Protokoll der Sitzung vom 12.10.2000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Leppinger - ist sie da? - nein, im Moment nicht -, wir nehmen Ihr Angebot aus der letzten Landtagssitzung auf und unterbreiten Ihnen unseren damaligen Änderungsantrag noch einmal zur Debatte.

Uns erscheint ein Gedankenaustausch über dieses Thema notwendig, weil in einigen Debatten unterschwellig oder auch ganz offen die Vertreibung als legitimes Mittel zur Lösung von politischen Problemen aufgefasst wurde. Nach unserer Auffassung und entsprechend dem geltenden Völkerrecht ist dies jedoch nicht so, wie ich Ihnen gern darlegen möchte.

Begriffe wie „Vertreibung“, „Umsiedlung“ oder „ethnische Säuberungen“ sind Begriffe des 20. Jahrhunderts. Historisch älter ist der Begriff des Minderheitenschutzes. Dieser spielte schon bei der Abfassung des Westfälischen Friedens im Jahr 1648 eine gewisse Rolle, um die Rechte religiöser Minderheiten gegenüber dem andersgläubigen Landesherrn zu schützen.

Die erste Minderheitenschutzbestimmung stellt Artikel 1 Abs. 2 der Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815 dar. Darin wurde bestimmt, dass den zu Untertanen Russlands, Österreichs oder Preußens gewordenen Polen zwecks Erhaltung ihrer Nationalität gewisse nationale Repräsentationen und Institutionen nach näheren gesetzlichen Maßgaben der Territorialherrschaften zugestanden wurden.

Noch im 19. Jahrhundert war es für Staaten, die neues Staatsgebiet erworben hatten, eine Selbstverständlichkeit, dass die dort lebende Bevölkerung das Recht hatte, in ihrer Heimat zu verbleiben.

Erwähnenswert erscheinen weiterhin die Bestimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878, mit denen die europäischen Großmächte gegenüber den neu entstandenen Balkanstaaten Rumänien, Serbien und Montenegro die Gewährleistung der Freiheit des religiösen Bekenntnisses zur Bedingung für die völkerrechtliche Anerkennung deren staatlicher Unabhängigkeit machten. Die Großmächte rechtfertigten diese Bedingungen mit der Begründung, dass der Eintritt in die Familie der europäischen Staaten die Anerkennung gewisser fundamentaler, für alle Staaten geltender Rechtsgrundsätze voraussetze. Hierin mag man zugleich die allerersten Ansätze eines völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes sehen.

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 zu zahlreichen multilateralen Minderheitenschutzverträgen, deren Unterzeichnung Vorbedingung für die Aufnahme der Vertragspartner in den Völkerbund war. Aufgrund dieser Verträge konnten die Angehörigen nationaler Minderheiten entweder die Staatsangehörigkeit ihres Aufenthaltsstaates annehmen oder ein Optionsrecht zugunsten ihres bisherigen Heimatstaates ausüben, mussten dann allerdings umsiedeln. Im Rückblick auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen muss man allerdings feststellen, dass diese Verträge trotz einiger bemerkenswerter Entscheidungen des ständigen Internationalen Gerichts- hofes ihre Bewährungsprobe nicht bestanden haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand der Schutz von nationalen Minderheiten in den ersten Dokumenten der neu gegründeten Vereinten Nationen keine Beachtung. Vielmehr stand die Nachkriegsentwicklung ganz im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, was zum Teil verheerende Folgen für nationale Minderheiten zeitigte. Erst in dem im Jahr 1976 in Kraft getretenen internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurden die Rechte von Minderheiten erneut rechtlich fixiert.

Die Minderheitenschutzkommission der UN hat am 28. August 1994 und noch einmal im Jahr 1997 bestätigt - ich zitiere aus Artikel 4 -:

„Jeder Mensch hat das Recht, in Frieden, Sicherheit und Würde in seiner Wohnstätte, in seiner Heimat und in seinem Land zu verbleiben. Niemand darf gezwungen werden, seine Wohnstätte zu verlassen.“

In Artikel 7 heißt es:

„Bevölkerungstransfers und -austausch können nicht durch internationale Vereinbarungen legalisiert werden“.

