Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 69. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode.
Wir setzen die Sitzungsperiode nunmehr fort. Vereinbarungsgemäß beginnen wir die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 4:
In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion zehn Minuten. Die gleiche Redezeit hat die Landesregierung. Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: SPD, DVU, PDS, FDVP, CDU. Zunächst hat als Antragsteller die SPD-Fraktion das Wort. Es spricht der Abgeordnete Herr Eckel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für diese Aktuelle Debatte gibt es zwei Anlässe. Der erste Anlass sind die Entwicklung der chemischen Industrie selbst und die Überlegung, den mit dieser Branche aus unserer Sicht beispielhaft geführten Dialog auf weitere Branchen auszudehnen. Der zweite Anlass ist die derzeit heftig und aus meiner Sicht bisweilen wenig objektiv geführte Debatte zur wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land, deren positive Aspekte pünktlich vor dem Wahlkampf selbst ein Friedrich Merz nicht zu übersehen imstande ist, wie sein Besuch bei Sket in dieser Woche zeigte. Doch dazu später.
Um nicht in den Verdacht zu kommen, Statistiken zu schönen und als Märchenonkel bezeichnet zu werden, wie geschmackloserweise kürzlich der Ministerpräsident betitelt wurde, schicke ich Folgendes voraus: Mir und meiner Fraktion ist bei der Debatte zu den Wachstumsbranchen wohl bewusst, dass sich bei einem unterdurchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner die Wirtschaft Sachsen-Anhalts verhalten entwickelt.
Auch die höchste Arbeitslosen- und eine vergleichsweise geringe Selbständigenquote haben wir im Kopf, genauso wie die Tatsache, dass unsere Wirtschaft zwar von mittelständischen Strukturen dominiert wird, viele mittelständische Unternehmen allerdings zu klein sind, um wachsen zu können. An solchen Fakten gibt es nichts zu beschönigen und es soll auch nichts beschönigt werden.
Ob wir aber als Wirtschaftsstandort im globalen Standortwettbewerb besser bestehen, wenn wir schlechte Statistiken permanent vor uns hertragen, habe ich meine Zweifel.
Meine Damen und Herren! Muss sich die Landespolitik nicht gerade deshalb auf wachstumsintensive, impulsgebende Kernkompetenzen der Wirtschaft im Lande
stützen, muss sie nicht ebensolche Kernkompetenzen langfristig weiterentwickeln und parallel dazu die Potenziale anderer Branchen aufschließen? - Ich meine, sie muss und kann es erfolgreich. Das ist am Beispiel der chemischen Industrie erkennbar.
Im Branchenvergleich befindet sich die chemische Industrie des Landes Sachsen-Anhalt in Bezug auf die Umsatzentwicklung mit mehr als 7 Milliarden DM knapp hinter dem Ernährungsgewerbe an vorderster Stelle. Die Umsätze im Bereich der chemischen Industrie stiegen gegenüber dem Vorjahr um 32,2 %, der Umsatz je Beschäftigten stieg um 32 %, der Auslandsumsatz von Januar bis April 2001 stieg um 81 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Auch wenn wir uns einen Beschäftigungszuwachs von mehr als 0,7 % gewünscht hätten, bleibt festzuhalten: 36 % der im Osten in der Chemieindustrie Beschäftigten sind in Sachsen-Anhalt beschäftigt und erwirtschaften 50 % des Gesamtumsatzes der ostdeutschen Chemieindustrie!
Die Leistung der Chemiebranche wird Ihnen deutlicher, wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass es im Jahr 1990 noch 117 000 Beschäftigte in der Chemieindustrie des Landes gab; im April des letzten Jahres waren es nur noch 11 700 Beschäftigte. Inzwischen hat sich um die Branche der chemischen Industrie ein leistungsstarker industrieller Mittelstand entwickelt. Ich verweise auf eine Studie des VCI, die belegt, dass mit jedem Arbeitsplatz in der Chemieindustrie drei weitere, vor allem mittelständische Arbeitsplätze entstehen.
Auch wenn wir die Umstrukturierung in dieser Branche als abgeschlossen betrachten können, stehen wir doch vor der nächsten Herausforderung. Dabei wird es im Kern um die langfristige Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums der chemischen Industrie und anderer Branchen gehen. Diese Kernfrage hat viele Fassetten.
