Mit der noch nicht erfolgten völligen Anpassung der Rentenberechnungsformel sollten wir uns bewusst noch Zeit lassen. Eine zu schnelle Anpassung würde zu deutlichen Nachteilen für die Betroffenen in den neuen Bundesländern führen.
Insgesamt sind aus Transferzahlungen in den letzten 20 Jahren pro Jahr im Durchschnitt 4,3 Milliarden € nach Sachsen-Anhalt geflossen - Geld, auf das wir dringend angewiesen waren und auch noch angewiesen sind. Um das deutlich zu machen, reicht schon der Blick auf die Steuerdeckungsquote unseres Landeshaushalts, die im Jahr 2009 bei 53 % lag.
Wir wissen aber auch, dass 20 Jahre nach der Herstellung der deutschen Einheit die Höhe dieser Mittel rückläufig ist und sein wird. Im Jahr 2014 werden wir zum Beispiel nur noch mit knapp 3,4 Milliarden € rechnen können.
Wir müssen in Sachsen-Anhalt - wie in den anderen neuen Bundesländern - also zunehmend auf eigenen Füßen stehen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen kann, aber es wird mit Sicherheit nicht einfach werden.
Bereits in den Jahren 2007 bis 2009 sind wir in unserem Landeshaushalt ohne neue Schulden ausgekommen. Dann mussten wir wegen der weltweiten Wirtschaftskrise wieder Kredite aufnehmen. An unserem Ziel der Haushaltskonsolidierung ändert dies freilich nichts. Zum Schuldenabbau gibt es auch angesichts der demografischen Entwicklung keine Alternative.
Unsere Wirtschaft ist nicht mehr vergleichbar mit der der 90er-Jahre. Sie ist sehr viel robuster geworden. Wir sind bislang auch vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Die Arbeitslosenzahlen sind weiter gesunken und sind so niedrig wie seit Beginn der 90er-Jahre nicht mehr. Auch andere Wirtschaftsdaten stimmen optimistisch. So ist das Bruttoinlandsprodukt preisbereinigt von 1991 bis 2009 in Sachsen-Anhalt um 65,6 % gestiegen. In Deutschland insgesamt waren es in diesem Zeitraum nur 22,7 %. Inzwischen erreichen wir fast 74 % des gesamtdeutschen Wertes, 1991 war es erst etwa die Hälfte.
Während im Jahr 1991 noch 77,2 Arbeitsstunden erforderlich waren, um 1 000 € des Bruttoinlandsproduktes zu erwirtschaften, waren es 2008 nur noch 28,6 Stunden. Diese Produktivitätsverbesserung hatte leider auch zur Folge, dass die Arbeitslosigkeit langsamer zurückging, als es von uns erhofft worden war.
Erfreulich ist auch, dass es uns gelungen ist, insgesamt einen Strukturwandel zu vollziehen. Es sind nicht mehr allein die für Sachsen-Anhalt traditionell wichtigen Branchen, wie die Chemieindustrie, der Maschinenbau oder die Ernährungsbranche, die das Bild unserer Wirtschaft prägen. Neue Branchen wie die Automobilzulieferer, die Solarindustrie und der Windenergieanlagenbau sowie insgesamt der Bereich der regenerativen Energien sind hinzugekommen. Damit ist unsere Wirtschaft nicht nur vielgestaltiger, sondern auch weniger krisenanfällig geworden.
Ausdruck dieser gewachsenen Leistungskraft unserer heimischen Wirtschaft ist die gestiegene Exportquote.
Lag diese vor zehn Jahren noch bei lediglich 15,7 %, so ist sie inzwischen auf rund 27 % im Jahr 2009 gestiegen. Wir wissen aber auch, dass an dieser Stelle noch Steigerungspotenzial vorhanden ist. Vom deutschen Durchschnitt - dieser liegt bei etwa 44 % - sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.
Eine Ursache dafür liegt ohne Zweifel in der recht kleinteiligen Wirtschaftsstruktur in Sachsen-Anhalt. 90 % aller Unternehmen haben weniger als 20 Arbeitsplätze. Das bei uns entwickelte Modell der Chemieparks, das auch international Beachtung gefunden hat, oder Firmennetzwerke, wie das der Automobilzulieferer Mahreg, sind unser Weg in die Zukunft. Sie zeigen, wie man durch Bündelung der Kräfte positive Effekte für die Entwicklung der Wirtschaft in einer Region organisieren kann.
Der noch zu den westlichen Flächenländern bestehende Unterschied beim Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner resultiert im Wesentlichen aus der noch zu geringen Dichte an Industriearbeitsplätzen. Bezogen auf die einzelnen Arbeitsplätze ist die Produktivität nur noch unwesentlich geringer. Umfangreiches Datenmaterial wurde von den statistischen Ämtern der Länder und des Bundes dazu zusammengetragen und mit dem Jahresbericht 2010 der Bundesregierung zur deutschen Einheit vorgelegt.
