Protokoll der Sitzung vom 01.04.2004

Dann muss entschieden werden, meine Damen und Herren, mit welchen Instrumenten diese Probleme gelöst werden. Es widerspräche Artikel 87 unserer Verfassung, alle Wünsche der großen Städte nur mit Zwangseingemeindungen zu erfüllen.

(Zustimmung bei der CDU)

Aber wenn eine kleine Gemeinde selbst keinerlei Einrichtungen der Daseinsvorsorge vorhält und nur von den Leistungen der anderen lebt, nimmt sie das Recht der Selbstverwaltung nur noch sehr eingeschränkt wahr. Dann wird der Gesetzgeber über die Anwendung des Artikels 90 der Landesverfassung entscheiden müssen. Dies werden wir vorbereiten.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP und von der Regierungsbank)

Für alle weiteren Vorarbeiten für eine Gebietsreform ist es notwendig, das Ziel zu beschreiben. Darüber höre und lese ich in der letzten Zeit vieles. Deshalb, so denke ich, bin ich es Ihnen schuldig, Ihnen unsere Vorstellungen einmal vorzutragen.

(Herr Dr. Püchel, SPD, in Richtung der Fraktion der FDP weisend: Da sie von dort schon da sind!)

Da wir Strukturen für die Zukunft schaffen wollen, sollen allen Berechnungen, die auf Einwohnerzahlen basieren, die Prognosewerte für das Jahr 2015 zugrunde gelegt werden. Für spätere Zeiträume extrapolierte Werte zu nutzen, halte ich deshalb nicht für sachgerecht, weil sie statistisch und prognostisch noch unsicher sind und weil ich - auch das möchte ich gern sagen dürfen - an unsere gemeinsame Kraft glaube, in den dazwischen liegenden Jahren in diesem Land noch einiges grundlegend zu ändern.

(Beifall bei der CDU)

Unter Zugrundelegung dieser Prognosewerte halten wir nach dem Abwägen verwaltungs- und kommunalpolitischer Parameter für unser Land eine Kreisgröße von mehr als 150 000 Einwohnern für optimal. Abweichungen nach unten sollen nur zugelassen werden, wenn in größeren Regionen die Bevölkerungsdichte 50 Einwohner pro Quadratkilometer unterschreitet, weil sonst für ein kommunales Zusammenleben unzumutbar große Verwaltungseinheiten entstehen würden.

Soweit dies möglich ist, ist der Fusion von Kreisen gegenüber der Aufteilung von Kreisen der Vorzug zu geben. Es ist aber vorhersehbar, dass dies nicht überall aufgehen kann. Einzelne Kreise, die jetzt schon zentrifugale Bestrebungen haben, werden wahrscheinlich nicht komplett fusionieren wollen oder können.

Das Innenministerium und das Ministerium für Bau und Verkehr sind beauftragt worden, in Abstimmung mit den anderen Fachministerien raumordnerische Leitlinien für die Genehmigung freiwilliger Zusammenschlüsse zu erarbeiten. Es muss klar sein, dass vorhandene Investitionen genutzt werden müssen und durch eine Gebietsreform keine neuen Investitionsansprüche, beispielsweise in Bezug auf Verwaltungs- oder Krankenhausbauten, begründet werden dürfen.

Den zentralen Sitz und die Organisation ihrer Kreisverwaltungen sollen die Kreistage möglichst selbst bestimmen.

(Zustimmung von Herrn Dr. Püchel, SPD)

Im Zeitalter moderner Kommunikationstechnologien können wir uns im 21. Jahrhundert durchaus von einigen zentralistischen Vorstellungen des vergangenen Jahrhunderts lösen und den kommunalen Einheiten mehr eigene Entwicklungsdynamik zugestehen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP und von der Regierungsbank)

Damit ist auch deutlich, dass Zahlenvorgaben nur Eckwerte sind

(Zustimmung bei der CDU - Herr Dr. Püchel, SPD: Richtig! Kein Problem!)

und eine kommunale Gebietsreform keine Operation für den Taschenrechner ist.

(Zustimmung bei der CDU)

Die bereits in einigen Ländern aufgebauten, auf dem Internet basierenden interaktiven Landesportale und davon abgeleitete Verwaltungsmodelle, zum Beispiel das Mobile Rathaus, ermöglichen dezentrale Verwaltungsstrukturen. Die hierarchische Gliederung kommunaler Einheiten nach raumordnerischen Prioritäten kann, so denke ich, zugunsten einer dynamischen Eigenentwicklung aktiver Kommunen zunehmend gelockert werden.

Im Interesse einer möglichst homogenen Verwaltungsgliederung auf der Ebene der Landkreise soll das Verhältnis der Einwohnerzahl zur Fläche zwischen dem kleinsten und dem größten Landkreis unseres Landes möglichst den Wert von 1 : 2 nicht wesentlich überschreiten.

