Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns beginnen. Ich eröffne die 67. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie alle auf das Herzlichste.
Meine Damen und Herren! Zwei Abgeordnete unter uns haben heute Geburtstag, nämlich die Abgeordnete Frau Angelika Hunger und der Abgeordnete Herr Holger Stahlknecht.
Ich gratuliere beiden im Namen des Hohen Hauses und auch persönlich recht herzlich. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in unseren Reihen einen angenehmen Tag verbringen können.
Wir beginnen, wie vereinbart, die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 4 - Aussprache zur Großen Anfrage. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 15, 16 und 22. Ich weise darauf hin, dass wir am gestrigen Tag einige Tagesordnungspunkte, die für heute vorgesehen waren, schon abgearbeitet haben und uns deshalb ein anderer Zeitplan vorliegt.
Also noch einmal: Wir beginnen mit dem Tagesordnungspunkt 4, dann folgen die Tagesordnungspunkte 15, 16 und 22. Ich erinnere daran, dass wir einige ursprünglich für heute vorgesehene Tagesordnungspunkte gestern abgearbeitet haben. Die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte verändert sich dadurch nicht, aber deren Anzahl.
Ich erinnere daran, dass gestern bereits gesagt worden ist, dass Herr Professor Böhmer ab 13 Uhr und die Minister Robra, Bullerjahn und Dr. Aeikens ganztägig nicht anwesend sein werden.
Für die Aussprache ist die Redezeitstruktur C vorgeschlagen worden, also eine 45-Minuten-Debatte. Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge LINKE, SPD, FDP und CDU.
Gemäß der Geschäftsordnung erteile ich nun Frau Feußner das Wort, um für die CDU-Fraktion als Fragestellerin das Wort zu nehmen. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Bevor ich auf die Ergebnisse der Großen Anfrage zur Geschichte der DDR im Unterricht an den Schulen Sachsen-Anhalts eingehe, gestatten Sie mir einige einleitende Gedanken.
Nicht wenige von uns hier im Saal werden bei dem Thema Geschichtsunterricht an ihre eigene Vergangenheit in der Schule denken. Wiederum nicht wenige werden das mit gemischten Erinnerungen tun.
Der Geschichtsunterricht gehört zum Pflichtkanon der Unterrichtsfächer und auch der Abiturfächer an unseren Gymnasien, aber nicht zu den ungedingt immer bevorzugten Fächern unserer Schüler.
Warum ist das so? - Das Fach Geschichte verlangt zunächst vor allem eine starke Gedächtnisleistung von seinen Schülern. Zahlen und Fakten müssen beherrscht werden, bevor die richtigen Zusammenhänge begriffen und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Jedes historische Studium beginnt mit einer Propädeutik-Vorlesung über die Grundlagen des historischen Denkens und Arbeitens. Mit einer solch trockenen und häufig auch komplexen Materie tun sich viele - vielleicht auch von uns - relativ schwer.
Allzu leicht gelangt man in den Verdacht der Geschichtsklitterung, -verklärung oder -verdrehung, sofern man eben nicht die Zusammenhänge erkennt und die richtigen Schlussfolgerungen zieht, weil man die Grundlagen des historischen Denkens und Arbeitens eben nicht beherrscht. Dann lässt man vielleicht doch lieber die Finger davon. Es bedarf also eines wachen Verstandes und einer sorgfältigen Analysefähigkeit, um historische Ereignisse richtig zu deuten und einordnen zu können.
Werte Kollegen! In diesen Tagen erinnern wir uns als Politiker oft und intensiv an die Ereignisse der friedlichen Revolution vor 20 Jahren und an die Öffnung der innerdeutschen Grenze bzw. der Berliner Mauer im Jahr 1989. Ich erinnere nur an die große Feier anlässlich des 20. Jahrestages der Grenzöffnung am 9. November in Berlin. Jeden Tag waren darüber Berichte im Fernsehen und in anderen Medien zu finden. Zudem war dies Thema der Regierungserklärung am gestrigen Tag.
Wir erinnern uns, weil alle unter uns in diesem Raum diese welthistorischen Ereignisse von damals selbst erlebt, wir können ruhig sagen: am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Wir tun dies ohne Anstrengung; denn die damalige Zeit ist uns im Gedächtnis geblieben. Es bedarf für jede und jeden Einzelnen von uns keiner großen Anstrengung, um die Vorgänge der Jahre 1989 und 1990 in seine oder ihre Erinnerung zurückzurufen; denn jede oder jeder Einzelne kann ihre oder seine eigene Geschichte von damals erzählen.