Am 28. Mai 1995 sagte der Hochkommissar für Menschenrechte José Ayala Lasso in der Paulskirche in Frankfurt anlässlich des 50. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkrieges - ich zitiere -:

„Ich bin der Auffassung, dass, hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr über die Implikationen der Flucht, der Vertreibung und der Umsiedlung der Deutschen nachgedacht, die heutigen demografischen Katastrophen, die vor allem als ethnische Säuberungen bezeichnet werden, vielleicht nicht in dem Ausmaß vorgekommen wären.“

Sowohl das Kriegsvölkerrecht - hierzu ist die Haager Landkriegsordnung von 1907 zu nennen - als auch das Friedensvölkerrecht verbieten Vertreibung und zwangsweise Umsiedlung.

Bei der Diskussion um Vertreibung und Zwangsumsiedlung stoßen wir immer wieder auf den Begriff des Rechtes auf die Heimat. Das Recht auf Heimat ist dabei kein territorialer Anspruch, sondern der Ausdruck einer Verbundenheit der Menschen mit Sprache, Kultur und Landschaft, mit dem Land, in dem sie wohnen, aufgewachsen sind und in dem ihre Vorfahren oftmals über Jahrhunderte hinweg gelebt haben.

Heimat ist nicht Nationalstaat. Heimat ist nicht irgend- eine europäische Idee. Heimat ist immer ganz konkret. Heimat ist das Nahe, das Regionale, ist der Ort, wo die Menschen ihre Identität gewinnen, wo sie eingewurzelt sind.

Wenn wir von Vertreibung sprechen, dann meinen wir Vertreibung aus der angestammten Heimat. Deshalb sind diese beiden Begriffe für uns untrennbare Begriffe.

„Wenn es ein Recht auf Heimat nicht gibt, dann“

- ich zitiere den Völkerrechtler Professor Dr. Otto Kim- minich -

„entscheidet nur die Gewalt des Stärkeren. Wenn sich dieses Denken einmal festgesetzt hat, bricht die gesamte internationale Rechtsordnung zusammen und es gibt keine Hoffnung auf Welt- frieden mehr.“

Das Recht auf Heimat ist unseres Erachtens ein Menschenrecht. Das bedeutet, dass es von den Staaten weder durch innerstaatliche Gesetze noch durch zwischenstaatliche Vereinbarungen geschaffen, sondern nur anerkannt werden kann. Das ist ein Kriterium, das im Übrigen für alle Menschenrechte gilt.

Es fehlt also nicht an Erklärungen, Vereinbarungen und Resolutionen, die das Recht auf Heimat festschreiben und die Vertreibung als menschenrechtswidrig verbieten. Woran es fehlt, sind strafrechtliche Konsequenzen eines solchen Handelns.

Erstmals im Jahr 1995 hat die Nato im ehemaligen Jugoslawien solchen ethnischen Säuberungen Einhalt geboten. Aber es sind nicht nur Bosnier, Kroaten, Kosovaren oder Serben, die aus ihren Häusern im ehemaligen Jugoslawien gejagt wurden. Vertreibung ist ein weltweites Phänomen.

Bereits in den Jahren 1945 bis 1956 wurden mehr als 250 000 bodenständige Italiener durch die jugoslawische Regierung aus ihren alten Siedlungsgebieten um Triest an der Adria vertrieben. In den Jahren 1947 bis 1968 verloren über eine Million Palästinenser ihre Heimat, über 140 000 griechische Zyprioten seit der Besetzung des Nordens Zyperns durch die Türkei im Jahr 1974, über sieben Millionen Afrikaner aus dem Tschad, aus Äthiopien, Somalia, aus dem Sudan, aus Burundi und Ruanda, über 100 000 Asiaten aus ostafrikanischen Ländern, zum Beispiel aus Uganda, seit 1972, etwa fünf Millionen Afghanen seit 1979, über 600 000 Vietnamesen - ich erinnere an den Begriff „Boat People“ - seit 1975, Zehntausende Tamilen aus Sri Lanka, Zehntausende Kurden aus Iran, Irak und der Türkei, Zehntausende Indios aus Brasilien, etwa 35 000 MisquitoIndianer aus Nicaragua seit 1983 usw.