Wie am Beispiel der chemischen Industrie bewiesen ist, wird das im engen Dialog zwischen Politik und Wirtschaft der jeweiligen Branchen am ehesten gelingen können. Dabei geht es vor allem, aber eben nicht nur um die zukünftigen Investitionsentscheidungen. Weil wir diese Fragen erst im Oktober des letzten Jahres erörtert haben, möchte ich nur einige Kernpunkte in Erinnerung rufen, die im Dialog mit der chemischen Industrie eine Rolle spielen.
Ich erinnere an die Debatte zur künftigen Chemikalienpolitik in Europa, in der es uns im Verbund mit der chemischen Industrie gelang, die landespolitischen und die Brancheninteressen für den Erhalt und den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit sowohl des Wirtschaftsstandortes Sachsen-Anhalt allgemein als auch der Chemieunternehmen im Einzelnen durch gemeinsames Vorgehen durchzusetzen.
Ich erinnere an den begonnenen Aufbau strategischer Allianzen und internationaler Netzwerke von Chemieregionen, die für die Marktentwicklung, die Sicherung der Rohstoffversorgung und den Know-how-Transfer ebenso von Bedeutung sein werden, wie wirtschaftliche Vorteile aus arbeitsteiliger Produktion zu erwarten sind.
Ich rufe in Erinnerung, was im Ergebnis des Strategiedialogs in die Agenda für die nahe Zukunft aufgenommen wurde. Dabei ist beispielsweise auf den Aufbau eines regionalen Ansiedlungsmanagements unter Beteiligung der chemischen Industrie, der Landesregierung und regionaler Strukturen hinzuweisen sowie auf das
Netzwerk der mitteldeutschen Kunststofftechnik und auf den Transfer von Know-how im Transformationsprozess der Volkswirtschaften der EU-Beitrittsländer, um nur einiges zu nennen.
Abgesehen davon, dass es im globalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte ohnehin Sinn macht, permanent den Dialog zwischen der Politik und den Industriebranchen anzustreben, wird gerade an dem zuletzt genannten Punkt die Notwendigkeit deutlich, auch mit anderen Branchen Strategien zu besprechen.
Mit der EU-Osterweiterung - das war zuerst der Chemieindustrie im Land klar - müssen die ostdeutschen Länder die Berücksichtigung ihrer Wirtschaftspotenziale und die Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zum Gegenstand der Verhandlungen mit den Beitrittsländern machen.
Solche strategischen, im Interesse der Wirtschaft und der Politik liegenden Punkte, wie am Beispiel der Chemieindustrie eben beschrieben, sind das eine. Das andere sind die Begleiterscheinungen, die im Prozess der Osterweiterung vor einer Branchenabgrenzung eben nicht Halt machen werden. Wir hatten bereits im Oktober des vergangenen Jahres über mögliche Auswirkungen von Pendlerbewegungen und Unterschieden bei den Löhnen gesprochen. Auch Themen wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit werden auch die Wirtschaft und nicht nur die Politik beschäftigen.
Wir sind der Überzeugung, das Erfolgsmodell der Branchenentwicklung am Beispiel der Chemieindustrie kann auch in anderen Branchen wirtschaftspolitisch gewollte, langfristige Entwicklungen beschleunigen.
Meine Damen und Herren! Hierzulande wird Politik für alles Mögliche verantwortlich gemacht, meist jedoch für das Schlechte. Vielleicht lernen wir es, die Politik auch für Bereiche verantwortlich zu machen, in denen es Erfolge gibt.
Das Land Sachsen-Anhalt entwickelt sich in einigen Branchen sehr gut. Ich nenne neben der Chemieindustrie das Ernährungsgewerbe, das im Jahr 2001 gegenüber dem Vorjahr ein Umsatzplus in Höhe von 15 % erzielt hat. Ich nenne die Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren mit einer Umsatzsteigerung in Höhe von 23,4 % und ich nenne die Metallerzeugung und -bearbeitung mit einem Umsatzplus in Höhe von 20 % gegenüber dem Vorjahr. Damit geht zum Glück, wenn auch nur langsam, ein Beschäftigungsaufbau einher.
