Protokoll der Sitzung vom 01.02.2017

Es wird aber auch der Bundesgesetzgeber aufgefordert sein, die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundes- und Landesbehörden zu überprüfen. Die nicht bereits am 7. Oktober 2016 erfolgte Übernahme des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt hat aufgrund des zügigen Handelns von LKA und Staatsanwaltschaft Dresden zwar keine gravierenden Auswirkungen entfaltet, aber die Empfehlung der Kommission zur möglichen Ausgestaltung von Regelbeispielen im Sinne des § 120 Gerichtsverfassungsgesetz sollte ernst genommen werden. Wir werden jedenfalls auch diesen Punkt in unsere Prüfung einbeziehen und in Kontakt mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, aber auch den anderen Bundesländern treten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es liegt also eine Menge Arbeit vor uns. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir aus den gewonnenen Erfahrungen lernen werden und die anstehenden Aufgaben erfolgreich meistern – im Interesse unseres Freistaates und letztlich der gesamten Bundesrepublik Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der Abg. Frauke Petry, AfD, und der Staatsregierung – Vereinzelt Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Ich danke den beiden Staatsministern für die Fachregierungserklärung.

Wir kommen jetzt zur Aussprache. Folgende Redezeiten wurden für die Fraktionen festgelegt: CDU 33 Minuten, DIE LINKE 24 Minuten, SPD 16 Minuten, AfD 14 Minuten und GRÜNE 12 Minuten. Die Reihenfolge in der ersten Runde: DIE LINKE, CDU, SPD, AfD und GRÜNE. Meine Damen und Herren, das Wort ergreift jetzt Herr Kollege Stange für die Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fachregierungserklärung trägt den Titel „Ergebnisse der Expertenkommission zum Fall al-Bakr und Maßnahmen der Staatsregierung“. So schlicht und sachlich der Titel daherkommen mag, so brisant ist das Thema.

Wir haben im Freistaat Sachsen, auch das ist mit dem Bericht der Expertenkommission zum Fall al-Bakr bestätigt worden, wirklich im wahrsten Sinne mehr Glück als Verstand und Können gehabt. Trotz des desaströsen Polizeieinsatzes kam der Terrorverdächtige nicht mehr dazu, seine Anschlagsplanung umzusetzen. Es wäre ein verheerender Anschlag geworden, den wir danach vermutlich in einem Atemzug mit Paris und ähnlichen Ereignissen hätten nennen müssen.

Dass es nicht dazu gekommen ist, verdanken wir dem Fahndungsdruck, den die Sicherheitsbehörden aufgebaut haben, einer großen Portion Glück und letztlich dem beherzten Auftreten und Eingreifen junger Syrer, die den der Polizei in einem Großeinsatz Entkommenen in ihrer Wohnung festgesetzt hatten.

Die Informationen zu dem Verdächtigen kamen von den ausländischen Nachrichtendiensten – auch das ein bemerkenswerter Umstand. Wir danken den Behörden, die offenbar im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum, so der Bericht der Expertenkommission, ordentlich zusammengearbeitet haben. Unser Dank gilt aber auch den Polizeibeamtinnen und -beamten, die unter denkbar schlechten Bedingungen einen schwierigen Job erledigt und die sich die ganze Zeit über sicherlich auch redlich bemüht haben.

Unser besonderer Dank gilt allerdings den jungen Männern aus Syrien, die nach dem Bekanntwerden der Öffentlichkeitsfahndung in arabischer Sprache den Verdächtigen kennenlernten und ihn in ihrer Wohnung festsetzten und fesselten. Sie haben uns vor Schlimmstem bewahrt

(Beifall bei den LINKEN)

und jene Zivilcourage bewiesen, die wir oft nur zu beschwören vermögen. Dafür ein aufrichtiges Danke, Thank you und – auf arabisch – Shakar!