Warum komme ich auf eine solche Betrachtung? - Wie ist es um diejenigen bestellt, die heute in unseren Schulen in den Genuss eines von ideologischen Fesseln befreiten Geschichtsunterrichts kommen, die aber im Hinblick auf den Zusammenbruch bzw. die Implosion des SED-Staates DDR nicht mehr auf persönlich Erlebtes zurückgreifen können, das in ihrem Gedächtnis verankert ist, sondern auf Vermitteltes angewiesen sind, das sich nicht so einfach im Gedächtnis festsetzen will?
Liebe Anwesende! Der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin unter Leitung von Profes
sor Dr. Klaus Schroeder hat eine Studie unter dem Titel „Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern, ein Ost-West-Vergleich“ erstellt. Darin werden Antworten auf die von mir aufgeworfenen Fragen gegeben. Zu meinem oder zu unser aller Bedauern werden darin keine zufriedenstellenden Antworten gegeben. Vielmehr werden bei Schülerinnen und Schülern eklatante Wissenslücken zur DDR-Geschichte erkennbar, die Schlimmes befürchten lassen.
Lassen Sie mich einige Befunde der Reihe nach offenlegen. Auf die Frage, ob die Umwelt in der DDR oder der Bundesrepublik sauberer war, antworteten 43,3 % der Schüler in Ostdeutschland: in der DDR, aber nur 20,9 % antworteten: in der Bundesrepublik.
Ich belasse es nicht bei dieser eher nicht systemrelevanten Frage. Auf die Frage, wann die Berliner Mauer gebaut wurde, gaben nur 53,2 % der ostdeutschen Schüler die richtige Antwort. Fast die Hälfte wusste es nicht. Dieses Ergebnis kam zustande, obwohl alle befragten Lehrer angaben, dass das Thema im Unterricht behandelt worden sei. Professor Schroeder schließt daraus auf ein erhebliches Desinteresse vieler Schüler an historischen Fakten und Daten.
Doch es kommt noch besser oder auch schlimmer. Jeder dritte ostdeutsche Schüler hält Willy Brandt für einen ostdeutschen Politiker. Die Frage, ob die Stasi lediglich ein Geheimdienst gewesen sei, wie ihn jeder Staat habe, bejahten 38,8 % der Ostberliner Schüler. Ich überlasse Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bewertung.
Wer den jüngsten Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 betrachtet, wird feststellen, dass sich das historische Verständnis bei der jüngeren Bevölkerung in Sachsen-Anhalt ebenfalls deutlich nach unten bewegt. So können nur noch 61 % der 18- bis 24-Jährigen den 3. Oktober 1990 richtig zuordnen. Während 83 % der über 60-Jährigen die DDR als Diktatur einstuften, sind dies nur noch 63 % der 18- bis 24-Jährigen.
Die Studie aus Berlin hat offenbart, dass die Schüler mit den besten Kenntnissen am kritischsten über die DDR urteilen. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen dem Wissensgrad und dem Urteil. Man könnte jetzt natürlich etwas sarkastisch sagen: Wenn man an einem positiven Urteil über die DDR interessiert ist, heißt das, möglichst wenige Kenntnisse darüber zu vermitteln.
Liebe Kollegen! Es ließe sich diese Reihe von Befunden beliebig fortsetzen. Die Lektüre dieser Studie lohnt sich in jedem Fall. Die CDU-Fraktion hat diese Befunde zum Anlass genommen, eine Große Anfrage an die Landesregierung zur Geschichte der DDR im Unterricht an den Schulen des Landes Sachsen-Anhalt zu richten, um so zu erfahren, mit welchen Mitteln die Landesregierung dafür Sorge trägt, den Schülerinnen und Schülern die Geschichte der DDR im Unterricht nachhaltig zu vermitteln.
Die Landesregierung - so ihre Antwort - möchte den Schülern ein differenziertes Bild der DDR vermitteln. Dazu verweist sie auch auf die vielen geplanten Aktivitäten der Schulen im Zusammenhang mit dem 20. Jahrestag des Mauerfalls, die vom Kultusministerium erheblich unterstützt werden.
Zu den Fächern, in denen DDR-Geschichte gelehrt wird, zählen neben dem Fach Geschichte insbesondere die Fächer Sozialkunde, der evangelische und der katho
lische Religionsunterricht, der Ethikunterricht sowie das Fach Rechtskunde. Die Landesregierung verweist auf die vielen Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung, um die DDR-Geschichte plausibel zu vermitteln.