In einer Studie des IWH wird dem Land Sachsen-Anhalt in allen Wirtschaftsbereichen außer der Bauwirtschaft die höchste Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen aller neuen Bundesländer bescheinigt.
Nun können Sie, meine Damen und Herren von der CDU, mich gern einen Märchenonkel nennen, der etwas schönredet. Das nehme ich Ihnen nicht übel, zumal Sie Ihren eigenen Märchenprinzen haben.
Der Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz hat nämlich mit einem hübschen Satz bei Sket am Dienstagabend ein nettes Märchen erzählt, indem er auf das Land Sachsen-Anhalt bezogen sagte:
„In einem rot-rot regierten Land, das flächendeckend ABM pflegt, kann sich Mittelstand nicht entwickeln.“
Was die Beifall spendenden anwesenden Märchenfreunde nicht wussten, ist: Bei der Anzahl der Teilnehmer an ABM und SAM je 100 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte wird das Land Thüringen mit 8,8 Teilnehmern nur noch von Mecklenburg-Vorpommern mit 9,1 Teilnehmern übertroffen. Also bleiben Sie bei der Vergabe von Märchentiteln schön auf dem Teppich, meine Damen und Herren, und mit den Branchen im Dialog, um den Wirtschaftsstandort Sachsen-Anhalt voranzubringen. - Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Minister- präsident Herrn Dr. Höppner und von Ministerin Frau Dr. Kuppe)
Danke schön, Herr Eckel. - Die DVU-Fraktion hat auf einen Redebeitrag verzichtet. Für die PDS-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Herr Dr. Süß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Oktober des vergangenen Jahres haben wir diese Thematik im Rahmen einer Aktuellen Debatte zur Chemiepolitik aufgrund eines Antrages mehrerer Abgeordneter behandelt und im Wirtschaftsausschuss weiter verfolgt. Dennoch ist es richtig und wichtig, hier erneut darüber zu diskutieren. Das gebietet allein die Bedeutung der chemischen Industrie in unserem Land und auch die dort erzielten Fortschritte.
Der Chemieindustrie und anderen Branchen wird zuweilen mit dem Hinweis auf so genannte alte Ökonomien die Zukunftsfähigkeit abgesprochen. Aber gerade die Chemieindustrie spielt für das wirtschaftliche Wachstum, für Innovation und Beschäftigung auch in Zukunft eine wichtige Rolle. Sie ist als Querschnittsbranche ein wesentlicher Impulsgeber für Fortschritte in anderen Industriezweigen. Industriezweige wie die Chipherstellung, die Landwirtschaft oder der Maschinen-, Anlagensowie Fahrzeugbau profitieren von den neuen Produkten, Verfahren und Problemlösungen der Chemieindustrie.
Die chemische Industrie hat trotz der gravierenden Umbrüche und Abbrüche im Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gerade im Land Sachsen-Anhalt wieder einen bedeutenden Platz eingenommen. In 125 Betrieben mit mehr als 12 200 Beschäftigten wurde im vergangenen Jahr ein Umsatz in Höhe von mehr als 7,1 Milliarden DM realisiert. Damit ist die Chemie unmittelbar nach der Nahrungsmittelindustrie der zweitwichtigste Wirtschaftszweig unseres Landes.
Mit den im Zeitraum von 1991 bis 2000 getätigten Investitionen in Höhe von fast 15 Milliarden DM wurde eine Produktionsbasis modernsten Zuschnitts errichtet. Diese Entwicklung ist von politischen Grundsatzentscheidungen zur Fortexistenz des Chemiedreiecks in unserem Land und von den aktuellen strategischen Abstimmungen im Rahmen des Chemiedialogs sowie von erheblichen finanziellen Zuschüssen und Fördermitteln vom Bund, vom Land und von der Europäischen Union getragen und unterstützt worden.