(Beifall bei den LINKEN)

Der Bericht der Expertenkommission um den ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Landau untersucht den Polizei

einsatz, sein Misslingen und die entsprechenden Ursachen. Zugegeben, wir hatten große Bedenken, ob die Expertenkommission ob der Einsetzung durch die Staatsregierung und der Beauftragung durch sie denn tatsächlich weitgehend eigenständig und ohne übermäßige Beeinflussung durch die Regierung arbeiten würde. Heute stellen wir nach eingehendem Studium des Berichts fest, dass bei der umfänglichen Betrachtung des Gegenstands und der Tiefe der Untersuchung eine neue Qualität erreicht wurde.

Ich will für mich und meine Fraktion zumindest auch dafür Respekt zollen, dass uns als Parlament der Bericht in Gänze zur Kenntnis gegeben wurde. Wir wissen, dass es ein großes Bedürfnis der Öffentlichkeit und der Medien an dem Bericht gibt. Zugleich habe ich nach dem Studium des Berichts Verständnis dafür, dass zumindest Teile des Berichts eine gewisse Geheimhaltungsstufe rechtfertigen. Ob man nun den gesamten Bericht als Verschlusssache nur für den Dienstgebrauch einstufen müsste, will ich dahingestellt sein lassen. Schließlich geht es um vitale Sicherheitsinteressen nicht nur des Staates und seiner Behörden; es geht um das Sicherheitsinteresse der Bevölkerung.

Meine Damen und Herren! Sie, Herr Staatsminister Ulbig, adaptieren den Grundsatz der Expertenkommission: „Die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus erfordert eine Kultur der Verantwortlichkeit“. So heißt es in der Zusammenfassung, die den Medien übergeben wurde. Welcher Geist durchzieht Ihre Regierungserklärung? „Die Kultur der Verantwortlichkeit“ hätte heißen müssen, die eigene Verantwortung ebenso zu umreißen wie die des LKA und seines Chefs, ebenso wie Fragen von Training und Ausrüstung.

Der islamistische Terrorismus ist nicht wie ein plötzliches Ereignis über uns gekommen. Seine Boten kamen vor Jahren nach Europa. Hier einige der grausigen Stationen: 11. März 2004, Madrid: zehn Bombenexplosionen,

191 Tote, 2 051 Verletzte. 7. Juli 2005, London: vier Rucksackbombenanschläge, 56 Tote, mehr als 700 Verletzte. 11. März 2012, Toulouse: ein französischer Soldat durch Kopfschuss hingerichtet. 15. März 2012, Montauban: drei französische Soldaten getötet. 19. März 2012, Toulouse: vier Tote, darunter drei Kinder. 7. Januar 2015, Paris, Redaktion Charlie Hebdo: elf Tote und viele Verletzte. 14. Februar 2015, Kopenhagen: fünf Tote und mehrere Verletzte. 13. November 2015, Paris: 130 Tote und über 350 Verletzte. 22. März 2016, Brüssel: 32 Tote. 14. Juli 2016, Nizza: 86 Tote.

Dass der Terrorismus mit al-Bakr in Sachsen angekommen ist, kann nur der glauben, für den der sächsische Globus an den Landesgrenzen endet, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den LINKEN und des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE)

Die Kultur der Verantwortlichkeit erfordert, dass allen voran der Innenminister offenlegt, was er seit 2009 zu der

von Europol seit 2007 geforderten Schließung von Sicherheitslücken zum Terrorismus getan hat.

Die Defizite beim Polizeieinsatz in Chemnitz sind durch den Bericht der Landau-Kommission, durch ihre Information an die Medien und letztlich durch die Zeitungen mittlerweile nachvollziehbar beleuchtet. Auch Sie, Herr Staatsminister Ulbig, haben in Ihrer Erklärung soeben, dem Bericht folgend, die Defizite grob umrissen. Mich interessiert die Frage, was zu diesen Defiziten geführt hat und warum die sächsische Polizei im Grunde nicht auf Terrorlagen und andere lebensbedrohliche Einsatzlagen bis hin zu solchen Festnahmen vorbereitet ist.

