Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur heutigen konstituierenden Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode, zu der Sie gemäß Artikel 45 Abs. 1 Satz 2 der Landesverfassung vom Landtagspräsidenten der vierten Wahlperiode eingeladen wurden, heiße ich Sie alle sehr herzlich willkommen.
Auch Parlamente leben von Ritualen. Ein wesentlicher Ritus ist, dass der älteste Abgeordnete die konstituierende Sitzung eröffnet und den ersten Teil der Sitzung des neu gewählten Landtages bis zur Wahl des Präsidenten leitet. Man hat mir gesagt, aus den Unterlagen gehe hervor, dass ich das an Lebensjahren älteste Mitglied des am 26. März 2006 neu gewählten Landtages von Sachsen-Anhalt sei.
Ich bin Rüdiger Fikentscher, wohne in der schönen Stadt Halle an der Saale und wurde über den Landeswahlvorschlag der SPD gewählter Abgeordneter des Landtages. Geboren bin ich am 30. Januar 1941 in Probsthain. Ich frage vorsichtshalber: Befindet sich unter den gewählten Abgeordneten jemand, der oder die älter ist als ich?
Ich sehe, das ist nicht der Fall. Das hätte mich auch sehr verwundert. - Dann darf ich von diesem Amt und dieser Ehre Gebrauch machen.
Meine Damen und Herren! Ich eröffne hiermit offiziell die erste Sitzung des neu gewählten Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode und begrüße alle Mitglieder des Landtages sowie die große Zahl von Gästen, die unserer Sitzung heute beiwohnen wollen. Unter unseren Gästen sind viele verdiente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Ich heiße sie alle herzlich willkommen, besonders den Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode Herrn Professor Dr. Adolf Spotka,
Ich begrüße ebenso herzlich die Vertreter der hohen Geistlichkeit und bedanke mich bei ihnen für den heutigen Fürbittgottesdienst.
Auf den Tribünen haben des Weiteren Ehrengäste der Fraktionen Platz genommen, die ich ebenfalls im Namen des Hohen Hauses ganz herzlich begrüße. Ebenso begrüße ich alle Bürgerinnen und Bürger, die den Verlauf der heutigen Sitzung verfolgen, sowie die zahlreich erschienenen Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen. Im Übrigen ist angezeigt worden, dass der Fernsehsender des Mitteldeutschen Rundfunks zeitweise live aus dem Landtag übertragen wird.
Meine Damen und Herren! Der Alterspräsident wird nicht gewählt. Folglich geht von ihm keine Macht aus. Sein Amt ist jedoch mit einem gewohnheitsmäßigen Vorrecht
ausgestattet: Er darf eine kurze Rede halten. Das werde ich jetzt tun, und zwar in Form von sieben Anmerkungen zur Demokratie in unserem Lande.
Erstens. Demokratie heißt Wettbewerb um Zustimmung. Ein Höhepunkt dieses Wettbewerbs liegt gerade hinter uns und sein Ergebnis sehe ich vor mir. Doch der Wettbewerb findet unentwegt statt - man kann sagen, stündlich und täglich überall dort, wo sich politisch engagierte Menschen begegnen. Exakt gemessen und in Zahlen ausgedrückt wird die Zustimmung zwar fortlaufend durch Umfragen, aber nur das Ergebnis der Wahl berechtigt zu politischer Herrschaft. Und da wiederum achtet man im Allgemeinen weniger auf die absolute Zahl der Stimmen, sondern mehr auf die Prozente. Jede Partei will mehr davon, als sie am Ende erhält. Zählte man die gewünschten Prozente zusammen, kämen wir mit hundert niemals aus.
Die Freude über das Wahlergebnis ist - vorsichtig ausgedrückt - sehr abgestuft. Doch eine gemeinsame Freude eint uns gewiss alle: Keiner rechtsextremen Partei ist es gelungen, in den Landtag einzuziehen.
Das soll so bleiben. Darin besteht eine unserer gemeinsamen ständigen Aufgaben, ebenso wie in der Zurückdrängung der Fremdenfeindlichkeit in unserem Lande.
