Protokoll der Sitzung vom 04.05.2000

Die Möglichkeit, die Beantwortung abzulehnen, ist genutzt worden. Dem ist nicht zu widersprechen.

Wenn es keine weiteren Wortmeldungen gibt, kommen wir zum Abstimmungsverfahren. Ich stelle zunächst die Beschlußempfehlung zu der ersten Petition, die vorgetragen wurde, in der Drs. 3/2994 zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses folgt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Keine. Stimmenthaltungen? - Der Beschlußempfehlung ist bei einer größeren Zahl von Stimmenthaltungen zugestimmt worden.

Ich stelle die Beschlußempfehlung zu der zweiten Petition in der Drs. 3/2995 zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses folgt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Bei einigen Gegenstimmen und einer größeren Zahl von Stimmenthaltungen ist die Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen worden.

Damit ist der Tagesordnungspunkt 10 abgeschlossen.

Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 11:

Beratung

Einsetzung des Sonderausschusses nach § 46 a AbgG LSA zur Überprüfung der Mitglieder des Landtages

Antrag der Fraktion der FDVP - Drs. 3/2925 neu

Änderungsantrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/3078

(Unruhe bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Herren! Gemäß § 46 a Abs. 1 unseres Abgeordnetengesetzes kann der Landtag einen Sonderausschuß einsetzen, durch den seine Mitglieder auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit oder für das Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei der Deutschen Volkspolizei der DDR überprüft werden. Über die Größe und die Zusammensetzung eines solchen Sonderausschusses wird durch den Einsetzungsbeschluß entschieden. Dieser Beschluß bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Landtages. Wir wissen also jetzt schon, daß dann gezählt werden muß.

Der Antrag wird eingebracht von dem Abgeordneten Herrn Wolf. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rechtslage um die Installierung des Sonderausschusses ist bekannt. Auf sie soll nicht näher eingegangen werden, weil sie bereits Gegenstand mehrerer Beratungen war.

Daran vermögen auch die Ausführungen und Wertungen des Ministerpräsidenten dieses Landes nichts zu ändern, der einen Umgang mit der DDR-Vergangenheit nahelegt, der zumindest sehr mißverständlich ist. Es muß aber eine politisch-moralische Frage sein und auch bleiben, ob Abgeordnete bereit sind, Konsequenzen zu ziehen, wenn ihnen eine Spitzeltätigkeit zugunsten der Staatssicherheit nachgewiesen worden ist.

Entsprechend dem von der Volkskammer der DDR am 8. Februar 1950 beschlossenen Gesetz hatte das Ministerium für Staatssicherheit die Aufgabe, als einheit-liches Aufklärungs- und Abwehrorgan mit geheimdienstlichen Mitteln und Methoden die inneren und äußeren Sicherheitsinteressen der DDR zu gewährleisten. Dieses Gesetz sah vor, daß sich die aus ihm ergebenden Aufgaben und Befugnisse durch Richtlinien, Befehle und Dienstanweisungen des zuständigen Ministers geregelt werden sollten, die jedoch grundsätzlich nicht veröffentlicht wurden, sondern geheim waren. Weitere Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten des Ministeriums für Staatssicherheit wurden im Laufe der folgenden Jahre durch Gesetze bzw. Beschlüsse der Volkskammer, des Staatsrates und des Ministerrates festgelegt.

Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit stieg von 55 718 Mitarbeitern im Jahre 1974 auf 85 000 Mitarbeiter im Jahre 1983 an. Die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit unterlagen keinerlei Kontrolle durch die Volkskammer. Die Institution war damit eine Behörde mit ausschließlich eigener Verantwortung.

Kann man aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers noch ein gewisses Verständnis für die hauptamtlichen Bediensteten der Staatssicherheit auf

bringen, so versagt die Bereitschaft bei den sogenannten inoffiziellen Mitarbeitern, die die Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind bildeten. Ohne das Heer verdeckt operierender Informanten hätte der hauptamtliche Apparat seine Aufgaben zu keiner Zeit erfüllen können.