Sie sind seit 2009 im Amt. Sie haben im Wesentlichen den Personalabbau mitzuverantworten, der unter anderem ursächlich für die personelle Ausstattung der handelnden Polizeieinheiten in Chemnitz ist. Spätestens seit der Koalitionsbildung von CDU und SPD im Herbst 2014 wollten Sie die Personalsituation verbessern und eine umfassende Aufgaben-, Personal- und Ausstattungsevaluation durchführen lassen. Dazu hatte der Landtag am 12. März 2015 sogar einen Auftrag erteilt.

Am 28. April 2015 wandte sich die EU-Kommission mit ihrer Mitteilung Nummer 185 zur Europäischen Sicherheitsagenda unter anderem auch an den Ausschuss der Regionen, in dem die Sächsische Staatsregierung vertreten ist. Darin verstärkt die Kommission nun die seit 2007 mit dem TE-SAT, dem Terrorism Situation und Trend Report, bereits überdeutlich herausgehobene Terrorgefahr für die gesamte EU im Rahmen der neuen Agenda für die innere Sicherheit, indem sie das Thema Terrorismus neben der organisierten Kriminalität und Cyber Crime als zentrale Priorität und Herausforderung für die innere Sicherheit in Europa und für seine Mitgliedsstaaten noch einmal hervorhebt.

Der Innenstaatssekretär Dr. Wilhelm sollte in der Sitzung des Europaausschusses des Landtags am 19. Januar 2016 über europapolitische Schwerpunkte des Innenministeriums berichten. Abgesehen davon, dass der Staatssekretär dem Ausschuss unvorbereitet gegenübertrat, um über die zentralen Schwerpunkte im Bereich Inneres mit Blick auf die EU zu berichten, war ihm die Mitteilung der Kommission zur neuen EU-Sicherheitsagenda nicht einmal bekannt und er selbst hinsichtlich der darin identifizierten Sicherheitsanforderungen nicht aussagefähig.

(Sebastian Scheel, DIE LINKE: Hört, hört!)

Am Rande sei hier nur erwähnt, dass die Innenministerkonferenz zu diesem Zeitpunkt bereits von der EUSicherheitsagenda ausgehende Beschlüsse gefasst hatte.

Im Ergebnis der zur Evaluierung der Polizei eingesetzten Fachkommission war ein Abschlussbericht vorgelegt worden, der eine umfassende Evaluation für „später“ anmahnte

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Später!)

und eine politisch gesetzte Stellenzuwachszahl von 1 000 Stellen hervorzauberte.

Meine Damen und Herren! Der 7. und 8. Oktober 2016 waren der Lackmustest, inwieweit nicht nur die sächsische Polizei auf eine solche Einsatzlage vorbereitet war, sondern inwieweit überhaupt in der Staatsregierung, im Innenministerium, in der obersten Polizeiführung in Sachsen ein Plan, eine Konzeption dafür vorlagen. Jetzt wird auch verständlich, warum der Bericht der Expertenkommission als VS „Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft ist. Um es mit dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu sagen: Die Offenlegung des Berichts mit allen Facetten des Versagens der Polizei während des Einsatzes in Chemnitz und der erheblichen personellen, strukturellen und operativen Defizite der Polizei bei einer solch bedeutsamen und schwerwiegenden Einsatzlage würde die Bevölkerung in Teilen stark verunsichern.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Hat er gesagt?)

Der Bericht der Expertenkommission hat aus ungewolltem Anlass genau das für zumindest einen Teil der polizeilichen Arbeit und in einem Ausschnitt der Polizeistrukturen gemacht, was eine Evaluation hätte schon längst leisten müssen: eine echte Analyse. Im Ergebnis sind die deutlichen Defizite des LKA zu nennen, die Unfähigkeit, einen Führungsstab dauerhaft und stabil zu bilden und alle entsprechenden Ermittlungsabschnitte entsprechend zu besetzen. Wer hinsichtlich der Führung der Einsatzkräfte durch den Hollywoodstreifen „Staatsfeind Nummer 1“ oder den letzten „Tatort“ aus Wien mit der Darstellung der Spezialeinheit Cobra geprägt ist und glaubt, alle hätten einen Knopf im Ohr und würden einheitlich geführt und jeder hörte den anderen, der wird eines Schlechteren belehrt: Auch das Zusammenwirken der unterschiedlichen Kräfte hat sich als mangelhaft herausgestellt.

