Protokoll der Sitzung vom 10.04.2003

(Herr Scharf, CDU: Der Kanzler ist gegen die Ver- mögensteuer!)

- Ich habe jetzt nur meine persönliche Meinung gesagt. Manche in der SPD teilen sie auch.

(Frau Fischer, Merseburg, CDU, und Herr Tull- ner, CDU, lachen)

Es war mit Sicherheit ein Fehler, die deutsche Einheit zu einem großen Teil aus den Sozialkassen zu finanzieren. Das Defizit ist groß. Die jetzigen Einnahmen der Rentenkasse, der Krankenkasse und der Arbeitslosenkasse reichen für die künftigen Leistungen nicht mehr aus.

Von 1991 - darauf wurde bereits verschiedentlich hingewiesen - bis 1998 sind die Lohnnebenkosten von 35 % auf 42 % gestiegen. Deshalb ist der Umbau der Sozialsysteme richtig und muss in einem umfassenden Zusammenhang gesehen werden.

Natürlich wirken sich die Belastungen im Osten Deutschlands schwerer aus. Den 1,4 Millionen Arbeitslosen stehen 70 000 offene Stellen zur Verfügung. Das heißt für Sachsen-Anhalt, auf eine offene Stelle kommen 18 Arbeitsuchende. Hinzu kommen das geringere Einkommen und die überdurchschnittlich hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen unter den älteren Personen.

Selbstverständlich ist es richtig, arbeitsfähigen Personen mehr Anreize zu geben, damit sie schneller in Arbeit kommen. Aber hier fehlen einfach die Arbeitsplätze. Insbesondere ältere Arbeitslose haben prinzipiell keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt und schon gar nicht hier im Osten. Hier brauchen wir Sonderlösungen, die den Weg in die Rente durch sinnvolle Beschäftigung ebnen. Deshalb werden wir bei unseren Gesprächen und mit unseren Einflussmöglichkeiten darauf besonders hinweisen.

(Herr Scharf, CDU: Welche der Schröder'schen Maßnahmen meinen Sie jetzt gerade?)

- Darauf komme ich gleich. Zum Beispiel sehen wir sehr kritisch, Herr Scharf, dass bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe das Niveau der Sozialhilfe zum Maßstab genommen wird.

(Herr Scharf, CDU: Meine Auffassung!)

Auch die Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer halten wir für bedenklich. Übrigens hat das auch der Ministerpräsident in Bezug auf den Vorschlag von Frau Merkel als sehr bedenklich bezeichnet. Also stehen wir nicht ganz allein da. Wir halten die Begrenzung der Bezugsdauer für bedenklich, weil das oft die trifft, die ohnehin nicht mehr vermittelbar sind und die ohnehin mit geringeren Rentenansprüchen zu rechnen haben. Deshalb ist es nach wie vor sehr wichtig, dass es bis zum Jahr 2006 zumindest Übergangsregelungen gibt.

Wir wissen, dass die Reformen notwendig sind. Die Belastungen dürfen aber nicht nur von einem Teil der Menschen getragen werden. Wir begrüßen daher die Stellungnahme der Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktionen der neuen Länder. Diese haben in einem Schreiben an den Bundeskanzler auf diese Unstimmigkeiten hingewiesen und haben Lösungsvorschläge unterbreitet.

Dazu zählt auch die Weiterführung der ABM durch einen Sonderzuschuss der Bundesanstalt für Arbeit und mit denselben Förderkonditionen über das Jahresende hinaus. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Mitfinanzierung der Kommunen, die selbst kein Geld haben, zu nennen, die nicht in der vorgesehenen Größenordnung vorgesehen werden darf. Außerdem brauchen wir auch Sonderprogramme für die älteren und für die jungen Leute.