Zweitens. Demokratie braucht Parteien. Sie verkörpern die politischen Grundrichtungen in unserer Gesellschaft, entstanden und entstehen aus ihr heraus und werden von ihr getragen. Einer Partei anzugehören und sich für ihre Ziele einzusetzen ist folglich nichts Anrüchiges, wie man gelegentlichen Äußerungen entnehmen könnte, sondern eine Bedingung für unsere Demokratie. Auch sind Abgeordnete, die aus diesen Parteien stammen, keine abgehobene und isolierte Gruppe, sondern über ihre Parteien besonders eng mit anderen Menschen verbunden. Ich behaupte, dass sich wegen dieser Verwurzelung keine Personengruppe so vielfältig und tief im Land und bei den Leuten auskennt wie die Abgeordneten.
Dennoch entsteht immer wieder der Eindruck, dass der Kontakt mit den Menschen abgerissen sei. Was also ist zu tun? - Ich kann nur raten, unverdrossen immer weiter und immer wieder neu auf möglichst viele Menschen zuzugehen, mit ihnen zu sprechen, ihre Sorgen und Ansichten aufzunehmen, ohne sie allerdings ungeprüft zu übernehmen, sich für sie einzusetzen und zugleich die Aufgaben, die Möglichkeiten und Grenzen der Politik zu erklären. So entsteht Vertrauen in einer lebendigen Parteiendemokratie.
Drittens. Demokratie lebt von Beteiligung. Die Wahlbeteiligung war am 26. März dieses Jahres erschreckend gering. Mir scheint, dass alle dafür angeführten Ursachen zutreffen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung und nicht alle zugleich. Wählerbeschimpfung steht uns, die wir uns ihrem Votum unterworfen haben, nicht zu. Enttäuscht sein muss reichen, schimpfen können andere.
Doch keineswegs sollten wir die Nichtwähler einfach abschreiben. Gewiss kann niemand den Nichtwählern untersagen, ihre Kritik an Politikern auch durch Wahlenthaltung auszudrücken, und man kann sie schon gar nicht daran hindern, sich zu fast allen Dingen eine Meinung zu bilden und diese zu äußern. Das alles gehört zu den demokratischen Freiheiten; schließlich haben wir eine Meinungsfreiheit ohne eine Pflicht zur Kompetenz. Doch sollten wir denen, die sich dem Gang zur Wahl
Einen Weg zu mehr Beteiligung an der Demokratie, insbesondere am Wahlsonntag, sehe ich in der Verbesserung der politischen Bildung, speziell in der Einsicht in das Wesen der Demokratie, deren entscheidende Grundlage das Wahlrecht ist. Es wäre viel gewonnen, wenn jedem Wahlberechtigten klar wäre, dass er am Wahltag genauso bedeutend ist wie beispielsweise die Bundeskanzlerin, ein Ministerpräsident, der Chef der Deutschen Bank, ein Mitglied des VW-Aufsichtsrats und alle anderen Mächtigen in unserem Land. Auch sie haben je nur eine Stimme. Diesen Tag der tatsächlichen Gleichheit sollte jeder nutzen.
Viertens. Demokratie heißt auch, Lasten und Leistungen gerecht zu verteilen und zu sichern. Wer nur auf die Beteiligung schaut, übersieht leicht das, was die Demokratie für den einzelnen Menschen in der Gesellschaft leistet. Politikwissenschaftliche Studien und Meinungsforscher bestätigen immer wieder, dass die Zufriedenheit mit der demokratischen Ordnung seitens der Bevölkerung vorrangig davon bestimmt wird, was diese Ordnung für ihre Bürgerinnen und Bürger leistet, und auch davon, ob die Verteilung knapper Güter gerecht erscheint. Dieses Demokratieverständnis entspricht im Übrigen dem des Grundgesetzes, wonach die Idee der Demokratie in einem engen Zusammenhang sowohl mit dem Rechtsstaatsgedanken als auch dem Sozialstaatsprinzip steht.
