden Ermittler weitere Schusswaffen.

Freitag, 11. November 2011: Es wird klar: Mit einer der Waffen wurden neun weitere Morde verübt. Acht türkischstämmige und ein griechischer Mitbürger waren zwischen 2000 und 2006 umgebracht worden. Es wird eine Bekenner-DVD mit rechtsextremistischem Propagandamaterial gefunden. Die Gruppe nennt sich „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“. Die Bundesanwaltschaft übernimmt die Ermittlungen.

An diesem Freitag wird uns klar: Wir haben es mit Rechtsterrorismus zu tun, mit Terroristen, die aus rechtsextremistischen Motiven heraus Menschen töten. Diese Tage verändern etwas in unserem Land. Mit diesen Erkenntnissen hatte keiner gerechnet. Überall in Deutschland sind die Menschen bestürzt und beunruhigt. Eine solche Dimension rechtsextremistischer Gewalt bis hin zu

dieser Form des Rechtsterrorismus konnte sich offenkundig keiner vorstellen – wir alle nicht und auch ich persönlich nicht.

Ich hatte während meiner Oberbürgermeisterzeit in Pirna viel mit Rechtsextremismus zu tun. Neonazis, die mit Gewalt gegen Andersdenkende für Angst sorgten; NPDWahlkämpfer im Stadtzentrum; Kameradschaften und „Freie Kräfte“ – damit musste ich mich fast täglich auseinandersetzen. Deshalb haben wir damals ein Netzwerk aus Behörden und gesellschaftlichen Kräften gegen diese Extremisten ins Leben gerufen.

Es gab in der Region auch gefährliche, militante Strukturen, allen voran die „Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) “. Bei ihnen fanden die Ermittler Sprengstoff, Schusswaffen und Stichwaffen. Der damalige Innenminister Klaus Hardraht hat die Gruppierung dann verboten. Hier hat das Vorgehen der Ermittlungsbehörden offenbar gut funktioniert. An anderer Stelle war das nicht der Fall. Das ist erschütternd und alarmierend.

Jahrelang wurden quer durch Deutschland schwerste Verbrechen verübt, und niemand hat die Täter identifiziert. Niemand konnte sie deshalb zur Verantwortung ziehen. Das schockiert die Menschen in unserem Land, und es erschüttert das Vertrauen in die zuständigen Ermittlungsbehörden. Diese Empfindungen kann ich nachvollziehen. Ich kann sie vor allem auch nachvollziehen angesichts der immer neuen Erkenntnisse und der vielen weiteren Fragen, die in den letzten Tagen aufgekommen sind.

Überall in Deutschland fragen wir uns: Wie kann es sein, dass Rechtsterroristen in unserem Land jahrelang unentdeckt Morde und schwere Raubüberfälle verüben konnten? Wie kann es sein, dass offenbar niemand in der Lage war, diese Taten überhaupt einem rechtsextremistischen Hintergrund zuzuordnen? Wir fragen uns: Wo haben Ermittlungsbehörden bei Bund und Ländern versagt, dass es nicht so weit kommen konnte, dass wir diese furchtbaren Verbrechen nicht verhindert haben?

Wir alle wollen schnellstmögliche Antworten auf diese Fragen. Diese Antworten sind wir vor allem den Familien, Angehörigen und Freunden der Opfer schuldig. Wir müssen aber begreifen, dass wir noch am Anfang der Ermittlungen stehen. Im Moment führen der Generalbundesanwalt und das BKA alle Erkenntnisse aus den Behörden von Bund und Ländern zu einem Strafverfahren zusammen. Es geht um ein Gesamtbild von Tätern, Taten und Helfern. Mit schnellen, voreiligen Schuldzuweisungen ist niemandem geholfen. Wir müssen die einzelnen Zusammenhänge umfassend aufklären. Deshalb gilt: Der aktuelle Sachstand kann nur ein Zwischenstand sein.

Die Frage lautet also: Was wissen wir bisher sicher? Dazu wurde in dieser Woche bereits in der Parlamentarischen Kontrollkommission und in der Sondersitzung des Innenausschusses umfassend Auskunft gegeben. An dieser Stelle möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse zusam

menfassen. Bitte haben Sie Verständnis, dass es für ein abschließendes Fazit derzeit noch zu früh ist.