Wir betrachten den erreichten Stand als eine gute Grundlage und eine Chance für den weiteren, dringend notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung in unserem
Land. Dabei sehen wir in der Revitalisierung der Chemiealtstandorte in Form von Chemie- und Industrieparks beste Voraussetzungen für die weitere Ansiedlung von Unternehmen im Sinne des Aufbaus und der weiteren Gestaltung von Stoffkreisläufen mit hoher Wertschöpfung. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Anteil chemischer Grundstoffe am Chemieumsatz in Sachsen-Anhalt mit 77 % beträchtlich über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer und noch stärker über dem Durchschnitt der alten Bundesländer liegt.
Ein zweiter zwingender Grund für die Ansiedlung weiterer Unternehmen, um Standorte wie Bitterfeld, Leuna und Buna füllen und langfristig absichern zu können, besteht darin, dass die aufwendig modernisierte Infrastruktur auf die Größe der jeweiligen Gesamtareale ausgerichtet ist und damit auch entsprechend hohe Kosten entstehen.
Vom Vorsitzenden des Verbandes der Chemischen Industrie Bereich Nordost wurde hierfür ein Investvolumen von ca. 12,5 Milliarden € genannt, das noch beträchtlich über dem seit 1991 realisierten Investvolumen liegt. Die Größe dieser gewaltigen Aufgabe wird dadurch besonders deutlich, dass die Fördermittel für einen kürzeren Zeitraum verfügbar sind und tendenziell geringer werden.
Eine höhere Wertschöpfung ist untrennbar mit mehr Innovation, das heißt der Anwendung von Ergebnissen von Forschung und Entwicklung, verbunden. In diesem Zusammenhang ist die angekündigte Errichtung eines Demonstrationszentrums für Polymersynthesen des Fraunhofer-Instituts besonders zu begrüßen. Zugleich müssen wir aber noch mehr Augenmerk darauf richten, wirksamere Methoden für die Überleitung von Forschungsergebnissen in kleine und mittelständische Unternehmen zu entwickeln.
Nach wie vor klafft hier eine Lücke, weil kleinere Unternehmen die finanziellen Mittel zur Überleitung von Ergebnissen von Forschung und Entwicklung in anwendungs- und produktionsreife Produkte und Verfahren nicht aufbringen können. In diesem Punkt greifen die Programme des Landes nach wie vor noch nicht ausreichend.
Die Zusammenarbeit mit Chemieregionen in Polen und Tschechien hat eine überaus große Bedeutung für den europäischen Integrationsprozess im Rahmen der Osterweiterung der EU. Sachsen-Anhalt kann in diese Zusammenarbeit neben der unmittelbaren Kooperation die in unserem Land gewonnenen Erfahrungen bei der Umstrukturierung der Großkombinate und nicht zuletzt bei der Altlastenbeseitigung einbringen. Auf diesen Gebieten sind ebenfalls neue und wirksame Verfahren von weltweiter Bedeutung entwickelt worden.
Weitere Unterstützung sollte auch die rechtzeitige Sicherung der sehr bald von kleinen und mittelständischen Unternehmen und von der chemischen Industrie generell benötigten Fachkräfte finden. Die Bildung eines Nachwuchskräftepools für den Zeitraum von zunächst zwei bis drei Jahren von mehreren Klein- und Mittelstandsunternehmen in Leuna, die junge Fachkräfte aufnehmen, die nach der Lehre nicht übernommen werden, aber für den Einsatz in den Unternehmen jederzeit bereitstehen, ist sicherlich ein verallgemeinerungswürdiges Beispiel. Finanzielle Mittel sollten, statt für Abwanderungsprämien
Gleichermaßen ist die Ausbildung von Chemie- und Verfahrensingenieuren zu fördern. Der Verband der Chemischen Industrie Nordost schätzt ein, dass ab diesem Jahr jährlich ein Bedarf an 150 Hoch- und Fachhochschulabsolventen besteht und dass dieser ab dem Jahr 2008 auf jährlich 400 steigen wird. Die gegenwärtige Zahl von Hochschulabsolventen ist dafür nicht ausreichend.
Es gibt also eine Menge guter Gründe, den Dialog zwischen Landesregierung und Chemieindustrie fortzusetzen sowie auf weitere Branchen auszudehnen. Diese Absicht wurde von der Landesregierung bereits erklärt. Wir unterstützen dies in vollem Umfang und uneingeschränkt. - Vielen Dank.