Zwei Aufgaben sehen wir, die gelöst werden müssen, um des Problems der Vertreibung in Zukunft besser

habhaft werden zu können. Zum einen müssen völkerrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen verbrecherischen Handelns in internationalem Recht festgeschrieben werden, zum anderen müssen das Recht auf Heimat und die Ächtung von Vertreibung Bestandteil des Grundrechtskatalogs der Europäischen Union werden.

Ich komme jetzt auf unseren Antrag zurück. Unter Nr. 1 unseres Antrages haben wir einen Teil einer Entschließung des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1997 wiederholt, die damals von den Fraktionen der CDU/ CSU, FDP und SPD verabschiedet wurde.

Meine Damen und Herren! Ich denke, die Intentionen dieses Antrages sind deutlich. Insofern kann ich Sie nur um Zustimmung zu unserem Antrag bitten. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Schomburg. - Im Ältestenrat ist für diesen Tagesordnungspunkt ebenfalls eine Fünfminutendebatte vereinbart worden. Vor der Debatte der Fraktionen hat Frau Ministerin Schubert um das Wort ge- beten. Bitte sehr.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns am Anfang eines neuen Jahrtausends und müssen erleben, dass Begriffe wie „ethnische Säuberung“ noch immer zur Wirklichkeit der internationalen Staatengemeinschaft gehören und leider nicht, wie Sie dies bezeichnet haben, als ein Begriff des 20. Jahrhunderts ad acta gelegt werden können. Wir haben das 21. Jahrhundert und das Problem ist immer noch existent.

Die Landesregierung lehnt jeden Akt der Vertreibung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab. Dies sind Verbrechen, die international geächtet und sowohl völkerrechtlich wie auch strafrechtlich geahndet werden müssen.

Die Landesregierung hat bereits in der letzten Plenarsitzung im Zusammenhang mit der Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibung in der Hauptstadt Berlin auf die unveränderte Aktualität des Leids, das Menschen durch Vertreibungsmaßnahmen zugefügt wird, hingewiesen.

Wir sind der Auffassung, dass sich die Vertreibung selbst und auch ihre Folgen niemals rechtfertigen lassen. Es kann deswegen auch keinen Zweifel daran geben, dass es sich um Unrecht handelt. Wir unterstützen deswegen die Bemühungen der Bundesregierung, die sich international mit Nachdruck dafür einsetzt, dass das Verbrechen der Vertreibung, das in der Konvention der Vereinten Nationen gegen Völkermord weltweit geächtet ist, zu einem sanktionsbewehrten völkerrechtlichen Tatbestand gemacht wird.

In diesem Zusammenhang erinnere ich an das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, das die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mitgestaltet hat und welches im Ergebnis zum Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofes geführt hat. Die Gerichtsbarkeit dieses Gerichtshofes ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt. Die internationale Gemeinschaft hat das Verbrechen der Vertreibung explizit als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit aufgeführt.

Das deutsche Zustimmungsgesetz zu diesem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes befindet sich zurzeit im parlamentarischen Verfahren. Ich denke, dass damit Ihr Antrag auf strafrechtliche Sank- tionsbewehrung mit unterstützt wird.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich auf den in diesem Zusammenhang wesentlichen Gesichtspunkt der europäischen Integration eingehen. Der Zusammenschluss europäischer Staaten hat dazu geführt, dass an die Stelle einst unüberbrückbarer nationaler Grenzen, Gräben und Feindschaft Partnerschaft, Zusammenarbeit und Gemeinsamkeit getreten sind. Wir befinden uns auf dem Weg zu einem geeinten Europa der Menschen und der Menschenrechte.