Die konkreten Hintergründe der Terrorzelle sind momentan noch unklar. Wir wissen lediglich, dass die Vorgehensweise der Täter ein absolutes Novum darstellt. Nach den Taten hat sich niemand zu den Morden bekannt. Es gab offenbar keine weiterführenden Hinweise auf eine politische Motivation und es ist nicht gelungen, die Täter dem Rechtsextremismus zuzuordnen und die Taten aufzuklären. Erst jetzt wurde die Bekenner-DVD öffentlich. Klar ist, dass die bestehenden Maßnahmenkonzepte der Sicherheitsbehörden nach diesen Erfahrungen gründlich überprüft werden müssten.

Für Sachsen kann ich sagen, dass sich im Jahr 2000 das LKA Thüringen als fahndungsführende Dienststelle an die sächsische Polizei wandte. Thüringen bat um Unterstützung bei der Zielfahndung nach den heute als Mitglieder des NSU bekannten Personen. Die drei wurden damals als mutmaßliche Bombenbauer gesucht. Die sächsische Polizei leitete Maßnahmen ein. Die gesuchten Personen konnten jedoch nicht festgenommen werden. Auch das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen wandte sich an das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz und bat um Hilfe bei der Suche nach den Tätern. Der sächsische Verfassungsschutz hat die Thüringer Kollegen unterstützt. Darüber hinaus wurden eigene Anstrengungen unternommen, um auf den Verbleib der Gesuchten und ihrer Unterstützer aufmerksam zu werden bzw. diese zu finden. Bekanntermaßen führten diese Maßnahmen nicht zum Erfolg.

Der Präsident des Sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz hat am Montag in der Parlamentarischen Kontrollkommission klargestellt, dass es durch den sächsischen Verfassungsschutz zu keiner Zeit Kontakt zu den drei Gesuchten oder sonst irgendeine Form der Unterstützung gegeben hat. Der sächsische Verfassungsschutz hatte zu keinem Zeitpunkt Kenntnis vom Versteck der Flüchtigen. Auch die Banküberfälle in Sachsen in den Jahren 1999 bis 2006, die möglicherweise auf das Konto des NSU gehen, konnten zum damaligen Zeitpunkt trotz besonders öffentlichkeitswirksamer Fahndungsmaßnahmen, zum Beispiel die Sendung „Kripo live“ oder „XY ungelöst“, nicht aufgeklärt werden. Es wurde auch eine Belohnung ausgesetzt.

Die Polizei ermittelt derzeit intensiv hierzu sowie zu weiteren möglichen Straftaten, die durch die Mitglieder des NSU begangen wurden. Sollte sich ein Zusammenhang belegen lassen, werden diese Verfahren voraussichtlich durch den Generalbundesanwalt übernommen. Zu den Ermittlungen des Generalbundesanwalts selbst kann ich keine Aussagen machen.

Eines, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig. In diesen Tagen höre ich öfter den Vorwurf, die Staatsregierung habe den Rechtsextremismus jahrelang unterschätzt, sie sei auf dem rechten Auge blind gewesen. Dagegen verwahre ich mich. Die Staatsregierung setzt sich entschieden gegen jede

Form des politischen Extremismus ein. Schwerpunkt dabei war und ist die Bekämpfung des Rechtsextremismus,

(Beifall bei der CDU, der FDP und vereinzelt bei der SPD)

sowohl durch Repression, also durch Strafverfolgung, als auch durch Prävention. Wir haben frühzeitig entsprechende Strukturen bei der Polizei geschaffen. Seit 1991 gibt es die Sonderkommission Rechtsextremismus beim Landeskriminalamt Sachsen. In dieser Zeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat die Soko Rex 2 100 Fallkomplexe bearbeitet, 90 % davon aufgeklärt, 6 200 Tatverdächtige ermittelt, 2 000 Objekte durchsucht und 470 Haftbefehle vollstreckt. Ende 2009 habe ich die Soko Rex um zehn Ermittler auf jetzt 40 Leute aufgestockt. Darüber hinaus haben wir beim LKA ein Mobiles Einsatzkommando Staatsschutz. In allen Polizeidirektionen gibt es bei der Kriminalpolizei Fachdezernate für Staatsschutz.

