Protokoll der Sitzung vom 01.04.2004

Das ist eine Politik, die Abwanderung nicht verhindert, sondern Abwanderung sogar noch fördert.

Die Bevölkerungsentwicklung ist, das wissen wir schon heute, bis zum Jahr 2020 auf jeden Fall rückläufig. Die niedrigen Geburtenzahlen lassen sich nicht kurzfristig ausgleichen. Aber dass die Prognosen eines Rückganges eintreffen, kann und darf nicht Gesetz sein. Wir dürfen die Abwanderung auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht einfach hinnehmen.

Meine Damen und Herren! Ich hätte mir gewünscht, dass der Ministerpräsident vor diesem Hintergrund klare - ich betone: klare - Prioritäten gesetzt hätte. Weil er das schuldig geblieben ist, will ich aus der Sicht der SPDFraktion einige wichtige Schwerpunkte politischer Ansätze skizzieren.

Erstens. Wir müssen mehr in die Köpfe investieren, weniger in Beton.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb muss die Kinderbetreuung im Land wieder auf eine verlässliche, dauerhafte Grundlage gestellt und inhaltlich verbessert werden. Wir wissen heute, dass das geltende Gesetz nicht das letzte Wort sein kann. Deshalb appelliere ich an die Landesregierung: Suchen und finden Sie mit den Initiatoren des Volksbegehrens einen Kompromiss, der langfristig trägt, der Ruhe in unsere Betreuungseinrichtungen bringt. Wir wissen, dass dies Geld kosten wird. Aber dies müssen und werden wir finden.

(Beifall bei der SPD)

Schauen wir auf die Schulen. Mit dem SPD-Gesetzentwurf liegt bereits seit Oktober des letzten Jahres eine beratungsfähige Grundlage auf dem Tisch, um unter schwierigen Rahmenbedingungen die notwendigen inhaltlichen Reformen in der Schule zu bewältigen. Auch hierbei drängt die Zeit. Unsere Schulen müssen besser werden, damit sich unsere Schüler eine bessere Bildung aneignen können. Wir brauchen mehr Ganztagsschulen. Wir brauchen mehr Eigenständigkeit für die Schulen. Wir brauchen ein besseres Lernklima.

Meine Damen und Herren! Sachsen-Anhalt hat bisher in vorbildlicher Weise die Entwicklung der Hochschulen vorangebracht. Wir haben ständig steigende Studierendenzahlen. Das ist auch ein Ergebnis der demografischen Entwicklung. Es waren aber vor allem die Hochschulen selbst, die in den vergangenen Jahren attraktive Studiengänge entwickelt haben und für ausländische Studierende sowie für junge Leute aus anderen Bundesländern attraktiv geworden sind. Die Hochschulen sind Kooperationen mit der Wirtschaft eingegangen und treiben so auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes maßgeblich voran.

Doch dann kam der Ministerpräsident und verfügte, dass die Hochschulen genau 30 Millionen € im Jahr zu teuer sind. Warum eigentlich 30 Millionen €? Auch heute hat der Ministerpräsident dies nicht schlüssig dargelegt. Fest steht: Das Finanzdiktat ist schädlich. Das hat Halles Rektor Grecksch heute noch einmal bestätigt.

(Zustimmung bei der SPD)

Warum ist man nicht den anderen Weg gegangen und hat das Budget bis 2006 festgeschrieben, um es dann anhand klarer Leistungsparameter fortzuschreiben? Warum werden den Hochschulen Daumenschrauben angelegt, wenn doch immer so viel von Autonomie die Rede ist?

(Zustimmung bei der SPD)

Warum werden gewachsene Kooperationsstrukturen mit der Wirtschaft durch die sinnlose Verlagerung oder Abschaffung von Studiengängen zerschlagen? Wo ist eigentlich in dieser Debatte der Wirtschaftsminister, der immer so gern von Cluster-Bildung spricht?

(Beifall bei der SPD)

Die Eingriffe in die Hochschulen gehören zu den größten politischen Fehlern, die diese Landesregierung bisher gemacht hat. Sie ignoriert, dass gute Hochschulpolitik geeignet ist, junge Menschen ins Land zu holen und Innovation und Wirtschaft voranzubringen. Sie verhindert nachfolgende Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

(Zustimmung bei der SPD)

Deshalb richte ich den dringenden Appell an den Kultusminister, den Wirtschaftsminister und vor allen Dingen an den Ministerpräsidenten: Überdenken Sie im Interesse des Landes das Hochschulgesetz und die Hochschulstrukturplanung noch einmal! Sparen Sie die Hochschulen nicht kaputt! Die jungen Menschen werden es Ihnen auf alle Fälle danken.

(Zustimmung bei der SPD - Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Das ist zum größten Teil Ihre Pla- nung!)

Das nächste Thema zum Stichwort „Investitionen in die Köpfe“: Ein Ergebnis der negativen demografischen Entwicklung ist, dass wir ab 2006 eine Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt bekommen werden. Es gibt viel weniger Schulabgänger, deswegen werden viel weniger Lehrlinge ausgebildet.

Die unmittelbare Folge davon wird aber sein, dass wir einen Fachkräftemangel bekommen werden, der natürlich auch durch die seit Jahren bestehende Abwanderung forciert wurde und immer noch forciert wird. Zusätzlich gehen ab diesem Zeitpunkt ältere Arbeitnehmer verstärkt in den Ruhestand. Ab 2012 werden wesentlich mehr Menschen aus dem Berufsleben ausscheiden, als neue Berufsanfänger hinzukommen.