Die Pläne der CSU - jetzt auch der CDU, zumindest in einzelnen Vorschlägen - halten wir allerdings für völlig überzogen. Wir wissen nun, was nach einem CDUWahlsieg auf uns zugekommen wäre. Allein die Absenkung der Sozialhilfe halte ich wirklich für ein starkes Stück. Die Arbeitslosenhilfe wird ganz gestrichen, das Arbeitslosengeld gibt es grundsätzlich nur für zwölf Monate - so war der Vorschlag. Wenn die Sozialhilfe um 25 % gekürzt würde,

(Herr Gürth, CDU: Herr Bischoff, Sie glauben doch nicht, dass Sie sich so herausmogeln kön- nen aus dem Thema! So kann man sich nicht herausmogeln!)

dann, Herr Gürth, wäre das wirklich das absolute Aus und der absolute Absturz in die Armut. Die Betroffenen haben doch gar nichts anderes mehr.

(Zustimmung bei der SPD)

Da sich nun auch aus den Reihen der Christdemokraten Unmut meldet und da auch der Ministerpräsident schon ablehnend reagiert hat, möchte ich nicht weiter darauf eingehen.

(Herr Gürth, CDU: Wer hat das denn beschlos- sen?)

Da die Diskussion aber in vollem Gange ist - einzelne Dinge sind noch gar nicht unterlegt; wir kennen manche Vorschläge, die wieder zurückgenommen werden - und neue Vorschläge vonseiten der Bundesregierung im Raum stehen, halten wir allerdings eine Ausschussberatung über die einzelnen Punkte für sinnvoll und plädieren für eine Überweisung.

(Zustimmung bei der SPD)

Danke, Herr Abgeordneter Bischoff. - Frau Abgeordnete Liebrecht, Sie haben für die CDU-Fraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die zurückgehenden Geburtenraten, der Wandel der Arbeitswelt, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die erfreulich steigende Lebenserwartung sowie der wünschenswerte medizinische Fortschritt haben die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland in eine gefährliche Schieflage gebracht. Die Koordinaten dieses Systems sind durcheinander geraten, sodass die solidarische Absicherung der großen Lebensrisiken zukünftig nicht mehr gesichert erscheint.

Die Reform der sozialen Sicherungssysteme einschließlich der Sozialhilfe als dem untersten sozialen Netz ist daher unvermeidlich. Diese Reform muss sich an den Kriterien der Verlässlichkeit, der Transparenz und der Dauerhaftigkeit messen lassen. Anderenfalls wird sie die erforderliche Akzeptanz der Menschen in unserem Land nicht finden.

Für die CDU ist dabei klar, dass die Reform der sozialen Sicherungssysteme nicht über eine Ausweitung der Beitragsleistungen erfolgen kann. Dies hätte nur Steigerungen der Lohnkosten und damit eine noch höhere Arbeitslosigkeit zur Folge. Aus der Sicht der Union muss es daher gelingen, die sozialen Sicherungssysteme dergestalt zu reformieren, dass die Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und von Arbeitgebern dauerhaft auf unter 40 % gesenkt werden.

Zur Erarbeitung von Reformvorschlägen zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme hat die CDU auf der Bundesebene eine Kommission „Soziale Sicherheit“ eingesetzt, die bis zum Herbst dieses Jahres entsprechende Vorschläge erarbeiten soll. Im Rahmen der Reform muss - neben der Sozialversicherungspflicht - gleichzeitig mehr Raum für eigenverantwortliche private und für betriebliche Vorsorge geschaffen werden, was nur gelingen kann, wenn die Fähigkeit zur Eigenvorsorge nicht durch eine übermäßige Belastung der Einkommen durch Steuern und Sozialabgaben verhindert wird.

Die Reform muss sicherstellen, dass sozial Schwache nicht überfordert werden. Die sozialen Sicherungssysteme müssen für mehr Familiengerechtigkeit sorgen. Diese Aufgabe ist der Politik durch das Bundesverfassungsgericht zugewiesen worden. Die Reform muss sich an der Generationengerechtigkeit, an der gerechten Teilhabe am Arbeitsleben, an der Solidarität zwischen Schwachen und Starken und an der Sicherung von Wachstum und Wohlstand orientieren.