Kreisfreie Städte sollten nicht weniger oder - ich sage das bewusst; jeder weiß, woran wir alle gemeinsam denken - nicht wesentlich weniger als 100 000 Einwohner haben, da eine solche Stadt alle Aufgaben eines Kreises vorhalten muss. Die Einstufung in der ohnehin fragwürdigen raumordnerischen Hierarchie hängt nicht davon ab, ob eine Stadt kreisfrei oder kreisangehörig ist.

Endgültige Entscheidungen über Gebietsveränderungen werden durch Analysen der Verflechtungsbeziehungen, der historischen Entwicklung und der raumordnerisch bedeutsamen Investitionen vorbereitet. Alle diese notwendigen Vorarbeiten für die Gebietsreform sollen noch in dieser Legislaturperiode geleistet werden.

Für die Effizienz kommunaler und allgemeiner Verwaltungen ist die Vereinfachung des Landesrechts, wo immer diese möglich ist, wichtiger als eine Gebietsreform. Eine Arbeitsgruppe „Normprüfung“ ist gegenwärtig damit beschäftigt, mithilfe der Verbände und des Landesrechnungshofes Strukturdefizite des Landesrechts zu identifizieren und Vorschläge zur Vereinfachung zu unterbreiten. Bereits 87 Verwaltungsvorschriften konnten aufgehoben werden. Da möglicherweise kaum jemand etwas davon bemerkt hat, kann man sie wirklich als entbehrlich betrachten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

Die Einführung des EDV-Grundbuches ist quasi abgeschlossen. Mit dem Verknüpfen von Grundbuch- und Kassenverfahren werden die Geschäftsabläufe in diesem Bereich weiter beschleunigt. Eine kundenfreundliche Verwaltung mit einer schnellen Auftragserledigung wird zunehmend auch für Investoren ein Standortvorteil.

Gegenüber neuen, mit uns konkurrierenden Wirtschaftsräumen müssen wir auch die Rechtssicherheit zu einem Standortvorteil machen. Das bereits im Jahr 2002 von Sachsen-Anhalt in den Bundesrat eingebrachte Forderungssicherungsgesetz hat zwar dort eine Mehrheit gefunden, ist aber noch nicht Gesetz geworden.

Nach weiteren Veränderungen - das Gesetz ist noch immer in den Ausschüssen - soll es im Mai wieder auf die Tagesordnung des Bundesrates kommen. Ich hoffe, dass es dann auch eine Mehrheit im Bundestag finden wird.

Meine Damen und Herren! Die Einwohnerzahl der neuen Bundesländer sinkt - mit einer gewissen Ausnahme im Berliner Umfeld. Dieser Rückgang ist in Sachsen-Anhalt besonders dramatisch und ergibt sich aus einem negativen Wanderungssaldo und einem erheblichen Geburtendefizit. Beiden Tendenzen kann nur durch die Schaffung von Arbeitsplätzen - insbesondere für junge Menschen - gegengesteuert werden. Die Schaffung von Studienplätzen nützt dabei wenig, solange die Absolventen bei uns keine Arbeitsplätze finden.

Dieser Schrumpfungsprozess geht mit einer erheblichen Alterung der Bevölkerung einher. So wird der Altersdurchschnitt, der heute etwa bei 43 Jahren liegt, auf ca. 49 Jahre nach dem Jahr 2015 ansteigen.

Die Landesregierung ist zurzeit dabei, ein Handlungskonzept für eine nachhaltige Bevölkerungspolitik in Sachsen-Anhalt zu erarbeiten. Die Maßnahmen zur Anpassung an die demografische Entwicklung betreffen fast alle Gestaltungsbereiche und haben das Ziel, so weit als möglich gegenzusteuern.

Im Rahmen eines speziellen Forschungsauftrags sollen die Zukunftschancen junger Frauen und Familien in Sachsen-Anhalt untersucht und Vorschläge zur Verminderung der Migrationverluste insbesondere dieser Bevölkerungsgruppe erarbeit werden.

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge fordert in einem Thesenpapier zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Betriebskindertagesstätten bzw. betriebsnahe Kindertagesstätten unter Beteiligung von Betrieben oder im betrieblichen Verbund einzurichten.

(Zuruf von Herrn Gallert, PDS)

Dabei sollen wenigstens betriebliche Tagesbetreuungsangebote zur Überbrückung von nicht abgedeckten Randzeiten an Werktagen vorgehalten werden.

