Protokoll der Sitzung vom 15.11.2002

Diese Abhängigkeit erfordert, dass man aufeinander eingeht, dass man die politische Bildung und diese Bindung aneinander als unverzichtbar anerkennen muss. Denn der Umgang mit Freiheit und Demokratie und mit der Pluralität unserer Gesellschaft muss erlernt werden. Das Erlernen und der Umgang damit setzen bestimmte Kompetenzen voraus. Folglich liegt die politische Bildung im Interesse der ganzen Gemeinschaft; es ist nicht eine Angelegenheit des Einzelnen.

Wir haben das Recht auf Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit gilt für jeden und für alle uneingeschränkt, aber sie ist nicht verbunden mit der Pflicht zur Kompetenz. Es wäre zwar wünschenswert, dass die Kompetenz bei allen vorhanden ist, aber das kann man nicht verpflichtend nehmen. Aber die Meinungsfreiheit, die herrscht. Also hat jeder eine Meinung; aber nur relativ wenige haben Ahnung, wovon sie sprechen.

(Frau Budde, SPD, und Frau Fischer, Naumburg, SPD, lachen)

Selbst wenn sie sich zurückhalten - spätestens bei einer Wahl müssen sie, auch wenn sie nicht viel Ahnung haben, eine Entscheidung treffen. Also muss es in unserem Interesse liegen, dass sie möglichst viel Kompetenz, also möglichst viel Ahnung haben.

Das ist nicht so einfach, wie man sagt: Wer viel weiß, hat mehr vom Leben. Das kann im persönlichen Bereich gelten, aber hierbei geht es um den allgemeinen Bereich. Und da ist es eben auch so: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Wer sich nicht gebildet hat, der glaubt alles, und ob es dann das Richtige ist, das merkt er zum Teil erst viel zu spät, wenn er seine Entscheidung getroffen hat.

(Zustimmung bei der SPD - Herr Gürth, CDU: Das stimmt!)

Das mag Ihnen kürzlich so gegangen sein, das ist uns vor noch kürzerer Zeit so gegangen. Aber das ist gar nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist, dass wir, alle Parteien, alle Fraktionen hier in diesem Landtag, das Gleiche gemeinsame Interesse daran haben müssen.

Ich hätte diesen Satz vor einem Dreivierteljahr, vor einem Jahr in diesem Landtag nicht so ausgesprochen.

Aber jetzt ist die Situation gegeben; jedenfalls kann man das wohl voraussetzen.

Weil das so ist, haben auch alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen Anspruch auf politische Bildung. Gerade bei Jugendlichen ist es so, dass für sie die Welt grundsätzlich immer auch erklärungsbedürftig ist. Das muss man ihnen zubilligen und man muss ihrem Anspruch gerecht werden.

Nun ist die Frage: Wie steht es denn mit der politischen Bildung in Sachsen-Anhalt? Wenn man sich den allgemeinen Eindruck, den wir, glaube ich, immer selbst gewinnen können, vergegenwärtigt, dann muss man wohl sagen: nicht besonders gut. Dazu kann jeder Beispiele bringen, vielleicht nicht im engsten Umfeld, weil wir selber auf dieses Umfeld einwirken; aber darüber hinaus kann man schon erschreckende Beispiele finden.

Ich will jetzt nicht in Beispielen schwelgen, aber wenn mir auf dem Weg zur Wahl jemand mit dem Fahrrad begegnet, weil pflichtbewusst vorzeitig gewählt werden soll, und mir sagt: „Ich weiß gar nicht genau, was ich wählen soll“, dem könnte ich ja noch einen Ratschlag geben.

(Herr Gürth, CDU: Ich auch!)

Aber wenn es dann heißt: „Ich habe gehört, ich habe noch eine zweite Stimme. Was ist denn damit? Wen soll ich denn dann wählen?“,

(Minister Herr Dr. Daehre: Noch mal CDU!)

und es sind quasi gebildete Leute, die auf dem Weg zum Wahllokal eine solche Frage stellen, dann muss man zu der Einschätzung kommen, dass es mit der politischen Bildung in unserem Lande nicht so sehr weit her ist.

Bei Jugendlichen muss man selbstverständlich zuerst ansetzen. Es gilt zwar hier nicht der Satz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ - sehr viele Menschen haben das ja auch im Alter noch gelernt -, aber was Hänschen einmal gelernt hat, vergisst er auch nicht so leicht. Also muss bei Jugendlichen frühzeitig etwas getan werden.