Der Einsatz der inoffiziellen Mitarbeiter beschränkte sich nicht nur auf die Bekämpfung aller subversiven Angriffe des Feindes, so die Aussagen, sondern nahm auch weitere Einflüsse bis in familiäre Bereiche in sich auf. Als weitere Forderung nannte die grundlegende Richtlinie Nr. 1/79, mit der Mielke den IM-Einsatz neu regelte, unter Punkt 1.2: Zum Schutz der sozialistischen Gesellschaft vor erheblichen Störungen, Schäden und Ver- lusten, zum rechtlichen Verhindern jeglicher feindlichnegativer Handlungen sowie zur Gewährleistung einer wirksamen vorbeugenden schadensverhütenden Arbeit sind die IM verstärkt zu nutzen.

Die Forderung nach flächendeckender Prävention bedeutete in dieser umfassenden Definition eine erheblich neue Qualität des Spitzeleinsatzes. Sie erklärt zugleich, weshalb das Heer der inoffiziellen Mitarbeiter beim Zusammenbruch der DDR einen solchen Umfang erreicht hatte. Die inoffiziellen Mitarbeiter berichteten aus allen Bereichen der Gesellschaft, um den Informationsbedarf einer Diktatur zu decken, die keinen freien Informations- und Meinungsaustausch kannte. Im Mittelpunkt der alltäglichen Praxis stand nicht die Enttarnung feindlicher Agenten und ihrer Verbindungen, sondern die zuverlässige Informationsgewinnung über die innere Lage.

Für die flächendeckende Überwachung kamen vor allem inoffizielle Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches zum Einsatz. Inoffizielle Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz arbeiteten in verantwortlichen Positionen, besaßen berufliche Spezialkenntnisse und konnten für operative Ermittlungen eingesetzt werden. Zur Elite im abgestuften Spitzelsystem zählten die inoffiziellen Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindungen bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung in Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen. Dieser Kreis besonders sorgfältig ausgewählter Mitarbeiter umfaßte im Jahr 1988 3 894 Personen.

Eine weitere Kategorie bildeten die inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens, die ihre Wohnung, Anschrift und Telefonnummern dem Ministerium für Staatssicherheit für konspirative Treffen zur Verfügung stellten.

Eine Besonderheit innerhalb dieser kriminellen Vereinigung stellten die hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeiter dar. Sie erhielten eine reguläre Besoldung, wurden in dem Stellenplan des Ministeriums für Staatssicherheit geführt und sind als eine Spezialkategorie dem hauptamtlichen Apparat zuzurechnen.

Bei stetiger Entwicklung und Aufblähung des Personalapparats umfaßte der Personalbestand der inoffiziellen Mitarbeiter für den Staatssicherheitsdienst im Jahre 1988 bereits 141 563 inoffizielle Mitarbeiter - eine wahrlich gigantische Zahl.

Einen Einblick in die Durchsetzung der DDR-Gesellschaft geben die MfS-Statistiken von 1985 und 1986. Hiernach kam im statistischen Mittel ein inoffizieller Mitarbeiter auf 120 Einwohner. Die inoffiziellen Mitarbeiter waren die Augen und Ohren eines allgegenwärtigen Geheimdienstes, dem sie zumindest auf der Basis einer politischen Überzeugung oder auch aus schnöder Geldgier zuarbeiteten. Das MfS überließ die Denunziations

bereitschaft nicht dem Zufall, sondern organisierte sie systematisch und institutionalisierte sie im IM-Netz.

Die Gestapo hingegen, meine Damen und Herren, verdankte ihre Erfolge nur in geringem Umfang eigenen Ermittlungen und festen V-Leuten. Es waren in erster Linie spontane Anzeigen fanatisierter oder rachsüchtiger Denunzianten, die den Repressionsapparat der NSDiktatur in Gang hielten.

