Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 27. Januar ist der Tag, der uns mahnt und unsere Gegenwart in einer Aktualität prägt, wie es manche vielleicht nicht mehr für möglich gehalten hätten. Er verbindet sich für uns mit zwei Themen: dem konsequenten Engagement gegen Rechtsextremismus und dem konsequenten Widerspruch gegenüber jeder Form von Antisemitismus.
In Deutschland werden fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unverhohlen Deportationen geplant.
Rädelsführer sind Mitglieder der AfD. Mir wird nicht nur schlecht, sondern in mir steigt eine verdammte Wut hoch, wenn sich AfDler hier hinstellen und solche heuchlerischen und schamlosen Dinge von sich geben. Das muss ich an dieser Stelle einfach mal loswerden.
Sie treffen sich mit Rechtskonservativen und mit möglichen Geldgebern – das hatten wir alles schon einmal. Auch damals wurden Vertreibungen und Deportationen beschönigend umschrieben. Heute nutzt man das Wort „Remigration“. Es ist wichtig, die Wortwahl der Rechten nicht zu übernehmen und sich gegen eine Wiederholung der Geschichte zu wehren. „Nie wieder ist jetzt!“ ist kein leeres Versprechen und es ist erst recht keine Floskel – es ist ein Aufruf zum Handeln an alle, denen die Freiheit und die demokratische Grundordnung wertvoll sind.
In den letzten Wochen erleben wir die größten Demonstrationen seit der friedlichen Revolution – bundesweit und in Sachsen. Menschen gehen auf die Straße, um gegen rechtsextreme Erzählungen und Fantasien in unserer Gesellschaft zu protestieren. Sie und wir sagen: Stopp. Genug ist genug! Damit bekennen sie und wir uns eindeutig zum „Nie wieder ist jetzt!“ Wir verteidigen Demokratie, Vielfalt und gesellschaftlichen Frieden.
Sachsen hat eine besondere Verantwortung im Kampf gegen Rechtsextremismus, denn dieser hat und konnte sich seit den 1990er-Jahren in Sachsen ausbreiten. Rechte Netzwerke und Strukturen haben ihre menschenfeindlichen Ideologien im Land verankert und sehen nun wieder eine Chance.
Die aktuelle Koalition hat erstmals ein Gesamtkonzept Rechtsextremismus verabschiedet, aber das ist noch nicht ausreichend. Wir müssen wachsam bleiben, und wir müssen konsequent bleiben, jede und jeder von uns, überall und zu jeder Zeit.
Die AfD als parlamentarischer Arm der Rechten und Rechtsextremisten ist eine verfassungsfeindliche Partei, die die Grundlagen unserer freiheitlichen Republik zerstören will. Ihre Demagogen nutzen die Leichtgläubigkeit und Ängste von Menschen aus. Ihre Medienmaschine verbreitet Falschinformationen, Verschwörungsideen, Hass und menschenfeindliche Hetze.
Der Widerstand gegen diese Partei auf den Demonstrationen im ganzen Land zeigt, dass viele Menschen sie ablehnen. Es ist notwendig, gemeinsam aufzustehen und zu sagen: Wir wollen kein Land, in dem die AfD Macht erlangt. Die Zeit des Zögerns ist vorbei, und es ist an der Zeit, dem Treiben dieser Partei Einhalt zu gebieten.
Unsere Haltung und unser Vorgehen gegen rechts müssen genau so klar sein wie unsere Haltung gegen jeden Antisemitismus. Es darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland, in Sachsen Angst haben. Wir tragen hier eine besondere Verantwortung. Antisemitismus breitet sich aus und dagegen müssen wir energisch vorgehen. Es sind nicht nur die schändlichen Schmierereien auf den Plakaten von Holocaust-Überlebenden im Rahmen einer Ausstellung im Leipziger Hauptbahnhof oder das Zerstören von Kränzen am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Wilhelmsplatz in Görlitz. Das sind Grenzüberschreitungen, für die wir keinerlei Bagatellisierung zulassen dürfen.