Was unternimmt der Innenminister? Er präsentiert uns ein erstes Maßnahmenpaket aus Aktionismus und überfälliger Überprüfung.

(Valentin Lippmann, GRÜNE: Ein Paket?)

Er ordnet an, dass künftig nur die Polizeidirektionen solche oder vergleichbare Einsatzlagen führen dürfen. Wer sagt uns eigentlich, dass diese wirklich darauf vorbereitet sind? Die Kommission stellt dazu nur fest, dass sie aufgrund der personellen Ausstattung offenbar besser geeignet wären. Den Beweis, dass die Polizeidirektionen wirklich besser auf solche Einsätze vorbereitet sind, sind Sie, Herr Staatsminister, heute schuldig geblieben. Stattdessen räumen Sie fast beiläufig ein, dass es keinerlei Konzeptionen dafür gibt.

Ich darf Sie zitieren: „Was wir nun ebenfalls brauchen, ist ein bundeseinheitliches Vorgehen bei der Ausbildung und Ausrüstung der Spezialeinheiten, genauso wie tragfähige Handlungskonzepte für Zugriffsmaßnahmen auf Selbstmordattentäter mit Sprengstoff. Diese Handlungskonzepte müssen dann aber auch mit Leben gefüllt werden. Ein Konzept allein hat noch nie ein Menschenleben gerettet.“

Ja, Konzepte allein haben noch kein einziges Menschenleben gerettet. Aber ohne Konzeptionen handeln die Polizeieinheiten uneinheitlich, ohne einheitliche Führung

und Kommunikation. Sie haben diese Einsatzlagen im Grunde auch noch nicht trainiert.

Die Empfehlungen der Expertenkommission in Bezug auf die Bildung ständiger Führungsstäbe in den Polizeidirektionen, auf die Bildung einheitlicher Konzeptionen und Standards sowie hinsichtlich permanenter Aktualisierungen und Trainings zeigen, dass bislang keine tatsächlichen Vorbereitungen erfolgten.

Ihre Ankündigung, Herr Staatsminister, das OAZ zum PTAZ, einem Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum auszubauen, scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar,

(Kerstin Köditz, DIE LINKE: Nein! – Zuruf von der CDU: Da hat jemand Angst!)

auf den zweiten allerdings wird es in seiner Aufgabe deutlich überdehnt.

Ja, der Chef des LKA hat seinen Laden nicht im Griff. Das ist bereits deutlich geworden. Allerdings endet die Verantwortung der Staatsregierung dabei nicht. Sie muss insgesamt sicherstellen, dass endlich eine umfassende wissenschaftlich begleitete Evaluation der sächsischen Polizei erfolgt.

Sie, Herr Staatsminister, haben diesen gesamten Problemberg seit 2009 aufwachsen lassen und die Abarbeitung verschleppt. Vor uns liegt diese gewaltige Aufgabe. Sie sollten den Mut und die Größe haben, mit Ihrem Ersuchen um Entlassung aus dem Amt den Weg für einen Nachfolger freizumachen,

(Beifall der Abg. Kerstin Köditz, DIE LINKE)

der dann hoffentlich mit einem echten Konzept, mit Führungs- und Willensstärke und Durchsetzungskraft diese Aufgabe erfolgversprechend in Angriff nehmen wird. Nach acht Jahren der Versäumnisse und des Sparens an der Polizei in die strukturelle Krise verlangen Ihnen das Sicherheitsbedürfnis unserer Bevölkerung und die Einsicht in die Defizite bei der Polizei diesen Dienst regelrecht ab.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.