Es gibt erfreulicherweise auch bemerkenswerte Erfolgsgeschichten. Eine nach 1990 gegründete kleine Firma in Magdeburg ist inzwischen auf über 2 000 Beschäftigte gewachsen und hat ihren Hauptsitz kürzlich in ein Gebäude verlegt, das in besonderer Weise mit der Magdeburger Industriegeschichte verbunden ist, nämlich in das im 19. Jahrhundert errichtete Hauptgebäude der KruppGruson-Werke, das lange Zeit als Verwaltungsgebäude des Sket-Werkes genutzt wurde und heute wieder voller Wirtschaftsleben ist.
Selbstverständlich waren die letzten 20 Jahre nicht nur vom wirtschaftlichen Umbau in unserem Land geprägt, auch wenn die Wirtschaft der Bereich ist, in dem die Grundlagen für den gesellschaftlichen Wohlstand gelegt werden. Nur das, was produziert wird, kann auch verbraucht oder verkauft werden. Das ist eine einfache Grundregel, die konsequent befolgt werde sollte; auch das lehrt uns die DDR-Geschichte.
Neben veränderten Wirtschaftsstrukturen hat uns die deutsche Einheit auch die Strukturen eines Rechtsstaates und, damit verbunden, Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gebracht. Die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, ohne die keine Demokratie funktionieren kann, wurde wiederhergestellt.
Der Landtag hat in seiner ersten Legislaturperiode immerhin über 279 Gesetzentwürfe zu beraten gehabt. In der letzten Legislaturperiode von 2002 bis 2006 waren es noch 155. Wir geben zu, dass wir, die wir damals angefangen haben, die Regeln des Parlamentarismus auch erst wieder erlernen mussten.
Gleichwohl waren dies vermutlich noch die einfachsten Anpassungsprozesse, nämlich der staatsrechtliche, der verfassungsrechtliche, der kommunalrechtliche und der verwaltungsrechtliche Anpassungsprozess an den gesamten Gesetzeskodex der westlichen Bundesländer. Vieles musste nur abgeschrieben werden, weil es zum Rechtsrahmen gehörte und sich bereits bewährt hatte.
Mir haben - ich glaube, zu Recht - nicht wenige Verwaltungsbeamte aus Westdeutschland gesagt, wenn sie
ihre Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem gleichen Gesetzeskodex und mit den gleichen schwierigen Durchführungsbestimmungen, beispielsweise zu § 44 der Landeshaushaltsordnung, hätten aufbauen müssen, dann hätten sie das wohl nicht geschafft. Wir haben Gesetze übernommen, die in Westdeutschland erst in der ersten Hälfte der 70er-Jahre geschaffen wurden, also nachdem der wirtschaftliche Aufbau dort im Wesentlichen abgeschlossen worden war.
Es ist darüber diskutiert worden, ob man für eine Übergangsphase nur einen Teil des westdeutschen Rechtsapparates übernehmen solle. Es waren die Vertreter der Volkskammer, die damals gesagt haben: Wir wollen unter den Schutz des Grundgesetzes; wir wollen keine andere Rechtslage; wir wollen kein Sondergebiet; wir wollen Teil der Bundesrepublik werden.
Damit haben wir ein Verwaltungsrecht übernommen, das sehr ausdifferenziert und deshalb auch sehr personalaufwendig ist. Trotzdem müssen wir es mit den gleichen Personalzahlen schaffen, mit denen es auch die westlichen Flächenländer hinbekommen. Wir haben angefangen, die dazu notwendigen strukturellen Reformen in allen Verwaltungsbereichen unseres Landes zu organisieren. Aber ich gebe auch zu: Einiges wird noch zu tun sein.
In der Bilanz der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sieht manches anders aus. An Umfragen, die uns die Befindlichkeiten unserer Bürger 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nahebringen wollen, fehlt es derzeit nicht.
Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg hat ergeben, dass sich nur 9 % der Befragten in den neuen Bundesländern die DDR zurückwünschen würden. Aber mehr als die Hälfte der Befragten will weder DDR wiederhaben, noch fühlt sie sich im geeinten Deutschland schon richtig wohl.
52 % der Westdeutschen sind wiederum der Meinung, dass es dem Osten inzwischen besser oder zumindest teilweise besser geht als dem Westen. Auch dafür gibt es schon Beispiele, wenn man die Leistungsstatistiken bis auf die Kreisebene herunterbricht.
Die immer häufiger polemisch geäußerte Frage, wann die so genannte innere Einheit erreicht sei, wird sich mit einzelnen statistischen Ergebnissen sicherlich nicht beantworten lassen.
