Protokoll der Sitzung vom 11.06.2012

Es muss auch nicht so sein. Wenn man sich nicht so stur anstellen würde, müsste das auch nicht so sein; es wäre nicht nötig. Man hat da vielleicht auch Leute und ihr gutes Leben oder überhaupt ihr Leben ohne Not zu sehr der Katastrophe ausgesetzt.

Deswegen bin ich richtig dankbar, dass sich Karlsruhe Zeit lässt. Ich bin dankbar, dass Leute geklagt haben – egal, aus welchen Motiven. Ich bin dankbar, dass Karlsruhe sich Zeit lässt; denn gutes Ding will Weile haben. Das gilt gerade in solch existenziellen Fragen. Katastrophe ist ja inzwischen jeden Tag; da muss man keine Hektik mehr entfalten. „Not kennt kein Gebot“ ist jedoch eine außerordentlich gefährliche Devise und hat ganz oft zu undemokratischen Zuständen geführt.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Die Märkte haben den Stopp des ESM in Deutschland eingepreist. Auch Herr Schäuble hat übrigens eine Art von Monstranz vor sich hergetragen bzw. einen Schutzschild aufgebaut, als er meinte, die Märkte würden kollabieren, nur weil sich Herr Voßkuhle und seine Kollegen ein bisschen mehr Zeit nehmen. Das stimmt nicht.

Ihre Redezeit geht zu Ende.

Ja, die 20 Sekunden sehe ich noch. – Die Eile ist nicht nötig.

Frau Kollegin, Vorsicht mit Ihren Kommentaren!

Entschuldigung! – Spanien und Zypern haben sich rechtzeitig bei der EFSF angemeldet. Sie sind nicht zum ESM gegangen. Das heißt, die Zeit ist da. Die Länder, die Hilfe brauchen, können auf bestehende Rettungsfonds zurückgreifen, sie brauchen keine neuen. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sachsen sich aus seiner selbstgewählten Isolation verabschieden würde.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Für die Fraktion GRÜNE sprach die Abg. Hermenau. – Für die NPD-Fraktion spricht jetzt der Abg. Storr.

(Zuruf von der SPD: Oh nein!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon interessant, was heute im Rahmen einer Regierungserklärung gesagt worden ist. Aber noch viel interessanter ist, was nicht gesagt worden ist. Interessant fand ich auch, dass die Staatsregierung, die immerhin einen Zeitrahmen von 45 Minuten hatte, diesen bei Weitem nicht ausgenutzt hat. Ich fand es zudem bemerkenswert, dass auch die CDU als Regierungsfraktion – mit einem Zeitrahmen von immerhin 33 Minuten – ihre Redezeit nicht ausgenutzt hat. Das steht in einem Missverhältnis zu der Bedeutung der Entscheidung, über die wir heute reden.

Ich hatte mir schon gewünscht – ich hatte es eigentlich auch erwartet –, dass die Staatsregierung ihre Entscheidung und die vorausgehende Abwägung vor diesem Parlament und damit vor der Öffentlichkeit erläutern würde. Stattdessen habe ich eigentlich nichts zum ESM gehört. Ich habe nichts gehört von den Gefahren und Risiken, die bestehen. Es ist immer noch offen, ob der ESM tatsächlich das hält, was er verspricht. Ich habe nichts dazu gehört, warum wir heute überhaupt über so einen Vertrag wie den zum ESM diskutieren. Das alles hat eine Vorgeschichte. Verträge sind gebrochen, Statistiken gefälscht worden – wie will man das bitte schön für die Zukunft ausschließen? Ich hatte erwartet, dass die Staatsregierung auf all diese Fragen und auf noch viel mehr, die ich aus Zeitgründen hier nicht nennen kann, eingehen würde.

Ich sage: Dass diese Dinge hier nicht angesprochen worden sind, beruht letztlich – so ist mein Vorwurf – auf einer Täuschung. Ich glaube nicht, dass die Staatsregierung die Risiken nicht zur Kenntnis nimmt und nicht um sie weiß. Aber sie will über diese Risiken in der Öffentlichkeit nicht sprechen. So kommen wir als NPD-Fraktion zu dem Ergebnis, dass im Rahmen dieser Regierungserklärung die Bürger noch nie so frech und offen belogen worden sind; denn dass einfach entscheidende Dinge weggelassen werden, ist auch schon eine Lüge.