Es sind mittlerweile auch studentische Gruppen, wie Handala in Leipzig, die das Existenzrecht Israels offen leugnen. Da laufen junge Menschen in einer Demonstration hinter Flaggen mit Hammer und Sichel her, folgen einer Organisation, die im vergangenen Oktober ein Bild mit einem Gleitschirm veröffentlicht hat, wie ihn die Hamas beim Angriff am 7. Oktober verwendeten, mit der Unterschrift „From the River to the Sea“. Das muss ausgesprochen und gestoppt werden, denn Meinungsfreiheit und antisemitische Hetze sind zwei Paar Schuhe.
Es muss darüber hinaus einen gemeinsamen Konsens unter Demokratinnen und Demokraten geben. Jegliche Annäherung an Nazis und Rechtsextreme schafft neue Risse. Wir brauchen einen klaren Konsens darüber, dass der Feind rechts steht. Ja, wo denn sonst?!
Großer Dank gilt allen Menschen, die für das Gute und Freundliche in diesen Tagen auf die Straße gehen und zeigen: Bis hierhin und nicht weiter! Sie sind die Basis unserer Demokratie. Sie sind die Menschen, auf die wir hören sollten und deren Sorgen und Ängste wir ernst nehmen müssen. Hier setzen sich Menschen für das ein, an was Hannah Arendt stets erinnerte: für das radikale Gute.
Rücken wir zusammen, stehen wir zusammen und bleiben wir zusammen in der Verantwortung für das, wofür der 27. Januar steht: Nie wieder ist jetzt!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Rede will ich auf die Ausführungen von Herrn Kühne von der AfD eingehen. Man könnte es mit einem Wort zusammenfassen, was Sie hier gemacht haben: Dieses Wort heißt „infam“.
Aber mir ist noch etwas anderes dazu eingefallen: In der vergangenen Woche warb eine Chemnitzer Supermarktkette neben ihren Wochenangeboten mit dem Label „Für Demokratie, gegen Nazis“. Es ist eigentlich etwas Normales, ein Bekenntnis zur Demokratie auf einem Werbeprospekt. Warum auch nicht? Ein AfD-Mann, ein Politiker namens Gumprecht meldete sich daraufhin und warf den Machern dieses Werbeprospektes vor, dass sei ja wie „ Kauft nicht beim Juden!“ Genau das ist die perfide Umkehr, die wir gerade in Ihrer Rede gehört haben.
Ich möchte meine Redezeit für etwas Wertvolleres nutzen. Ich möchte sie nutzen, an Jankel Rotstein, quasi Pars pro Toto, zu erinnern. Jankel Rotstein wurde im Jahr 1889 in Warschau geboren. Warschau lag damals auf russischem Gebiet. Jankel Rotstein wurde in die russische Armee, im Ersten Weltkrieg, eingezogen. Er verletzte sich und wurde schließlich von der Militärverwaltung als Dolmetscher eingesetzt. Diese Arbeit machte ihm Freude, er lernte Deutsch und wollte in Deutschland bleiben. Er zog nach Chemnitz und verliebte sich in Liddy. Jankel und Liddy Rotstein bekamen zusammen fünf Kinder. Sie hatten ein Kurzwarengeschäft. Mit ihren fünf Kindern waren sie auf dem heutigen Chemnitzer Sonnenberg bekannt als eine Familie, die andere Kinder gern zum Spielen empfängt. Sie waren beliebt.
Nach 1935 änderte sich das schlagartig. Die Nürnberger Rassegesetze hatten massive Auswirkungen auf die Familie Rotstein. Die Kinder durften in der Schule nicht mehr an Exkursionen und Ausflügen teilnehmen. Das beliebte Haus, die Wohnung der Rotsteins, blieb leer. Es kamen keine Kinder mehr zum Spielen. Die Kinder verstanden das
nicht. Ihrem Vater wurde, weil er inzwischen ein sogenannter staatenloser Jude war, nahegelegt, dass er die Republik schnell verlassen möge. Er wollte Deutschland verlassen, weil er die Gefahr sah – allein, ihm fehlte das Geld. Ein folgenschwerer Umstand – übrigens auch kein Einzelfall in diesem Kontext.