Und wenn wir fragen, wie es denn damit steht, dann können wir seit kurzem auf das Ergebnis einer Studie verweisen, einer Studie, die im Auftrag des Kultusministeriums angefertigt worden ist, eine Studie, aus dem - ich sage es einmal so - DVU-Schock heraus, als sich herausgestellt hatte, dass bis zu 30 % der Jungwähler DVU gewählt hatten, wobei wir uns das alles zunächst nicht so recht erklären konnten. Es war also doch die Mühe wert zu untersuchen, wie es mit der politischen Bildung in unserem Lande steht.

Die Studie ist vom Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung angefertigt worden. Die Ergebnisse sind kürzlich erschienen und in Kurzfassung auch an die Mitglieder des Bildungsausschusses verschickt worden.

Es war eine - nur zur kurzen Kennzeichnung - durchaus repräsentative Studie. Es wurden 1 400 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren befragt, es sind Gruppendiskussionen mit Schülern, aber auch mit Lehrergruppen durchgeführt worden, es sind großstädtische, aber auch ländliche Verhältnisse sowohl im Norden als auch im Süden unseres Landes geprüft worden und es sind fünf verschiedene Schulformen in die Studie einbezogen worden. Die Studie genügt also allen Anforderungen, die man an eine repräsentative Studie stellen kann.

Einige kurze Ergebnisse, die einen im Grunde genommen erschrecken müssen.

Nur 12 % der Jugendlichen halten sich für politisch interessiert oder sehr interessiert. - Ich weiß sehr wohl, Interesse kann man nicht befehlen. Interesse kann man wecken, aber man kann es nicht anordnen. Man muss jedoch etwas tun, damit das Interesse geweckt wird und damit auch die Gründe dafür, sich auf politische Verhältnisse, auf politische Regeln, auf die Zusammenhänge der Demokratie etwas mehr zu konzentrieren, von den jungen Leuten akzeptiert werden.

Der zweite erschreckende Punkt ist, dass die Jugendlichen eine große Distanz zur Politik haben. Viele missverstehen demokratische Konfliktmechanismen. Dabei kommen wir - das müsste man noch näher ausführen - auch zu den klassischen Missverständnissen der Demokratie, die es auch gibt.

Eines dieser Missverständnisse, dem die jungen Leute unterliegen, ist Folgendes: Sie übertragen die Kategorien des privaten Lebens auf die Kategorien des allgemeinen Lebens. Im privaten Leben ist es verständlich und natürlich, dass man keine Konflikte haben möchte, dass die Eltern der Kinder und Jugendlichen sich nicht streiten sollen, was diese als Belastung empfinden würden.

In der Öffentlichkeit aber, im politischen Raum der demokratischen Gesellschaft gehört der Konflikt dazu und ist lebensnotwendig. Das müssen die Jugendlichen lernen. Sie müssen konfliktfähig werden. Sie müssen akzeptieren, dass die Kategorien des Privaten nicht im Öffentlichen gelten. Sie müssen im Öffentlichen etwas lernen, das sie im Privaten nicht lernen konnten. Davor scheuen sie zurück. Sie haben Distanz zur Politik, weil sie diese als Streit wahrnehmen, von dem sie meinen, er sei vermeidbar.

Wir alle erleben, dass Leute, ob Jugendliche oder Erwachsene, zu uns kommen und uns sagen: Die Politiker, die Parteien, der Landtag sollen sich nicht streiten, sondern gemeinsam etwas Gutes für die Leute machen. - Genau diese falsche Ansicht, die an dem eigentlichen Aufgabenfeld, das wir zu beackern haben, vorbeigeht, ist bereits bei den jungen Leuten vorhanden. Wenn sie nicht lernen, davon Abstand zu nehmen und davon wegzukommen, dann wird sich das Verständnis nicht bessern und der Demokratie wird kein Dienst erwiesen. Der Erwerb von Konfliktkompetenz ist eine der Aufgaben in der politischen Bildung; eine schwierige Bildungsaufgabe.