Das dichte Netz der inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi sicherte die kontinuierliche Überwachung aller Gesellschaftsbereiche. Die inoffiziellen Mitarbeiter informierten über die Stimmungslage, lieferten Berichte über Nachbarn und Arbeitskollegen, gaben Einschätzungen betrieblicher Probleme und Engpässe und berichteten über vertrauliche Beratungen von Gremien. Darüber hinaus empfingen die inoffiziellen Mitarbeiter von ihren Führungsoffizieren häufig auch gezielte Aufträge zur aktiven Beeinflussung ihres beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeldes. Sittlich-moralische Skrupel bestanden ohnehin nicht.

Im Jahr 1988 führte das MfS 19 169 sogenannte operative Personenkontrollen durch. Sie dienten der Erarbeitung eines Anfangsverdachts und waren nach den einschlägigen Bestimmungen einzuleiten, wenn operativ bedeutsame Anhaltspunkte vorlagen, die eine gezielte Kontrolle von Personen erforderten oder begründeten. Davon waren 7 097 Vorgänge neu eingeleitet worden, und zwar mit steigender Tendenz.

Die Bearbeitung des harten Kerns in operativen Vorgängen erfolgte ebenfalls nach Maßgabe festgelegter Richtlinien und detaillierter Operativpläne. Im Jahr 1988 zählte die Statistik insgesamt 4 543 laufende operative Vorgänge, wobei ein operativer Vorgang auch mehrere Personen umfassen konnte. Das bedeutet, daß - je nach Arbeitsebene - jeder zweite bis dritte IM-führende Mitarbeiter einen operativen Vorgang bearbeitete. Im Jah- re 1988 wurden 1 660 operative Vorgänge neu angelegt. Davon war etwas mehr als ein Fünftel mit dem dehnbaren Verdacht der Begehung von Staatsverbrechen begründet.

Insgesamt leitete das Ministerium für Staatssicherheit eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren mit steigender Tendenz ein. Davon entfielen 9,6 % auf vermutete Straftaten gegen die Volkswirtschaft, Persönlichkeit, sozialistisches und privates Eigentum und 4,2 % auf Staatsverbrechen. Alle übrigen Verfahren waren mit dem Verdacht einer Straftat gegen die staatliche und öffentliche Ordnung begründet, ein Begriff, hinter dem sich vielfache Delikte aus dem weitgefächerten poli-tischen Strafrecht verbargen. Dies gilt ebenso für die sogenannten Staatsverbrechen.

Im Jahr 1988 wurden 91,1 % der Ermittlungsverfahren nicht etwa von den klassischen Strafverfolgungsbehörden eingeleitet, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit. Die Staatssicherheit lieferte gleichzeitig den Repressionsrahmen, der von der sogenannten Judika- tive ohne jede Nachprüfung übernommen wurde.

Vorgehen und Arbeitsweise der Staatssicherheit ergeben sich aus den mittlerweile in der Öffentlichkeit vorliegenden operativen Vorgängen, die, nachdem den ehemaligen Opfern Einsicht in ihre Akten gewährt worden war, publiziert worden sind. Sie zeugen von der völligen Skrupellosigkeit der angewandten Methoden, wenn sie nur irgendwo Erfolg versprachen. Besonders perfide war der Einsatz sorgfältig geplanter Zersetzungsmaßnahmen.

Als bewährte Methoden nennt die operative Vorgangsrichtlinie Nr. 1/76 unter anderem die systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufs, die systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge, das Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen. Auch für dieses schmutzige Geschäft war der Einsatz inoffizieller Mitarbeiter unerläßlich.

Der persönliche Vertrauensbruch erklärt, weshalb enttarnte Spitzel im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen und stehen müssen.

Daß das Ministerium für Staatssicherheit das wichtigste Machtmittel zur Aufrechterhaltung der SED-Diktatur war, steht außer Frage. Die gelegentlich zu lesende These, das Ministerium für Staatssicherheit sei zuletzt an der eigenen Informationsflut erstickt, die Überfülle von Informationen habe den Apparat zur Ineffizienz verdammt, stimmt keineswegs.