Ich möchte an dieser Stelle nicht auf alle Einzelheiten der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage eingehen, denn ich vermute, der Kultusminister wird es dann in seiner Stellungnahme noch eingehend tun. Was mir aber aufgefallen ist, ist der Spielraum, den die Schulen noch ausnutzen sollten, wenn es darum geht, Geschichtsinhalte anschaulich darzustellen.
So ist meiner Auffassung nach die Möglichkeit eines Besuches von Gedenkstätten wie dem „Roten Ochsen“ in Halle oder der Gedenkstätte „Moritzplatz“ in Magdeburg oder der Gedenkstätte in Marienborn noch nicht hinreichend ausgeschöpft worden. Wenn in einem Drei-Jahres-Zeitraum in den Jahren 2006 bis 2009 die Gedenkstätte in Marienborn nur von 2 464 Schülerinnen und Schülern besucht wurde, dann ist das in meinen Augen sehr verbesserungswürdig. Dabei bieten diese Gedenkstätten doch hinreichend viele Anschauungsobjekte, die auf die tatsächlichen historischen Gegebenheiten des DDR-Regimes hinweisen. Es gilt der Erfahrungssatz: Was man selbst in Augenschein genommen hat, bleibt einem auch länger im Gedächtnis.
Für das historische Gedächtnis gilt das allemal. Diese These wird auch durch eine empirische Studie zu Schulklassenbesuchen in der Gedenkstätte Bautzen aus Sachsen untermauert, die in der Ausgabe der Zeitschrift „Deutschland-Archiv“, Ausgabe 5/2009, veröffentlicht wurde. In dieser Studie werden die Ergebnisse des Forschungsverbundes SED-Staat im Wesentlichen bestätigt:
„39 % der befragten Schüler hatten noch nie etwas von der Gedenkstätte Bautzen gehört. Nur wenige besaßen spezifische Kenntnisse über das historische Geschehen in der Haftanstalt. Oft konnte die Hälfte der Schüler entsprechende Fragen nicht beantworten oder gab gar falsche Antworten. Angesichts dieser Angaben über die mangelhafte Vorbereitung des Besuchs im Schulunterricht verwundert dies nicht.“
Dies deutet auf keine gute Vorbereitung und Sicherung von historischen Fakten in den jeweiligen Fächern durch unsere Lehrkräfte hin.
In der gleichen Studie gaben 54,4 % der Schüler an, „die Inhaftierung politischer Gegner in der DDR sei im Schulunterricht kaum oder nicht behandelt worden; immerhin 36,6 % sagten dies aber auch für die politische Verfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus. Der letztgenannte Befund ist ein Hinweis darauf, dass die Lücken im Wissen über die DDR-Geschichte nicht allein auf die Vorbehalte einer in der DDR sozialisierten Lehrerschaft zurückgeführt werden können, sondern dass ihre Ursachen auch in der Organisation des Geschichtsunterrichts im Ganzen zu suchen sind.“
Viele Lehrer sagen, sie müssten neutral über diesen oder jenen Standpunkt der DDR berichten. Aus meiner Sicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind sie aber verpflichtet, von der Werteordnung unserer Gesellschaft, einer freiheitlichen Gesellschaft, auszugehen. Dieses haben sie leider noch nicht alle verinnerlicht.
Ich plädiere also vor dem Hintergrund der Antwort der Landesregierung auch für ein konsequentes Wirken unserer Lehrkräfte, die für die Vermittlung von historischen Kenntnissen verantwortlich sind.
Es bedarf sicherlich eines differenzierenden Herangehens an die Sache, aber die Erkenntnisse und die Lehren aus der Geschichte müssen klar im Unterricht genannt werden. So wie es Professor Richard Schröder in der „FAZ“ vom 9. Mai 2009 zur Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, getan hat - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident -:
„Der eigentliche Skandal war aber gar nicht dieses oder jenes empörende Urteil, sondern das Prinzip. Die Justiz sollte ganz offiziell nicht unparteilich sein, sondern ein Machtmittel. Macht ging vor Recht, und zwar nicht nur tatsächlich, es sollte so sein. Wenn die SED in einem Prozess die Machtfrage berührt sah, hat sie den Richtern vor Prozessbeginn das Strafmaß bis hin zur Todesstrafe vorgegeben. In anderen Fällen hat die Stasi ein richtiggehendes Drehbuch für den Verlauf des Prozesses vorgegeben. Mit voller Absicht wurde das Gefühl der Rechtsunsicherheit verbreitet. Und das Ganze wurde verbrämt mit einer entsprechenden Theorie vom sozialistischen Rechtsstaat.“