Bei der Entscheidung am 29. Juni in Bundestag und Bundesrat mag vieles eine Rolle gespielt haben: finsterste Ahnungslosigkeit und dumpfer Opportunismus, mangelnder Selbstbehauptungswille und aus reinstem Untertanengeist gespeister Kadavergehorsam gegenüber fremden Mächten, die pure Lust an der Entrechtung des eigenen Volkes und der Zerstörung des Nationalstaates.

Zwei Dinge haben an jenem Tag sicherlich keine Rolle gespielt: Solidität und Solidarität. Herr Tillich, ersparen Sie uns doch bitte Ihr heutiges Solidaritätstheater! Wir alle wissen, dass das ESM-Ermächtigungsgesetz im Stile eines Notstandsgesetzes durch Bundesrat und Bundestag gepeitscht wurde – so, als sei die Zeit der Präsidialdiktaturen der späten Weimarer Republik zurückgekehrt.

Im Zuge des beschleunigten Gesetzgebungsverfahrens über das ESM-Ermächtigungsgesetz hat man sich nicht einmal mehr die Mühe gegeben, dem Ganzen überhaupt noch ein scheindemokratisches Mäntelchen überzuwerfen.

Der Journalist Günther Lachmann schildert die Vorgänge am späten Nachmittag und Abend des 29. Juni in der Zeitung „Die Welt“ in seinem Artikel „Auflösungserscheinungen der demokratischen Ordnung“ so – ich zitiere –: „Es ist schlicht unfassbar, warum Parlamentarier und Vertreter der Länder so etwas mitmachen. Denn als sie die Abstimmungsunterlagen am 29. März das erste Mal berieten, fehlte darin glatt der komplette Teil über die Beteiligungsrechte des Bundestages! An der betreffenden Stelle fand sich nur eine Klammer mit Pünktchen.

Nicht einmal als Abgeordnete und Ländervertreter dann in freitäglichen Nachtsitzungen endgültig den folgenschweren Gesetzen zustimmten, waren die Abstimmungsunterlagen korrekt. Es fehlten die vom EU-Gipfel tags zuvor beschlossenen Änderungen. Weder die Direktzahlung von Milliardenhilfen an die Großbanken durch den ESM war darin aufgeführt noch die vom Gipfel beschlossenen Finanzhilfe-Instrumente.

Kann eine Regierung ihre Geringschätzung gegenüber dem Parlament und damit gegenüber der Demokratie noch stärker zum Ausdruck bringen? Aber es stellt sich im Gegenzug auch die Frage, wie diese Abgeordneten und Ländervertreter ihr Verhalten gegenüber den Wählern rechtfertigen wollen. Ob sie sich der Gefahr bewusst sind, die heraufzieht, wenn das Volk sich von ihnen abwendet?“

Dieser Tag, meine Damen und Herren, wird hoffentlich früher kommen, als Sie sich das jetzt noch vorstellen können. Während sich Sachsen unter einem Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf bei der Euro-Einführung wenigstens noch enthielt, weil sich wohl insbesondere der Ökonom Biedenkopf der großen Risiken einer Zwangseinheitswährung bewusst war, macht der Freistaat unter dem Ministerpräsidenten Tillich jede noch so katastrophale Wendung der Rettungspolitik mit.

Worüber wollten Sie uns heute eigentlich berichten, Herr Ministerpräsident? Im Bundesrat waren Sie selbst bei der Abstimmung über den Fiskalvertrag und den ESM am 29.06.2012 nicht anwesend. Staatsminister Beermann, der Sie dort vertrat, gab nur eine gewohnt inhaltsarme Erklärung des Ministerpräsidenten zu Protokoll. In dieser sehr kurzen Erklärung finden sich lediglich einige dürre Anmerkungen zum Fiskalvertrag. Aussagen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus sucht man in dieser Erklärung der Staatsregierung vergeblich.