Sicherlich hat der Staatssicherheitsdienst und haben die ihm zuarbeitenden inoffiziellen Mitarbeiter trotz eines schier unglaublichen Aufwandes den Zusammenbruch der SED-Herrschaft nicht verhindert. Er hätte jedoch unter anderen politischen Rahmenbedingungen jederzeit die zahlenmäßig kleine Bürgerrechtsbewegung zerschlagen können. Ihre Verhaftung und Verbringung in Konzentrations- und Isolierlager war in allen Bezirken bis in die letzte Einzelheit vorbereitet.

Wenngleich die Wechselwirkung von Staatssicherheit und Gesellschaft noch einer gründlichen Bewertung bedarf, so spricht doch vieles für die Annahme, daß der enorme Ausbau des MfS in den 70er und 80er Jahren nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten zu betrachten ist.

Die auf den ersten Blick völlig aberwitzig erscheinende Infiltration und Durchsetzung von Staat und Gesellschaft mit einem Heer inoffizieller Mitarbeiter diente nicht nur der Überwachung und Informationsgewinnung, sondern stellte zugleich den Versuch einer umfassenden Sozialsteuerung und einer gezielten Manipulation gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse dar.

Historisch neuartig waren weder die eingesetzten Mittel noch einzelne Methoden des MfS, sondern dessen umfassende verdeckte Steuerungs- und Manipulierungsfunktion.

Das Ministerium für Staatssicherheit zersetzte im Verbund mit den inoffiziellen Mitarbeitern die Gesellschaft, um die stets brüchige Stabilität der SED-Herrschaft irgendwie zu sichern. Es war das Herrschaftsinstrument des real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR.

Wir, meine Damen und Herren, sind nicht der Auffassung, daß inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit als Parlamentarier fungieren dürfen und können; denn sie haben sich in Inhalt, Form und Ausdruck mit dem System identifiziert und Dritte ins Verderben gestürzt.

Erlauben Sie mir deshalb, die Leitmaxime von Erich Mielke, die Richtschnur und Leitfaden der offiziellen, die auch die Richtschnur der inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit war, wie folgt wiederzugeben - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident -:

„Wir sind nicht davor gefeit, daß wir mal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das jetzt wüßte, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzen Prozeß. Weil ich Humanist bin, deshalb

habe ich eine solche Auffassung. Das ganze Geschwafel von wegen nicht ‘hinrichten‘ und ‘Todesurteil‘ - alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn nötig auch ohne Gerichtsurteil.“

Das war Mielke.

Meine Damen und Herren! Das ist Stasi ohne Maske; denn es blieben nicht nur Worte. Nicht nur ein Dr. Kohl von der CDU ist zu überprüfen, sondern auch die Genossen eines Herrn Höppner, die die völkerrechtliche Anerkennung der DDR in der Schublade hatten, mit Herrn Honecker scherzten und mit ihm freundschaftliche Kontakte pflegten - das sind die Berufssozialisten.

Soviel zunächst zur Begründung unseres Antrages. - Danke.

(Beifall bei der FDVP - Herr Sachse, SPD: Sind Sie schon überprüft?)

Meine Damen und Herren! Im Ältestenrat ist dazu eine Fünfminutendebatte vereinbart worden in der Reihenfolge SPD, DVU-FL, PDS, CDU, FDVP-Fraktion. Die SPD-Fraktion hat einen Redebeitrag nicht angemeldet. Für die DVU-FL-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Büchner.

(Lachen und Unruhe bei der SPD und bei der PDS - Frau Fischer, Leuna, SPD: Das kann doch wohl nicht wahr sein! - Herr Dr. Brachmann, SPD: Es folgt ein kleiner Erfahrungsbericht! - Herr Met- ke, SPD: Ein kleiner Erfahrungsbericht!)