Der Vorsitzende der Kommission, der frühere Bundespräsident Roman Herzog, hat hierzu bereits deutlich gemacht, dass die soziale Verantwortung im Vordergrund der Kommissionsarbeit stehe. Es wird so wenig gekürzt, so wenig gestrichen und so wenig nach unten bewegt werden, wie überhaupt möglich ist. Jedoch muss es am Ende zu einem Konsens mit den Bürgern über notwendige Reformmaßnahmen kommen.

Die CDU-Fraktion geht davon aus, dass diese Kommission bei der Erarbeitung ihrer Vorschläge der besonderen Situation in den neuen Bundesländern angemessen Rechnung tragen wird. Wie wichtig der Landesregierung gerade dieser Aspekt ist, hat Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer bereits in seinen verschiedenen Stellungnahmen zu Reformvorschlägen im Bereich der Arbeitslosenversicherung deutlich gemacht. Dies zeigt, dass die Diskussion über die Reform des Sozialstaates bei der Landesregierung in guten Händen ist. Deshalb bedarf sie der Ratschläge, wie sie im Antrag der PDSFraktion enthalten sind, nicht.

Lassen Sie mich nun zu einzelnen Positionen des Antrages einige Anmerkungen machen. Meine Fraktion unterstützt die Bundesratsinitiative der Landesregierung mit der Zielsetzung, die Regelsätze der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt an das Niveau der Regelsätze der anderen neuen Bundesländer anzupassen, da in allen Ländern vergleichbare Lebensverhältnisse bestehen. Die vorhandenen Unterschiede bei den Regelsätzen sind historisch bedingt und konnten aufgrund der seit 1996 praktizierten bundeseinheitlichen Regelsatzfortschreibung nicht ausgeglichen werden.

Die Forderung, für Sozialhilfeempfänger die vollständige Befreiung von Kosten für Lernmittel zu sichern, ist geltendes Recht. Die vorgesehene Neuregelung der Leihgebühren ist nicht als Mehrbelastung zu sehen, wie bereits der Sozialminister ausgeführt hat.

Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf der Grundlage und unter den Bedingungen des Sozialhilfegesetzes muss nicht per se schlecht sein. Schon heute gibt es auch in den neuen Ländern eine Vielzahl von Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosenhilfe, die daneben ergänzende Sozialhilfeleistungen erhalten bzw. diese beanspruchen können. Viel entscheidender sind aus meiner Sicht die Rahmenbedingungen, unter denen diese Angleichung erfolgt. Primäres Ziel muss es sein, durch die anstehenden Reformen dafür Sorge zu tragen, dass viel mehr Menschen als bisher am Arbeitsleben teilhaben und unabhängig von Sozialversicherungsleistungen leben können.

Der Vorschlag der PDS-Fraktion, dass sich die Landesregierung für die Einführung einer armutsfesten sozialen Grundsicherung für Arbeitslosenhilfe- und erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger im Rahmen der Arbeitslosenversicherung einsetzen soll, könnte ein Weg sein, wie eine Reform im Bereich der Arbeitslosenversicherung aussehen könnte. Der Umstand, dass sich die Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ der Kommission zur Re

form der Gemeindefinanzen nicht auf ein gemeinsames Modell einigen konnte, zeigt, dass der Diskussionsprozess in diesem Bereich bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass, die Landesregierung bereits zu diesem Zeitpunkt auf ein wie auch immer gestaltetes Modell festzulegen.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Ich habe in meiner Rede bewusst davon Abstand genommen, auf die in weiten Teilen polemische Begründung des Antrages einzugehen. Hierzu wäre sicherlich einiges zu sagen gewesen. Aber im Hinblick auf die Bedeutung der Reform der sozialen Sicherungssysteme auch für den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft halte ich diese Form der Begründung der politischen Diskussion für nicht zuträglich und nicht angemessen. Deshalb habe ich mich auf die sachlichen Anmerkungen zu dem Antrag der PDS-Fraktion beschränkt.