Weil nun aber die Summe der Wünsche stets größer ist als die zur Verfügung stehenden Gelder und Leistungen, heißt das für uns im Landtag wie auch anderswo, mit besonderem Augenmerk auch unter dem Gesichtspunkt der Demokratieakzeptanz über die Verteilung zu entscheiden.
Fünftens. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Diese Herrschaft wurde uns nach genauen Regeln und Verfahren für eine volle Legislaturperiode vom Volk übertragen. Der Anteil des Volkes, der nicht zur Wahl gegangen ist, hat dem anderen Teil des Volkes, der gewählt hat, die Entscheidung über die Zusammensetzung des Landtages freiwillig überlassen. Unsere Legitimation ist dadurch nicht eingeschränkt und sie enthält die Aufforderung, diese Herrschaft auch tatsächlich verantwortlich auszuüben.
Ich verweise deswegen nicht nur auf die zeitliche Begrenzung unseres Mandats - wer diese stets vor Augen hat, wird sich weniger mit seinem Amt verwechseln und sich von diesem später leicht verabschieden -, sondern ich betone bewusst das Wort „Herrschaft“. Wir sind gewählt, um diese auszuüben. Das bedeutet, nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner und den Weg des geringsten Widerstandes zu suchen.
Schon im alten persischen Königsbuch steht der Satz: Herrschaft übe nicht mit zagem Sinn. Wer uns die Herrschaft übertragen hat, kann erwarten, dass sie durch uns auch tatsächlich kraftvoll und zielgerichtet zum Wohle des ganzen Landes ausgeübt wird. Um die Frage, worin dieses Wohl am ehesten zu suchen ist, geht der politische Streit im Landtag.
Sechstens. Das Herzstück der Demokratie ist das Parlament. Wir sind aufgefordert, diese Tatsache zur allgemeinen Erkenntnis reifen zu lassen. Landtagssitzungen müssen wenigstens an dem Tag, an dem sie stattfinden, die wichtigsten Veranstaltungen im Lande sein. Freilich haben wir sie auch entsprechend zu gestalten. Das be
ginnt bei der Themenwahl und der Tagesordnung, es geht weiter mit der Qualität und Lebendigkeit der Debatten und Redebeiträge bis hin zur Anwesenheit der Regierungsmitglieder. Diese werden dann - so ist es jedenfalls zu hoffen - den Landtagssitzungen möglichst selten fern bleiben.
Wenn wir diesem Anspruch genügen, dann werden auch weniger Zweifel daran aufkommen, ob wir unser Geld wert sind. Dann wird es nicht vorrangig um möglichst billige Abgeordnete gehen. Lassen Sie uns also unseren Landtag, das Herzstück der Demokratie, mit immer mehr Leben erfüllen.
Siebentens. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Aber sie ist sich dessen bewusst, dass sie die Minderheit von morgen sein kann. Damit haben wir im Landtag reichhaltige Erfahrungen. Deshalb hat die Minderheit nicht nur verbriefte Rechte, sondern auch den moralischen Anspruch darauf, als ebenso vollwertige Vertretung des Volkes behandelt zu werden. Außerdem entscheidet die Mehrheit nur über die dem Landtag gegeben, oft sehr eingeschränkten Möglichkeiten; Geld können wir beispielsweise nicht beschließen. Das ist die ernüchternde Einsicht aus jeder Haushaltsberatung.
Mir scheint, dass manche Regeln und Abläufe des demokratischen Prozesses noch unzureichend bekannt sind. Lassen Sie uns also insbesondere jungen Menschen die großartigen Vorzüge der Demokratie erklären, damit mehr und mehr bewusste Demokraten heranwachsen.
Meine Damen und Herren! Zum Schluss möchte ich eine Relativierung anführen. Landtage und politische Parteien stehen nicht allein. Sie sind eingebettet in fest gefügte Bedingungen und werden beeinflusst von starken Kräften, die wir im Grunde nicht verändern können. Ich spreche hierbei nicht vom Wetter, aber immerhin von scheinbar unpolitischen, oft sehr finanzkräftigen Konkurrenten, denen wir Parlamentarier wenig entgegensetzen können. Wir werben um Zustimmung inmitten einer hoch entwickelten Werbeindustrie, mit deren Anreizen politische Parteien kaum mithalten können. Auch sind wir nur selten Herr der Themen, von denen die Öffentlichkeit bewegt wird.