Im September 1939, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wurde Jankel Rotstein verhaftet. Im Kaßberg-Gefängnis sah er seine Frau zum letzten Mal. Lange Zeit hoffte er noch, dass er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzung entlassen werden könnte. Viele Briefe dokumentieren sein Hoffen und Bangen während der Zeit der Haft.
Jankel Rotstein wurde schließlich ins KZ Langwasser deportiert. Von dort aus wurde er ins Warschauer Ghetto entlassen. Als er zwei Wochen nach seinem 50. Geburtstag am Hungertod starb, hinterließ er fünf Kinder.
Als ich vor zwei Wochen in der sogenannten Schauzelle im Kaßberg-Gefängnis stand, um mir die Briefe von Jankel Rotstein, die er seiner Liddy schrieb, durchzulesen, hörte ich auf einmal ein lautes Krakeelen und Grölen auf dem Gang. Ich trat aus der Zelle heraus und sah eine Schulklasse. Sie rannten über den Gang und spielten Fangen. Das hat mich sehr traurig gemacht. Zunächst habe ich versucht herauszufinden, wer die Lehrkräfte sind. Sie waren relativ schwer zu erkennen. Ich stellte dann fest, dass diese nicht in der Lage waren – wahrscheinlich genau wie das Elternhaus –, die Schulklasse auf die Würde dieses Ortes entsprechend vorzubereiten.
Nun kann man dadurch kulturpessimistisch werden und man kann das beklagen. Man kann es aber auch als einen Auftrag sehen, den wir haben. Wir haben den Auftrag, den Schrecken der Shoah genau denjenigen Familien und Personen zu vermitteln, die damit überhaupt nicht mehr konfrontiert worden sind. Es ist eine sehr wichtige Aufgabe für die Zukunft. Mir ist für diese Debatte eine Botschaft sehr wichtig: Erinnerungskultur darf kein elitäres Projekt sein. Das ist unsere Aufgabe.
Ich wünsche mir, dass Erinnerungskultur weniger aus Worthülsen besteht. Sätze wie „Für Antisemitismus ist hier kein Platz“ sind wohlfeil, aber sie sind auch nicht wahr. Antisemitismus hat schon längst seinen Platz gefunden. Wir werden ihn nicht mit Worthülsen bekämpfen können, sondern mit Taten.
Abschließend möchte ich etwas Versöhnliches, etwas Schönes sagen, was uns für die Zukunft vielleicht ein Ansporn sein sollte: Ein Sohn von Jankel Rotstein, Siegmund Rotstein, ist nach Chemnitz zurückgekehrt, nachdem er selbst nach Theresienstadt deportiert wurde. Er war von 1966 bis 2006 Leiter der Jüdischen Gemeinde in Chemnitz. Er hat die Jüdische Gemeinde aufgebaut; sie hatte damals zwölf Menschen in ihrem Kreis. 1945 gehörten der Jüdischen Gemeinde in Chemnitz zwölf Personen an. Heute sind es 600 – und das sollte uns Hoffnung bringen und für uns ein Auftrag sein.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 27. Januar erinnert an das, was der Auschwitz-Überlebende Primo Levi als die „schändlichste Seite der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet hat. Er schrieb: „Zu Recht kann man behaupten, wir müssten erzählen, was wir gesehen haben, damit das moralische Gewissen aller wach bleibt und sich jeder künftigen Bestrebung in dieser Richtung widersetzt, sie eindämmt und im Keim erstickt, sodass nie wieder von Vernichtung die Rede sein wird.“
„Nie wieder“ – das war und ist keine Floskel, sondern das ist und bleibt eine konkrete Existenzbedingung der demokratischen Gesellschaft in diesem Land. Sie ist nicht selbstverständlich. Sie steht auch heute unter Druck, und mit ihr die Menschen, die hier mit uns leben. Rechtsextreme Einstellungen sind im Freistaat zuletzt „dramatisch gestiegen“, wie der Sachsen-Monitor zeigt.