Bemerkenswert ist noch Folgendes: Rechts orientierte Jugendliche zeigten sich statistisch gesehen politisch interessierter als andere. Das haben sie jedenfalls von sich gesagt. Sie nutzten die Instrumente der Demokratie, teilten aber nicht die Normen der Demokratie. Damit fällt das auseinander, was wir auf der einen Seite schlichtes Wissen und auf der anderen Seite Bildung nennen, nämlich die Verarbeitung dieses Wissens im Sinne der Bildung eines Menschen, der nicht nur Wissen anhäuft. Darum geht es. Es geht bei der politischen Bildung in der Schule nicht nur um die Anhäufung von Wissen, sondern auch um dessen Verarbeitung.

Was ist also zu tun, um die politische Bildung zu verbessern? - Zunächst einmal ist es wichtig - dabei sind wir uns wahrscheinlich einig -, dass alle Parteien etwas dafür tun. Allein schon dadurch, dass es Parteien gibt, die Veranstaltungen durchführen, die Mitglieder haben, die

werben - allein dadurch tun sie etwas dafür. Wir haben eine Landeszentrale für politische Bildung, wir haben die politischen Stiftungen, wir haben Medien und Veranstaltungen. Das ist eine ganze Menge, das geschieht ja.

Unser Antrag zielt jedoch auf die spezielle Gruppe der jungen Leute in den allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen. Dort ist die Bildung zur Demokratie, also auch das Erlernen von Konfliktfähigkeit - nicht nur die Wissensvermittlung - eine sehr wichtige Aufgabe.

Wie kann man das erreichen? - Erwünscht und verlangt wird eine Reformierung sowohl des Fachunterrichts - das berührt mehr das Kontingent Wissen - als auch des Schullebens im Sinne der Demokratie, damit die Schule zunehmend eine Schule der Demokratie wird.

Ich habe in einer Klasse erlebt - ich unterrichte häufig Sozialkunde -, dass eine Lehrerin Folgendes gemacht hat: Sie hat den Schülerinnen und Schülern gesagt, wir spielen jetzt einmal Wahl. Ihr bildet Parteien und schreibt Programme auf. Das haben sie auch brav gemacht. Dann haben sie Wahlkampf geführt. Dann haben sie sich gegenseitig erzählt, was sie alles machen, mit Frage und Gegenfrage. Dann haben sie abgestimmt und am Ende hat natürlich keine Gruppe die Mehrheit gehabt. Dann mussten sie Koalitionsverhandlungen führen und von ihren Zielen, die sie vorher verteidigt haben, abrücken, bis sie am Ende eine Mehrheit zusammengekriegt haben, und dann war die Sache geregelt.

Das geht natürlich nicht in einer Stunde. Dafür muss man schon ein paar Stunden investieren. Diese Schüler haben aber plötzlich gemerkt, dass das Ganze nicht so einfach ist. Das ist ein einfaches Beispiel, das es wohl in der Wirklichkeit leider noch nicht so oft gibt.

Ich komme auf einige Empfehlungen aus der Studie zurück. Diese sind in 16 Punkten zusammengefasst, aber ich erwähne nur wenige, die sich speziell auf die Schule beziehen:

Die Sozialkunde sollte ein strukturell starkes Fach bleiben und werden.

(Zustimmung von Herrn Bischoff, SPD)

Die gesellschaftlichen Themen und Probleme sollten dabei thematisiert werden. Es sollte nicht so getan werden, als sei das die Schule und das Leben komme später.

Das Demokratieverständnis muss durch geeignete Projekte gefördert werden - also etwa durch das Beispiel, das ich eben geschildert habe. Die konflikthaften Prozesse in der Gesellschaft und in der Politik müssen darin dargestellt werden. Es darf nicht nur gesagt werden, wie es abläuft, sondern es muss so ablaufen, dass der Streit dazugehört.

Die Orientierung nach außen - wir leben nicht nur in Sachsen-Anhalt, nicht nur in Deutschland - unter dem Schlagwort: Die Welt soll in die Schule geholt werden, mit all ihren Schwierigkeiten und Problemen, und nicht nur wenn es irgendwo Krieg gibt - und das ganze Vorfeld ist nicht beredet worden.