Die Landesregierung wird die weitere Entwicklung zu einem Europa der Freiheit und Freizügigkeit, der Toleranz und Offenheit, in welchem Vertreibung und Unterdrückung von Minderheiten endgültig der Vergangenheit angehören, durch aktive Wahrnehmung ihrer Mitwirkungsrechte unterstützen.

In die Grundrechte-Charta - Konvent 50 - sind verschiedene Aspekte, die mit dem Heimatbegriff zusammenhängen, eingeflossen. Gemäß dem ersten Absatz des Artikels 19 - Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung - sind Kollektivausweisungen nicht zulässig. Hiermit soll gewährleistet werden, dass jeder Beschluss gesondert geprüft wird und dass nicht beschlossen werden kann, alle Personen, die Staatsangehörige eines bestimmten Staates sind, mit einer einzigen Maßnahme auszuweisen.

Gemäß Artikel 21 ist die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verboten. Gemäß Artikel 22 achtet die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

Meine Damen und Herren! Aus den angeführten Bestimmungen wird deutlich, dass sich die EU-Grundrechte-Charta, an deren Ausgestaltung die Ländervertreter in einem verselbständigten Verfahren mitgewirkt haben, die Entwicklung gemeinsamer Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt hat. Die EU-Grundrechte-Charta, die gestern vom Bundeskabinett gebilligt worden ist, bedarf keiner Ergänzung hinsichtlich des im Übrigen rechtlich nicht definierten Rechts auf Heimat.

Ich denke, wir sollten diese Grundrechte-Charta als Land mit unterstützen. Die Landesregierung ist dazu bereit. Die strafrechtliche Sanktionsbewehrung ist eines unserer Anliegen.

(Zustimmung bei der SPD und von der Regie- rungsbank)

Vielen Dank. - Die vereinbarte Debattenreihefolge lautet: DVU-FL, SPD, FDVP, PDS, CDU. Ich erteilte jetzt für die DVU-FL-Fraktion dem Abgeordneten Herrn Preiß das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart werden Menschen von Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen aus ihrer Heimat vertrieben. Dabei ist es unerheblich, ob die Menschen durch Verfolgung, Flucht, Deportation, Auswanderung oder Emigration vertrieben wurden. Wer

seine Heimat unter Zwang verlassen muss, wer in seiner Heimat aus unmenschlichen Gründen um sein Leben fürchten muss, weil er politisch verfolgt wird, weil er einen fremden Glauben hat oder weil Kriegsgewinnler seine Heimat eroberten, hat Anspruch auf internationale Hilfe.

Gerade wir in Deutschland mussten schmerzlich erfahren, wie Millionen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Verlassen ihrer angestammten Heimat gezwungen wurden. Aber wir konnten auch erleben, dass viele der Vertriebenen in den verbliebenen deutschen Ländern aufgenommen wurden. Wir sind damals enger zusammengerückt.

Das ist natürlich kein modernes Beispiel für die Bewältigung der gegenwärtigen Vertriebenenprobleme. Die modernen Kriege, in die wir unsere Soldaten, einmal als Kontingent der Uno oder auch einmal als Teilstreitmacht der Nato, schicken, zwingen die betroffenen Völker zu dramatischen Fluchtaktionen. Oft werden ganze Völker oder Volksgruppen vertrieben. Der Balkankrieg hat uns bewiesen, wie machtlos wir dem Flüchtlingsstrom gegenüberstehen.

Die europäische Staatengemeinschaft hat bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges tatenlos die diktatorischen Machthaber auf dem Balkan gewähren lassen. Sie hat es versäumt, im Vorfeld des Krieges auf demokratische Veränderungen zu drängen, hat sich aber bei Ausbruch des Krieges massiv in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten eingemischt.

Zehntausende Kriegsflüchtlinge kamen nach Deutschland, wenige Tausend in die Nato-Partnerländer, fast keine in die USA.