Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das übliche Spiel hier im Landtag: Oppositionsparteien bringen einen Antrag ein und die Koalitionsfraktionen lehnen ihn mit ihrer alle fünf Jahre erworbenen Stimmenmehrheit ab. Das Spiel heißt „parlamentarische Demokratie“.
Was bei eher ideologisch geprägten Vorstößen vielleicht noch verständlich sein mag, ist bei Anträgen, die eigentlich niemandem wehtun, aber den Betroffenen sehr viel nützen, unverständlich. Heute wird dieser Antrag mit den Stimmen von CDU und FDP abgelehnt werden. Im Jahr 2008 waren es die Abgeordneten von CDU und SPD, die einen Antrag der LINKEN für ein Aktionsprogramm „Barrierefreies Sachsen“ mit freundlichen Worten abschmetterten.
Sicherlich gibt es inzwischen genügend gesetzliche Grundlagen, die eine Barrierefreiheit im öffentlichen Leben vorschreiben. Die Staatsregierung führt sie in ihrer Stellungnahme im Einzelnen auf. Die Vertreter der Koalition haben die unterschiedlichen Initiativen und gesetzlichen Regelungen ausführlich dargelegt. Ein Blick in die Parlamentsdokumente dieser Wahlperiode zeigt bisher
27 Kleine Anfragen zur Barrierefreiheit in allen möglichen Bereichen des täglichen Lebens, die von der Staatsregierung meist ausführlich beantwortet wurden. Das Thema ist somit allseits präsent.
Ich spreche hier nicht völlig theoretisch über das Thema, sondern ich habe in meinem Leben schon so manchen Rollstuhl über Barrieren getragen, da ich vier Jahre eine Schule für Körperbehinderte besucht habe und auch heute einige behinderte Freunde und Bekannte habe. Eine möglichst große Barrierefreiheit – selbstverständlich erst recht in der eigenen Wohnung – ist daher auch mir ein Herzensanliegen.
Worüber ich mir aber in Vorbereitung auf den Redebeitrag Gedanken gemacht habe, ist die Frage, wie lange das Geld für die notwendigen Schritte, die alle begrüßenswert sind, noch zur Verfügung stehen wird. Wir können hier über die schönsten Anträge beraten und beschließen; das ist alles nichts wert, wenn die dafür notwendige finanzielle Grundlage eines Tages fehlt.
Insofern habe ich den Eindruck, dass sich der Antrag der LINKEN in einer schönen heilen Welt bewegt. Doch das setzt voraus, dass diese Welt noch so lange besteht, während sie in Wirklichkeit immer mehr in die Brüche geht. Ob die von Herrn Gillo beschworenen Zukunftsdeutschen künftig noch das Geld haben werden für solche edlen Absichten,
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin meiner Fraktion für diesen Antrag ausdrücklich dankbar, rückt er doch ein Problem in den Vordergrund, von dem Sie, verehrte Damen und Herren von der Koalition und verehrte Mitglieder der Staatsregierung, immer wieder zu gern sprechen – wie gestern und heute auch –: den demografischen Wandel. Er zielt auf einen Anspruch, den Sie ebenfalls in Ihr rhetorisches Repertoire aufgenommen haben: die Nachhaltigkeit. Wir geben Ihnen recht: Darauf müssen sich Politik, Staat und Gesellschaft einstellen.
Darf ich mir einmal getrauen Sie zu fragen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wer von Ihnen lebt denn jetzt schon – neben mir, nicht mit mir, außer mir – in einer barrierefreien Wohnung oder in einem barrierefreien Wohnhaus? – Herr Dr. Martens. Bei allen anderen? – So ist das mit Blick auf die Nachhaltigkeit. Wir sind also alle irgendwann darauf eingestellt: Können wir einmal nicht mehr, müssen wir unsere häusliche Umgebung verlassen.
Da kommen Sie hier mit heiler Welt und dergleichen mehr. – Nein. Wir haben einfach dringende Erfordernisse, über die wir heute und hier sprechen müssen, und dazu dient dieser Antrag.
Möglicherweise wird das eine oder andere jetzt wiederholt werden, aber ich denke, manchmal ist Wiederholung gar nicht so schlecht. In den Städten ist das Wohnen zur Miete die typischste Wohnform der über 65-Jährigen. Um die Wohnkosten der Mieterhaushalte 65plus in den Städten weiterhin in ihrer absoluten Höhe in einem von den Haushalten tragbaren Rahmen zu halten, bedarf es zunehmend gemeinschaftlicher Wohnformen, um die tendenziell sinkenden Einkommen und die steigenden spezifischen Wohnkosten auszugleichen. Es kann sich bei den gemeinschaftlichen Wohnformen um die konventionelle Wohngemeinschaft handeln, die mit gemeinschaftlicher Bad- und Küchennutzung ein sehr hohes Maß an gemeinschaftlichen Strukturen beinhaltet. Es kann sich aber auch um neue, von vornherein als gemeinschaftliche Wohnprojekte konzipierte Strukturen handeln, die dann gegebenenfalls ein eigenes Bad beinhalten können.