Wir bezwecken mit unserem Antrag, dass mehr Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt wird, dass diese Studie aufmerksam betrachtet wird. Wir hoffen auf Unterstützung von den anderen Fraktionen. Wir bauen darauf, dass die Landesregierung auch mit Unterstützung dieser Studie in dieser Richtung verstärkt tätig wird. Wir erwarten nicht, dass die Studie im Verhältnis

1 : 1 in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Sie soll vielmehr Anregung dazu sein, auf diesem Feld etwas mehr zu tun. Es ist eine langfristige Aufgabe.

Die Wirkung einer solchen Tätigkeit ist nur sehr schwer erfassbar. Man kann auch kaum Leistungsstandards für die politische Bildung festlegen. Ich habe aber einen pädagogischen Optimismus in dieser Hinsicht: Vieles, von dem man zunächst meint, dass es verloren gegangen sei, geht als Saat zu einem späteren Zeitpunkt doch noch auf. Was in der Schule einmal vermittelt worden ist, geht nicht alles verloren.

Es lohnt sich also, etwas zu tun. Ich fordere Sie auf, auf diesem Gebiet gemeinsam etwas für die Entwicklung der Demokratie in unserem Land zu tun. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU, bei der PDS und bei der FDP)

Danke, Herr Dr. Fikentscher, für die Einbringung. - Wir treten jetzt in die Debatte ein. Für die Landesregierung hat Professor Dr. Olbertz um das Wort gebeten.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Abgeordnete! Es ist unstrittig, dass politische Bildung Teil des Bildungsauftrages der Schule ist. Ebenso herrscht Einigkeit darüber, dass eine auf die Schule beschränkte politische Bildung nur bedingt wirksam sein kann, wenn außerhalb der Schule Demokratieerfahrungen nicht in dem erforderlichen Umfang erworben werden können.

Politische Bildung ist nur zum Teil ein Unterrichtsinhalt bzw. ein eigens aufzurufendes Thema der Schule, sondern auch ein Erfahrungstatbestand im täglichen Leben unserer Gesellschaft. Insofern handelt es sich in der Tat um eine übergreifende Aufgabe, deren Gelingen allerdings davon abhängt, wie Schule im Alltag funktioniert.

In dem Anliegen, dass die politische Bildung nachhaltig verbessert werden muss, sind sich die Verfasser des Antrages wie auch die des Änderungsantrages einig. Diese grundlegende Übereinstimmung möchte ich ausdrücklich hervorheben, bevor die voneinander abweichenden Verfahrensvorschläge der jeweiligen Anträge zur Sprache kommen sollen.

Ob man, wie die SPD-Fraktion, von einem Handlungskonzept oder, wie die CDU- und die FDP-Fraktion, von Evaluation spricht, dürfte in der Sache keinen unüberbrückbaren Unterschied ausmachen. Der Ausschuss für Bildung und Wissenschaft wird sich sicher in keinem Fall mit einer Bewertung im Sinne einer reinen Zustandsbeschreibung zufrieden geben, sondern er erwartet Schlussfolgerungen, die ohne entsprechende Handlungsvorschläge kaum denkbar sind.

Ein wichtiger Unterschied der beiden Anträge ist allerdings die Zeitspanne, innerhalb derer die Landesregierung dem Landtag berichten soll. Sie ergibt sich vor allem daraus, dass die SPD-Fraktion nur e i n e Grundlage für ein Handlungskonzept in Sachen politische Bildung nennt, nämlich die Studie „Jugend und Demokratie“ vom Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung an der Martin-Luther-Universität, deren Untertitel übrigens weniger pathetisch als im SPD-Antrag wiedergegeben lautet: „Empirische Bestandsaufnahme und Perspektiven für die politische Bildung“.

Die ausschließliche Orientierung eines Programms für die politische Bildung an der erwähnten Studie wäre aber eine unzulässige Engführung ihrer Befunde, Deutungen und entworfenen Perspektiven. Die Studie ist auch nicht unter dieser Aufgabenstellung verfasst worden, sodass sie als Analyse des Standes der politischen Bildung und demokratischen Identifikation der Schülerinnen und Schüler geeignet ist, nicht aber als unmittelbares Programm für die Stärkung der politischen Bildung an den Schulen. Dann hätte der Auftrag an die Forscherinnen und Forscher anders lauten müssen, und sie hätten ihn nicht erfüllen können, wahrscheinlich nicht einmal erfüllen wollen; denn es ist nicht die Aufgabe von Wissenschaftlern, politische Programme zu formulieren.