Die CDU wird den vorliegenden Antrag ablehnen. - Ich bedanke mich.

(Zustimmung bei der CDU)

Danke, Frau Abgeordnete Liebrecht. - Jetzt hat noch einmal die Abgeordnete Frau Bull die Möglichkeit, für die einbringende Fraktion das Wort zu ergreifen.

Doch zuvor möchte ich Schülerinnen und Schüler der Pestalozzi-Schule Magdeburg recht herzlich begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich auf einige wenige Punkte eingehen. Ich möchte eines grundsätzlich klarstellen: Bitte tun Sie nicht so, als ginge es Ihnen mit der Bundesratsinitiative zu den Eckregelsätzen um gleiche Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern. Sagen Sie bitte klar und deutlich, es geht Ihnen darum, die Kommunen von Sozialhilfeausgaben in Höhe von 10,5 Millionen € zu entlasten. Dieses Maß an Ehrlichkeit sollten wir uns gegenseitig zugestehen. Damit kann ich dann auch ein Stück weit leben.

Es ist vieles gesagt worden. Es hieß, die Reformen gingen nicht einseitig zulasten der Einkommensschwächsten. Dazu muss ich aber sagen, 10 % von 3 900 € sind etwas anderes als 10 % von 800 € - so viel zum Thema Einseitigkeit.

Es wurde des Weiteren gesagt, Sozialhilfeempfänger dürften nicht überfordert werden. Meine Damen und Herren! Ab wann sind denn Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslosenhilfeempfänger überfordert? Machen Sie es doch einmal konkret! Diese Formel kann ich bis in den Keller hinunter transportieren. Das hat aber nichts mit Ehrlichkeit und Klarsicht zu tun.

Wir sind nach Gegenvorstellungen gefragt worden. Ich war erstaunt über die Vorschläge des Herrn Lauterbach in der Rürup-Kommission. Sie hätten in ihm einen wunderbaren Vorturner gehabt. Ich bleibe einmal beim Beispiel der Krankenversicherung. Er sagte, für das Risiko Krankheit sind alle in dieser Gesellschaft zuständig; deshalb wäre die Abschaffung der privaten Krankenversicherung und die Einführung einer Bürgerversicherung sinnvoll.

Das steht auch im Wahlprogramm der Grünen. Ich kenne auch genügend Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die das mittragen würden. Dieser Vorschlag wurde von einem Gesundheitsökonomen geäußert, nicht von irgendeinem PDS-Mitglied, einem linken Sozialdemokraten oder welche Horrorvorstellungen diesbezüglich in der gesellschaftlichen Debatte sonst herumgeistern.

(Herr Reck, SPD: He, he! - Heiterkeit bei der SPD)

Eine dritte Bemerkung. Wenn ich den Herrn Minister richtig verstanden habe, hat er gesagt, dass der Senat in Berlin dieser Bundesratsinitiative zugestimmt hätte. Dazu will ich Folgendes anmerken: Es ist richtig; es gab den Versuch des Finanzsenators, die Sozialsenatorin auszutricksen.

(Herr Gürth, CDU: Ungeheuerlich! - Herr Scharf, CDU: So etwas gibt es!)

- Ja. Aber es ist falsch zu behaupten, dass ihm das gelungen sei. Der Senat hat am letzten Freitag entschieden, dass er dieser Bundesratsinitiative nicht zustimmen wird.

(Zustimmung bei der PDS)

Ich könnte mich gut mit dem Vorschlag meines Kollegen Bischoff anfreunden und sagen, lassen Sie uns über die vorliegenden Vorschläge und über die möglichen Alternativen, die in einigen Redebeiträgen angeklungen sind, im Ausschuss diskutieren. Das stünde einem landespolitischen Ausschuss für Gesundheit und Soziales gut zu Gesicht. In diesem Sinne bitte ich um die Überweisung unseres Antrages in den Ausschuss.