Umso mehr darf es uns Hoffnung geben, dass es in der Gesellschaft ein kritisches Bewusstsein für solche Entwicklungen gibt. Dieser Teil der Gesellschaft ist entschieden demokratisch. Er will ein offenes Land mit freien Menschen haben und behalten. Dieser Teil der Gesellschaft meldet sich in jüngster Zeit so breit und so laut wie lange nicht zu Wort und sagt: „Nie wieder – ist jetzt!“
Es geht dabei – so möchte ich anfügen – nicht um die Behauptung, dass ich heute die „schändlichste Seite der Menschheitsgeschichte“ aufs Neue zeige. Historische Analogien sind immer verlockend – ich persönlich halte sie aber meistens für falsch.
Selbstverständlich macht ein Treffen fanatischer Ultra-Nationalisten in Potsdam noch keine „zweite Wannseekonferenz“ und der Inhalt war auch nicht allzu geheim. Schon vor einigen Jahren kündigte ein führender Faschist öffentlich an, dass wir „leider ein paar Volksteile verlieren werden“. Nur macht der Umstand, dass das nicht erst seit gestern unverhohlen vertreten wird, die Sache nicht besser. Und wer millionenfache Deportationen und verbotene Ausbürgerungen vorsieht für den Fall, dass man ihn gewähren lässt, muss sich wohl nicht wundern, dass Menschen sich widersetzen, die es sicherlich nicht so weit kommen lassen wollen.
Dafür steht uns heute nicht nur das moralische Gewissen zur Verfügung, auf das Primo Levi seine Hoffnung setzte. Zum Lernen aus der Geschichte gehört auch das, was mitunter „wehrhafte Demokratie“ genannt wird. Die Worte „nie wieder“ stehen zwar nicht im Grundgesetz, aber es hat sehr wohl konkrete Vorkehrungen getroffen für den Fall, dass jemals wieder Parteien „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen
oder zu beseitigen“. Das gilt auch für Parteien, die für den Fall, dass man sie gewähren lässt, rassistisch motivierte Staatsverbrechen planen.
Die Massendemonstrationen der vergangenen Wochen sagen daher nicht nur „Nie wieder ist jetzt!“, die Massendemonstrationen der vergangenen Wochen bezeugen nicht nur, dass die Behauptungen von Rechtsaußen, sie seien „das Volk“ und es sei „ihr Land“, schon immer eine Lüge waren, sondern diese Proteste sind auch ein klarer Appell zum Handeln an jene, die Verantwortung tragen.
Sagen wir es doch klar: Die häufigste konkrete Forderung in Reden und auf den Plakaten ist die nach der Anwendung der Möglichkeiten, die das Grundgesetz für solche Fälle nun einmal vorsieht.
Natürlich muss eine besonders häufige Forderung nicht automatisch richtig sein. Andererseits sind mit dieser Forderung in kurzer Zeit bundesweit mehr Menschen auf die Straße gegangen als bei allen Pegida-Aufmärschen und Corona-Protesten über die Jahre hinweg zusammengenommen. Und bei denen hat man mit sogenannten Dialogangeboten ja keineswegs gespart.
Alles, was jetzt angeboten wird, ist ein nackter Verwaltungsvorgang, eine Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“. Das allein ist kein Element der wehrhaften Demokratie, sondern ein zahn- und wehrloser Papiertiger, wenn daraus nichts folgt. Daraus sollte folgen, dass unverzüglich Vorkehrungen getroffen werden für den Fall, dass sich ein weiterer Schritt erforderlich macht, nämlich der Antritt des Beweises vor dem zuständigen Bundesverfassungsgericht, dass die Partei „nach ihren Zielen und nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beinträchtigen oder zu beseitigen“.
Einen kleinen Moment. – Es ist die Verantwortung der Staatsregierung, diese Schritte ernsthaft mit vorzubereiten. Anderenfalls muss sie erklären, warum die Demokratie ausgerechnet in diesem schwerwiegenden Fall nicht wehrhaft sein darf, warum „Nie wieder!“ nicht mehr gelten und das Lernen aus der Geschichte umsonst gewesen sein sollen.