Sollen wir uns darüber freuen, dass mit dem ESM die Nationalstaatlichkeit Deutschlands aufgelöst und die repräsentative Demokratie in Deutschland beschädigt werden, da mit der Verabschiedung des ESM-Vertrags der Bundestag sein Budgetrecht unwiderruflich auf eine Luxemburger Zweckgesellschaft überträgt?

Sollen wir uns wirklich darüber freuen, dass die Hoheit über die deutschen Finanzen nun einem nicht gewählten, nicht kontrollierbaren und nicht haftbaren Gremium von selbsternannten und demokratisch nicht legitimierten sogenannten „Gouverneuren“ übertragen wird, denen über den ESM unbegrenzter Zugriff auf das Steueraufkommen der deutschen und aller europäischen Bürger verschafft wird und die Immunität von gerichtlichen Verfahren jeder Art genießen, also Immunität von Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und schlicht jedweder denkbaren Form des Vollzugs gerichtlicher oder gesetzgeberischer Maßnahmen?

Sollen wir uns darüber freuen, dass der ESM das Haftungsverbot, nach dem kein Land für die Schulden eines anderen Landes haftet, in das Gegenteil umkehrt und stattdessen eine Transferunion schafft, die die Kräfte Deutschlands übersteigt und unser Land in den sicheren Staatsbankrott treibt?

Sollen wir uns darüber freuen, dass das ESM-Ermächtigungsgesetz nun überhaupt keine Obergrenze für die deutsche Haftung mehr vorgibt, da das Volumen des ESM-Rettungsschirms durch einen Beschluss des Gouverneursrates bei Bedarf jederzeit ausgeweitet werden kann?

Sollen wir uns darüber freuen, dass das ESM-Ermächtigungsgesetz die Regelung enthält, dass im Falle des Staatsbankrotts eines Euro-Staates jeder noch zahlungsfähige Euro-Staat außerdem verpflichtet wird, anteilig auch die Einzahlung und den Haftungsanteil der Staaten, die nicht mehr zahlungsfähig sind, zu übernehmen, was angesichts der derzeitigen Lage der Europäischen Währungsunion die Gefahr birgt, dass Deutschland unter Umständen für die gesamte Summe von 700 Milliarden Euro aufkommen muss?

Sollen wir uns schlussendlich darüber freuen, dass das ESM-Ermächtigungsgesetz noch in der Nacht vor der Bundestags- und Bundesratsabstimmung ein weiteres Mal dramatisch zulasten Deutschlands verändert wurde und nun auch noch die Banken direkt über den ESM finanziert werden können?

Wissen Sie, Herr Tillich, überhaupt, was das bedeutet? Wenn nicht, dann lassen Sie es sich doch von Ihrem Vorgänger, Georg Milbradt, erklären, der gemeinsam mit 171 weiteren Wirtschaftsprofessoren einen Aufruf gegen ebendiese Bankenunion unterzeichnet hat. In diesem Aufruf heißt es unter anderem – ich zitiere –: „Wir Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge. Die Bankenschulden sind fast dreimal so groß wie die Staatsschulden und liegen in den fünf Krisenländern im Bereich von mehreren Billionen Euro. Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden, zumal riesige Verluste aus

der Finanzierung der inflationären Wirtschaftsblasen der südlichen Länder absehbar sind.“

Herr Ministerpräsident, angesichts dieser potenziellen Enteignung der Bürger, die Ihre Regierung durch ihr Ja im Bundesrat mitzuverantworten hat, spielt es wirklich nicht die geringste Rolle, dass die Länder für ihre Zustimmung zum Fiskalpakt im Gegenzug Gelder für den Bau von Kindertagesstätten und für die Eingliederungshilfe von Behinderten herausgeholt haben. Das ist ein Judaslohn für Sie, Herr Tillich, der Sie gemeinsam mit Ihren Ministerpräsidentenkollegen die Interessen unseres Landes und seiner Bürger verraten haben. Ich würde mich an Ihrer Stelle, Herr Tillich, nicht zu sehr auf diese Ausgleichsgelder des Bundes freuen.