Wir werden nach dem heutigen Wissensstand spätestens Mitte des nächsten Jahrzehnts viel weniger Arbeitslose haben, aber leider auch viel weniger Fachkräfte. Damit ergibt sich praktisch von selbst folgender Auftrag an Wirtschaft und Politik: Das etwa zehn Jahre umfassende Zeitfenster von 2004 bis 2014 muss genutzt werden, um Fachkräfte auszubilden, um Fachkräfte zu halten bzw. heranzuholen.

Meine Damen und Herren! Was ist zu tun? - Erstens muss in nächsten beiden Jahren wieder verstärkt betrieblich ausgebildet werden.

(Beifall bei der SPD)

Sachsen-Anhalt hatte in Bezug auf betriebliche Ausbildungsstellen im vergangenen Ausbildungsjahr die niedrigste Zahl seit der Wende zu verzeichnen. An dieser Stelle hilft auch der Hinweis auf die Ausbildungsquote

von 98 % nicht, Herr Ministerpräsident. Der Anteil der betrieblichen Ausbildungsplätze muss wieder größer werden.

(Frau Feußner, CDU: Aber nicht mit der Ausbil- dungsabgabe! Damit erreichen Sie genau das Gegenteil! Das ist nämlich das Problem!)

Auch in den folgenden Jahren darf die Ausbildungsbereitschaft in Sachsen-Anhalt nicht nachlassen. Dann nämlich werden die Weichen für die Zeit ab 2010 gestellt.

Zweitens müssen wir das Problem der zweiten Schwelle besser in den Griff bekommen. Wer bei uns ausgebildet wird, sollte danach auch hier im Land arbeiten können.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Frau Wy- brands, CDU)

Frau Dr. Kuppe hat in ihrer Zeit als Arbeitsministerin ein beispielhaftes Projekt angeschoben, das im Bereich der Chemieindustrie erstens Ausbildung über Bedarf und zweitens anschließende Beschäftigung im Betrieb subventioniert. Dieses Prinzip gilt inzwischen für alle Branchen und es könnte noch mehr bringen. Vielleicht muss dieses Instrument besser als bisher bekannt gemacht werden, damit es auch genutzt wird.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen uns von einer aktiven, vornehmlich auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik nicht verabschieden, meine Damen und Herren. Jetzt kommt garantiert die sicherlich berechtigte Frage, woher denn das Geld dafür genommen werden soll.

Wir wissen aus dem Papier von Herrn Bullerjahn, dass die Einnahmen des Landes unter normalen Bedingungen auf zwei Drittel des heutigen Niveaus zurückgehen werden. Dies ist wahrscheinlich die härteste Aussage in dem Papier von Jens Bullerjahn. Dies stellt alles auf den Prüfstand, was wir uns bisher geleistet haben.

Zwei Fragen werden also umso drängender. Erstens. Was müssen wir uns auch in Zukunft auf jeden Fall leisten? Zweitens. Was können wir uns in Zukunft nicht mehr leisten?

(Herr Scharf, CDU: Das Zweite haben Sie aber bisher nicht beantwortet!)

Die Antwort der SPD habe ich bereits skizziert: Vorbildliche Kinderbetreuung, gute Schulen, gute Hochschulen mit einem breiten Angebot und eine aktive Beschäftigungspolitik müssen wir uns auch in Zukunft auf jeden Fall leisten.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Frau Wybrands, CDU)

Auf diesen Investitionen in Menschen, in Köpfe basiert ein Gutteil der Zukunft Sachsen-Anhalts. Wir dürfen nicht zulassen, dass das mit dem Hinweis auf die allgemeine Finanznot in Frage gestellt wird.

(Zustimmung bei der SPD)

Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine Voraussetzung dafür, dass wieder mehr Kinder geboren werden. Herr Ministerpräsident, in diesem Punkt stimmen wir völlig überein. Eine verbesserte Geburtenrate ist der eigentliche Schlüssel zur Überwindung der demografischen Misere in Deutschland. In dieser Beziehung bin ich, wie gesagt, auf die konkrete Ausgestaltung Ihres

familienpolitischen Konzepts gespannt. - Das müssen Sie, Herr Scharf, noch einmal mit Herrn Kley abklären.

(Herr Scharf, CDU, lacht)

- Ich hätte es gern ausführlicher gemacht. - Richtig ist auch, dass der Schlüssel zur Entwicklung des Landes in einer prosperierenden Wirtschaft liegt. Wir brauchen eine aktive Wirtschaftspolitik. Das Beispiel Ammendorf zeigt, wie nötig wachsame, aktive und kreative Wirtschaftspolitiker in diesem Land sind.

(Beifall bei der SPD)

Es ist ausgesprochen ärgerlich, dass sich die Landesregierung bei diesem Thema derart zurückhält. Damit hat sie zwei Jahre wertvoller Zeit vertan.

(Beifall bei der SPD - Herr Scharf, CDU: Das ist eine Frechheit! - Oh! bei der FDP)

- Ich erinnere an die Ansätze von Herrn Ludewig vor zwei Jahren. Hätten Sie es fortgeführt! Damals haben Sie den designierten Wirtschaftsminister ins Feuer geschickt; der kam mit angeblich guten Ideen. Wenn sie gut waren, hätten Sie sie aufgreifen können, dann wären wir nicht da gelandet, wo wir heute sind.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

Nachdem Sie bei einem so genannten Krisengipfel klein beigegeben hatten, waren es die Arbeitnehmer, die sich am Dienstag wenigstens noch eine kleine Chance erkämpft haben.

(Zustimmung von Frau Budde, SPD, und von Frau Fischer, Naumburg, SPD)