Gelegentlich ist uns nicht einmal voll bewusst, wie wir selbst von ganz anderen Kräften bewegt werden. So hat kürzlich ein Quizmaster einer Unterhaltungssendung im ZDF mit leichter Handbewegung alle verfügbaren Stadträte der Stadt Halle veranlasst, in einer zur Sauna umgebauten Straßenbahn Platz zu nehmen. Nie zuvor erhielt der Stadtrat von so vielen Menschen Beifall wie in dieser Situation, als wir halbnackt und schwitzend hinter den Scheiben saßen. Jeder machte diesen Spaß mit. Doch eigentlich sind Stadträte dafür nicht gewählt worden. Der Unterhaltungswert wurde höher eingeschätzt als unsere politische Arbeit. Aber das nur am Rande.
Meine Damen und Herren! Ich bin der Ansicht, dass sich ein Gemeinwesen, dessen Zusammenhalt auf stabilen demokratischen Überzeugungen beruht, in guten wie in schlechten Zeiten besser entwickeln kann als jedes andere. Das wünsche ich mir in Sachsen-Anhalt. - Ich danke Ihnen.
Wir fahren nun mit der Konstituierung des Landtages fort. Ich beginne, sehr verehrte Damen und Herren Ab
geordnete, mit einigen Regularien und Verfahrensfragen, deren Klärung notwendig ist, um die konstituierende Sitzung sachgerecht durchzuführen.
Die Geschäftsordnung des vorherigen Landtages ist nicht mehr in Kraft. Bis zur Entscheidung über die Geschäftsordnung des Landtages der fünften Wahlperiode ist unser Verfahren daher noch weitgehend ungeregelt, soweit die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt oder das Gewohnheitsrecht nicht entsprechende Vorschriften bereithalten.
Wenn sich kein Widerspruch erhebt, werden wir für diese wenigen Fragen die entsprechenden Vorschriften der Geschäftsordnung des Landtages der vierten Wahlperiode anwenden, bevor wir dann über eine Geschäftsordnung entscheiden. Das betrifft § 2 - Bildung der Fraktionen -, § 59 - Erste Sitzung des Landtages - sowie § 70 - Beschlussfähigkeit. Ich meine, diese wenigen Paragrafen brauchen wir zunächst. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Meine Damen und Herren! Zur Komplettierung des heutigen Interimspräsidiums ist es notwendig, aus der Mitte des Hauses zwei Abgeordnete zu benennen, die mit mir gemeinsam den Sitzungsvorstand bilden. Ich bitte deswegen die beiden jüngsten Mitglieder des Landtags, mit mir als Sitzungsvorstand zu fungieren. Die an Lebensjahren jüngsten Mitglieder des Landtages sind - ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben; nicht alle, sondern diese beiden - Herr Daniel Sturm von der Fraktion der CDU, geboren am 6. März 1977, sowie Herr Hendrik Lange von der Fraktion der Linkspartei.PDS, geboren am 20. Januar 1977. Ich frage Sie beide, ob Sie bereit sind, dieses Amt zu übernehmen.
- Sie haben beide mit „Ja“ geantwortet. Ich danke Ihnen, dass Sie dieses Amt annehmen, und bitte Sie, zu meiner Rechten und zu meiner Linken am Präsidiumstisch Platz zu nehmen und meine Einsamkeit zu beenden.
Nehmen Sie es als ein gutes Zeichen, dass die beiden Abgeordneten, die 1990 als die ersten jüngsten Abgeordneten diese Aufgabe übernommen haben, heute, im Jahre 2006, noch immer bzw. schon wieder Abgeordnete des Landtages sind. Sie sind zwei von nur noch elf Abgeordneten aus dieser Zeit, die jetzt noch mit von der Partie sind.