Wir sind tätig geworden, wo sich rechtsextreme Strukturen als besonders gefährlich herausgestellt haben: das Verbot der SSS im Jahr 2001, das Verbot von „Sturm 34“ im Jahr 2007, die Unterstützung von Vereinsverboten mit bundesweiter Bedeutung, beispielsweise der „Heimattreuen deutschen Jugend“ im Jahr 2009. Darüber hinaus sind wir präventiv tätig. Seit 2005 gibt es das Programm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“. In den vergangenen sechs Jahren wurden insgesamt mehr als 11 Millionen Euro für über 600 Projekte zur Verfügung gestellt, die sich für die Stärkung unserer Demokratie und gegen Extremismus einsetzen. Die Fördersumme für nächstes Jahr wird um 1 Million Euro auf 3 Millionen Euro erhöht. 2008 haben wir zudem den Landespräventionsrat eingerichtet. Seit Kurzem haben wir ein Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten.

Die Sächsische Staatsregierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat den Rechtsextremismus nicht unterschätzt. Ich habe auch hier im Landtag vor Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, immer wieder gesagt: Das größte Extremismusproblem im Freistaat Sachsen ist der Rechtsextremismus. Klar ist aber auch: Wir müssen den Rechtsextremismus in Deutschland neu bewerten. Die neue Qualität vom Rechtsextremismus hin zum Rechtsterrorismus stellt eine Zäsur dar. Hierzu müssen vorhandene Lücken in Ermittlungsprozessen aufgezeigt und durch die Behörden geschlossen werden. Obwohl längst noch nicht alle Informationen vorliegen und eine endgültige Aussage nicht möglich ist, ist für mich ein Fazit unausweichlich:

Was immer auch durch die Sicherheitsbehörden getan wurde, im Ergebnis steht fest: Es war nicht erfolgreich und es war nicht ausreichend, um das Trio aufzuspüren und entsprechend dingfest zu machen. Die Menschen in Deutschland erwarten eine zügige und umfassende Darstellung und Aufklärung darüber, wo Fehler gemacht worden sind. Zu dieser Aufklärung leistet auch Sachsen – wo immer möglich – seinen Beitrag.

Die Aufarbeitung ist das eine. Das andere ist die Frage, wie wir rechtsextremistische und rechtsterroristische Strukturen in Zukunft verfolgen und wie wir diesen entgegentreten wollen. Vergangenen Freitag gab es dazu ein Treffen der Innen- und Justizminister von Bund und Ländern in Berlin. Wir haben bereits erste Schritte vereinbart, wie die Abstimmungsprozesse zwischen den Ermittlungsbehörden von Bund und Ländern verbessert werden. Zum einen haben wir uns darauf geeinigt, eine Verbunddatei für gefährliche Rechtsextremisten einzurichten. Zum anderen haben wir uns auf ein gemeinsames „Abwehrzentrum Rechtsextremismus“ verständigt.

Zudem waren wir uns einig: Wir werden auch in Zukunft nicht auf die Arbeit des Verfassungsschutzes verzichten können. Allerdings muss die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Verfassungsschutzämtern

verbessert werden.

Auf dem Treffen wurde auch die Forderung nach einem neuen NPD-Verbotsverfahren laut. Das kann ich grundsätzlich verstehen; und ganz besonders, wenn ich hier nach rechts außen schaue, dann kommt mir natürlich auch dieser Gedanke wieder in den Sinn. Es sagt schon viel aus, wie sich die NPD zu den ganzen Ereignissen positioniert. Sie macht zunächst einmal das, was sie am besten kann: das Opfer spielen und von großen Verschwörungen gegen sogenannte nationale Deutsche und ihre Partei reden. Kein Wort der Betroffenheit, kein Funken des Bedauerns.

(Jürgen Gansel, NPD: Lies doch mal die Presseerklärung! – Holger Apfel, NPD: Lügner!)

Die NPD tut so, als ginge sie das alles gar nichts an. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sind die ideologischen Brandstifter, die den geistigen Nährboden für die rechtsextremen Gewalttäter bereiten.

(Beifall bei der CDU, den LINKEN, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

Die NPD-Fraktion hier im Landtag pflegt enge Kontakte zur gewaltbereiten Szene, –