Mit dem ESM-Ermächtigungsgesetz hat Deutschland einen großen Schritt in Richtung Staatsbankrott getan, und dieser Staatsbankrott wird auch die Bundesländer mit in den Abgrund reißen, da die volkswirtschaftlichen und haushälterischen Verflechtungen zwischen Bund und Ländern so groß sind, dass es am Tag X des Staatsbankrotts keine Rolle mehr spielen wird, dass die Haushalte des Bundes und der Länder formal unabhängig voneinander sind.

Es gab nur wenige Politiker aus den etablierten Parteien, die gegen das ESM-Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, deren Verhalten ich jedoch an dieser Stelle würdigen möchte. Die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sahra Wagenknecht, bezeichnete ESM und Fiskalpakt mehrfach zu Recht als „Staatsstreich von oben“ und „kalten Putsch gegen das Grundgesetz“. Die sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann lehnte das ESM-Gesetz ab und der bayerische CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler faxte nach der Bundestagsabstimmung sofort seine Verfassungsklage nach Karlsruhe.

Für die überwältigende Mehrheit der Abwickler in Bundestag und Bundesrat gilt: Sie haben einem lupenreinen Ermächtigungsgesetz zugestimmt, mit dem der Schutz des Eigentums der deutschen Bürger und damit auch das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip aufgehoben wird, das die Einkommen und Ersparnisse der Deutschen letztendlich zur Plünderung freigibt, das einen Sturz der Nationalstaaten bezweckt und im Ergebnis auf einen Staatsstreich hinausläuft.

Wie sehr werden die Reichstagsabgeordneten, die für das Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 gestimmt haben, noch heute für ihr Verhalten gescholten! Am 29. Juni 2012 hat sich gezeigt, dass die gegenwärtigen Bundestagsabgeordneten und Bundesratsmitglieder ganz bestimmt nicht mutiger als ihre Kollegen von damals sind.

Offenbar ist in den Augen der politischen Klasse kein Preis zu hoch, um sich weiter an die Utopie von den „Vereinigten Staaten von Europa“ zu klammern. Nicht nur, dass die Mehrheit des Deutschen Bundestages und auch die Sächsische Staatsregierung bereit sind, die Vermögen der Deutschen für eine faktische Schuldenunion haften zu lassen, sondern dass darüber hinaus die Abwicklung des eigenen Staates und des eigenen Volkes

zum politischen Programm gemacht und immer weiter vorangetrieben wird, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Die Redezeit geht zu Ende.

Leider hat nur eine kleine Minderheit diese Ungeheuerlichkeit geistig erfasst. Das böse Erwachen wird dann kommen, wenn wir wirklich zur

Kasse gebeten werden, wenn aus Risiken echte Vermögensverluste geworden sind.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Für die NPD-Fraktion sprach der Abg. Storr. – Meine Damen und Herren! Die Aussprache zur Regierungserklärung ist beendet. Dieser Tagesordnungspunkt ist abgeschlossen.

Fortsetzung Tagesordnungspunkt 1

Inzwischen liegt das Ergebnis der geheimen Wahl der Mitglieder bzw. stellvertretenden Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes vor. Abgegeben wurden 121 Stimmen. Ungültig waren 0 Stimmen. Es wurde wie folgt abgestimmt: Herr Prof. Dr. Uwe Berlit: Ja: 89, Nein: 7, Enthaltungen: 25. Frau Dr. Bettina Dick: Ja: 89, Nein: 6, Enthaltungen: 26. Herr Dr. Michael Gockel: Ja: 89, Nein: 6, Enthaltungen: 26. Damit sind alle zur Wahl stehenden Damen und Herren als Mitglied bzw. stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofes gewählt: Herr Prof. Dr. Uwe Berlit, Frau Dr. Bettina Dick und Herr Dr. Michael Gockel. Ich frage Sie nun: Nehmen Sie die Wahl an, Herr Prof. Dr. Berlit?

(Prof. Dr. Uwe Berlit: Ich nehme die Wahl an!)

Vielen Dank.

Nehmen Sie die Wahl an, Frau Dr. Bettina Dick?

(Dr. Bettina Dick: Herr Präsident, ich nehme die Wahl an!)

Vielen Dank.

Herr Dr. Michael Gockel, nehmen Sie die Wahl an?

(Dr. Michael Gockel: Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an!)