Ich denke, die guten Erfahrungen, die wir damit noch aus DDR-Zeiten in Erinnerung haben, sollten uns helfen, wieder nach solchen Lösungen zu suchen und auch tatsächlich welche zu finden. Unser Kinderförderungsgesetz sieht diese Möglichkeiten bereits vor, aber bisher sind sie überhaupt noch nicht genutzt worden.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie fordert in seinem Gesamtreformkonzept familienfreundliche Rahmenbedingungen in den Strukturen der Wirtschaft. Er meint damit flexible Arbeitszeitmodelle, betriebliche Kinderbetreuungseinrichtungen und bedarfsgerechte Teilzeitregelungen.

Nach den sehr guten Erfahrungen, die wir in SachsenAnhalt in der Umwelt-Allianz mit der konfliktfreien Zusammenführung von umweltpolitischen Forderungen und wirtschaftspolitischen Notwendigkeit gemacht haben, sind wir jetzt mit Vertretern der Wirtschaft über eine so genannte Familien-Allianz im Gespräch. Ich bin mir sehr sicher, dass wir das erhebliche Geburtendefizit damit kaum reduzieren, wenn wir nicht mit jeder nur denkbaren Möglichkeit den jungen Frauen helfen, eigene Berufstätigkeit und berufliche Entwicklung mit der Familienbildung in Einklang zu bringen.

26 % der im Jahr 1960 geborenen Frauen sind kinderlos geblieben. Unter den Akademikerinnen dieses Jahrgangs liegt der Anteil sogar bei 42 %. Finanzielle Probleme sind dafür sicherlich nicht die Ursache. Bei der finanziellen, transferorientierten Familienpolitik leistet Deutschland mehr als europäische Vergleichsländer mit höheren Geburtenraten. Auch die direkten finanziellen Zuwendungen sind nur in wenigen Ländern noch höher als in Deutschland.

Im internationalen Vergleich sind es die familienentlastenden Dienste, die in Deutschland fehlen. Die Familienpolitik in Frankreich beweist, dass dadurch die Geburtenrate angehoben werden kann. Aber auch das stimmt nur bedingt. Im innerdeutschen Vergleich der Zahl der Krippenplätze pro tausend Kinder im Alter bis zu drei Jahren ist Sachsen-Anhalt einsamer Spitzenreiter.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)

Trotzdem ist die Geburtenrate in Ländern höher, deren Platz-Kind-Relation nicht einmal ein Zehntel der unsrigen beträgt. Es sind die Arbeitsplatzstabilität, das wirtschaftliche Umfeld und die persönliche Lebensperspektive und Lebenssicherheit, was den Entschluss zur Familienbildung unterdrückt oder befördert. Daraus ergibt sich zwingend, dass wir Arbeitsplätze und persönliche Lebensperspektiven schaffen müssen und dass wir unser Geburtendefizit nicht mit noch mehr außerfamiliären Betreuungsangeboten beheben können.

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Wir wissen auch, dass bei uns etwa jede dritte Ehe geschieden wird. Bei jeder zweiten Scheidung sind Kinder unter 18 Jahren betroffen. Jedes dritte Kind wächst nicht mehr in einer klassischen Familie auf. Alleinerziehende Frauen liegen mit ihrem Einkommen um ca. 32 % unter dem nationalen Durchschnitt. 24 % aller Sozialhilfeempfänger sind Alleinerziehende. Die Quote der Kinder unter sieben Jahren, die von der Sozialhilfe leben, liegt in Deutschland bei etwa 7,5 %.

Diese Probleme sind durch landespolitische Kompetenzen nicht grundlegend zu ändern. Trotzdem werden wir unsere familienpolitischen Aktivitäten neu ordnen und

erweitern. Sie sollen in einem Familienleistungsgesetz des Landes zusammengefasst werden, das als Landesausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch VIII konzipiert wird. Bestehende Leistungen sollen zu einem „Netzwerk Familie“ verzahnt und um einige neue erweitert werden. Ähnlich wie in Sachsen und Thüringen wollen wir einen Familienpass des Landes Sachsen-Anhalt einführen, der zu bestimmten Vergünstigungen berechtigt.

(Beifall bei der CDU)

Wie in anderen Ländern auch sollen ein Landesbündnis für Familien gegründet und ein Landesfamilientag organisiert werden.

Die haupt- und nebenamtlichen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sollen bei ihren familienpolitisch bedeutsamen Tätigkeiten mehr unterstützt werden und in ihrem Tätigkeitsbereich alle familienfreundlichen Serviceleistungen koordinieren.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)

Kindertagesstätten sollten sich zu familienzentrierten Nachbarschaftszentren weiterentwickeln. In Zusammenarbeit mit den sozialpädagogischen Mitarbeitern der Grundschulen wollen wir die Bildungsangebote in den Kindergärten mit dem Programm „Lust auf Schule“ erweitern.