Im ländlichen Raum, meine Damen und Herren, ist ein Angebot an seniorengerechten kleinen Mietwohnungen nahezu nicht vorhanden. Gut, kann man sagen, der ländliche Raum ist schließlich vor allem durch Wohneigentum geprägt, das zu 80 % aus Einfamilienhäusern besteht. Nur: Welches Einfamilienhaus ist barrierefrei? – Kaum eines. Der Unterhalt eines Einfamilienhauses, das in der Regel für einen größeren Haushalt konzipiert ist, ist mit Einkommen von um die 1 000 Euro dauerhaft kaum möglich – gar nicht zu reden von größeren Instandhaltungsmaßnahmen oder von Modernisierungen in Richtung Energieeffizienz oder Barrierefreiheit.
Da in Teilen des ländlichen Raums auch der Verkauf der Immobilie kaum mehr realisierbar ist, sind einkommensschwache Eigentümerhaushalte in ihrem unsanierten und barrierebehafteten Wohneigentum nahezu gefangen. Wenn diese Menschen dann noch so pflegebedürftig sind, dass ein Umzug nötig ist, wohin kommen Sie, meine Damen und Herren? – Ins betreute Wohnen oder in ein Pflegeheim, die mit Abstand teuerste Form der Unterbringung.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition, in dem von der Staatsregierung vorgelegten wohnungspolitischen Konzept „Wohnen in Sachsen 2020“ wird festgestellt, dass quantitativ genügend Wohnraum in Sachsen gegeben ist; jedoch eine Totalerhebung über den Bestand an barrierefreien oder barrierearmen Wohnungen gibt es nicht. Immerhin gestehen Sie zu, dass es schon aus Demografiegesichtspunkten zu einer verstärkten Nachfrage kommen wird. Mein lieber Herr Hauschild, da ist die Staatsregierung viel weiter, als Sie sich hier geben.
Herr Ulbig, Sie nannten noch die Zahl 43 000. Geschätzte 43 000 barrierefreie oder zumindest barrierearme Wohnungen gibt es nach den Angaben in Sachsen. Meine Damen und Herren, wie viele Menschen mit Beeinträchti
gungen leben im Freistaat Sachsen? Circa 600 000 – 350 000 aber zumindest mit einem Grad der Behinderung ab 50, also die, die wir als schwerbehindert bezeichnen. Von diesen Schwerbehinderten haben etwa allein 250 000 eine körperliche Beeinträchtigung.
Mein Verband, dem ich vorstehe, der Sozialverband VdK Sachsen, hat sich zu der Stellungnahme meiner Fraktion geäußert und darauf hingewiesen, dass ein Bedarf an circa 144 872 pflegegerechten und barrierefreien Wohnungen im Freistaat Sachsen besteht, davon allein im Landkreis Zwickau 13 652, im Erzgebirgskreis 13 766, im Landkreis Görlitz 11 306 und in Leipzig 16 289. Meine Damen und Herren, ich will es bei diesen Zahlen belassen. Selbst wenn Sie diesen Zahlen nicht glauben, was wollen Sie tun, um konkrete Bedarfszahlen zu ermitteln? Ich frage Sie: Wie wollen Sie diesen Bedarf mit den bereits seit Jahren geltenden Regelungen innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre decken?
Lieber Herr Fritzsche, § 50 der Sächsischen Bauordnung regelt das Problem nicht. Den gibt es schon seit 2003, und die Wohnungen, die neu gebaut werden, werden nicht im Sinne dieser Bauordnung gebaut. Übrigens braucht man dafür auch keine Genehmigung. Letztlich gibt es den Abs. 4 in § 50, der besagt, dass, wenn man nachweisen kann, dass einem irgendetwas zu kostenaufwendig ist, es auf die Bestimmung der Absätze 1 bis 3 des § 50 nicht mehr ankommt. Solche Gesetze haben wir bei uns im Freistaat Sachsen.
Meine Damen und Herren, ich betone an dieser Stelle noch einmal: Behinderung und Schwerbehinderung ist keine freiwillige Lebensentscheidung. Wir können – nein, wir dürfen uns nicht einerseits über unsere steigende Lebenserwartung freuen, wenn wir andererseits nicht in der Lage sein werden, ein Altern in Würde zu ermöglichen. Was nützt uns die Feststellung, dass die Menschen möglichst lange in ihrem persönlichen Umfeld bleiben wollen und sollen? Wie oft wird die Wohnung zum Gefängnis – ich sage das jetzt einmal in Anführungsstrichen –, weil sie über Treppen nicht mehr verlassen werden kann? Wollen wir das? Dürfen wir das wollen? – Ich sage ganz klar – wie meine Fraktion auch –: Nein, das dürfen wir so nicht wollen.
Wir brauchen dringend barrierefreien Wohnraum. Frau Köpping, Sie haben völlig recht: Das ist auch das, was die Menschen wollen. Sie wollen so lange wie möglich in der eigenen Wohnung bleiben. Um das auch mit Hilfebedarf realisieren zu können, ist eine altersgerechte Gestaltung der Wohnung entscheidend. Kritisch ist oft das Bad. Die Badewanne muss durch eine bodengleiche Dusche ersetzt werden. Stolperfallen sind auch Stufen und Schwellen in der Wohnung. Oft unüberwindbare Hindernisse sind Treppen. Es braucht Aufzüge in den Häusern. Durch eine
auf diese Weise altersgerecht umgestaltete Wohnung lassen sich Stürze und auch der Umzug ins Heim oft vermeiden.
Im Übrigen: Die in der Medizin und im Pflegesystem gesparten Kosten decken einen Gutteil der Aufwendungen, die für die altersgerechte Anpassung der Wohnungen entstanden sind. Oder anders gesagt, meine Damen und Herren: Altersgerechter Umbau von Wohnanlagen kann auch zu einer Entlastung der sozialen Sicherungssysteme führen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?
Zu beachten sind hier aber auch Umgestaltungen in anderen Bereichen, welche parallel vollzogen werden müssen. Wichtig ist das Wohnumfeld, das Mobilität, Selbstständigkeit und Alltagsversorgung ermöglicht.
Gerade das Wohnumfeld wird von Älteren in Befragungen immer wieder problematisiert: Stolperfallen abbauen, sichere Straßenübergänge für Benutzer von Rollatoren schaffen, strategisch angebrachte Bänke, barrierefreier Nahverkehr, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten usw., die Liste ist lang.
Meine Damen und Herren, Sie wissen genauso gut wie ich: Im Moment zeigen sich die Wohnungsbaugesellschaften schlicht überfordert, den akuten Bedarf zu decken. Deswegen sehen wir es als einzige Möglichkeit an, entsprechende Förderungen auszureichen und Instrumentarien zu entwickeln, die sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen – aber auch hochbetagte Menschen – in naher und ferner Zukunft den Wohnraum, in dem sie leben, auch bezahlen können. Das wäre nicht nur nachhaltig gedacht, sondern auch volkswirtschaftlich vernünftig, meine Damen und Herren.
Was spricht denn dagegen, Barrierefreiheit als grundsätzliche Voraussetzung für Bauvorhaben zu nehmen? Ich könnte Ihnen von vielen Fällen berichten, in denen Menschen dringend barrierefreien Wohnraum suchen. Ich kenne aber keinen einzigen Fall, in dem sich Menschen ohne Handicap über die Bequemlichkeit einer solchen Wohnung beschweren würden oder beschwert hätten, meine Damen und Herren, ganz im Gegenteil.
Barrierefreiheit nützt allen Menschen – heute schon und in Zukunft erst recht. Nur müssen wir endlich einmal anfangen, und zwar mit aller Konsequenz.
Herr Wehner, ich möchte zwei Anmerkungen machen: Wenn bei Ihnen die Botschaft angekommen sein mag, dass die Unterstützung einer altersgerechten Wohnungsversorgung für uns kein Thema ist, dann möchte ich das geradestellen. Es ist natürlich ein Thema. Wir beschäftigen uns auch sehr intensiv mit der Problematik, und ich habe in meiner Rede deutlich zu machen versucht, dass es ein entsprechendes Förderinstrumentarium für bestimmte Bereiche gibt. Es gibt sowohl Instrumente auf der Bundesebene als auch Landesförderinstrumentarien. Viele kommunale Wohnungsunternehmen sind dort schon unterwegs.
Beim Thema Lebensstile habe ich auf das Gleiche hingewiesen wie Sie: dass wir einen Trend haben, den man anerkennen muss, und zwar, dass ein Großteil der Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden wohnen möchte.
Sie haben zum Schluss mit einer großen Überzeugung Ihr Plädoyer für Barrierefreiheit vorgetragen. Sie müssen aber auch sehen – das gehört zur Debatte dazu –, dass es einen Niederschlag in den Baukosten findet, wenn wir beispielsweise über Fahrstühle in den unmittelbaren Betriebskosten sprechen. Dann ist schon die Tatsache zu beachten, dass wir einen Großteil bestehender Wohngebäude haben, bei denen man fragen muss, ob hier der Umbau zwingend notwendig ist.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Fritzsche, könnten Sie mir aber recht geben, dass, wenn von Anfang an barrierefrei gebaut würde, gar nicht mehr Kosten anfallen?
Na ja, Kosten fallen dann trotzdem im Rahmen der Betriebskosten an. Einen Fahrstuhl merken Sie ganz klar auf Ihrer Nebenkostenabrechnung; das ist einfach ein Fakt.
Wenn wir uns im Freistaat Sachsen die Neubautätigkeit anschauen – auch die, die wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben –, dann steht diese deutlich hinter dem zurück, was das Problem Schaffung von Barrierefreiheit im Bestand betrifft. Dort ist der Kern dessen, wo wir unsere Aktivitäten hinlenken müssen.