Zu den emotionalen Problemen, die wir noch nicht überwunden haben, gehört auch, dass wir uns in Ost- und Westdeutschland gegenwärtig noch mit Vorurteilen begegnen. Niemand aus der ehemaligen DDR muss sich einreden lassen, dass der Misserfolg des Wirtschaftssystems sein persönliches Versagen gewesen sei und dass seine persönliche Lebensleistung deshalb weniger wert sei. Aber niemand aus den westlichen Bundesländern kann mit Recht so auftreten, als ob der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft sein ganz persönlicher Lebenserfolg gewesen sei. Beides hat es gegeben. Weder das eine noch das andere sollte uns beeindrucken und sollten wir respektieren müssen.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben beide ehemaligen Teile Deutschlands viele gute Gründe, gemeinsam auf das bisher Erreichte und die bisher erreichte
Der mentale Transformationsprozess ist sicher noch nicht abgeschlossen. Totalitäre Sozialisationserfahrungen in einer vormundschaftlichen Fürsorgediktatur müssen zwangsläufig zu einer anderen Verhaltensweise führen als die Sozialisation in einer weltoffenen Wettbewerbsgesellschaft. Noch heute ist die Neigung, vom Staat mehr zu erwarten, als er in einer freiheitlichen Leistungsgesellschaft überhaupt zu leisten vermag, in den neuen Bundesländern weit verbreitet.
Eine andere Frage, die immer wieder thematisiert wird, ist die Ost-West-Angleichung. Auch 20 Jahre nach der Wiederherstellung der Einheit gibt es noch Unterschiede, zum Beispiel bei den durchschnittlichen Einkommen und bei den durchschnittlichen Renten.
Die neuesten Angaben zu den verfügbaren Einkommen in Deutschland weisen zum Beispiel für den Bördekreis in Sachsen-Anhalt im Jahr 2009 ein Einkommen von rund 16 700 € pro Kopf aus. Damit liegt der Bördekreis an der Spitze im Vergleich aller Landkreise in SachsenAnhalt. Das verfügbare Einkommen im Bördekreis entspricht zwar nur einem Anteil von 88,2 % am deutschen Durchschnitt, aber dieser Anteil ist höher als in der Stadt Flensburg, die auf 86,3 % des deutschen Durchschnitts kommt, und auch höher als in Gelsenkirchen, wo das verfügbare Einkommen pro Kopf 87 % des deutschen Durchschnitts entspricht.
Ich will das nur am Rande sagen. Es gibt bei uns zumindest einen Landkreis, dessen Wirtschaftsleistung besser ist als etwa die Leistung von fünf anderen Landkreisen in westdeutschen Regionen. Wir sollten den Blick zunehmend auf das richten, was wir erreicht haben. Das bedeutet nicht, aus den Augen zu verlieren, was wir noch erreichen wollen.
In allen föderalistisch strukturierten Staaten der Welt gibt es regionale Unterschiede. Die Unterschiede zwischen Ost und West in Deutschland sind nur noch wenig größer als die zwischen Nord und Süd, aber wir leiden mehr darunter, weil wir hier über 60 Jahre hinweg zentralistische Staatsstrukturen hatten.
Die Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen sollte auch nicht zum Verzicht auf unsere regionale Identität führen. Auch wir können mit Stolz auf einiges verweisen, was wir als Alleinstellungsmerkmal unseres Landes behalten und wofür wir auch in Zukunft werben wollen.
Die Menschen bei uns wollten die Freiheit. Sie meinten damit zunächst die Reisefreiheit und sie meinten damit die Presse- und Meinungsfreiheit. Die meisten meinten auch die D-Mark, nach der laut gerufen wurde. Sie wussten nicht und konnten nach mehr als 60 Jahren Unfreiheit auch nicht wissen, dass Freiheit zugleich mehr Selbstverantwortung und Übernahme von mehr Risiko durch jeden Einzelnen bedeutet.
Das Erlebnis des wirtschaftlichen Transformationsprozesses mit der hohen Arbeitslosigkeit, mit der großen Verunsicherung und auch der Enttäuschung vieler, die in diesen Prozess mit Illusionen hineingegangen sind, hat dazu geführt, dass die Freiheit heute von nicht wenigen anders gesehen wird. Es gibt heute noch eine nicht ge
ringe Anzahl von Menschen, die vor dieser Freiheit Angst haben, weil sie sich ihr nicht gewachsen fühlen. Ihnen sind wir Chancen schuldig, sich in dieser Freiheit selbst bewähren zu können.
Wer für diese Freiheit wirbt, der muss sich auch darum kümmern, dass sich die Menschen dieser Freiheit gewachsen fühlen können. Und das ist, denke ich, unsere Aufgabe als Politiker.
Ich weiß, dass wir dafür noch einiges zu tun haben. Wir in den neuen Bundesländern haben jetzt einen großen Anteil an Bürgerinnen und Bürgern mit gebrochenen Erwerbsbiographien und noch immer viele Langzeitarbeitslose. Sie wachsen in eine Zukunft mit niedrigen Rentenansprüchen hinein. Je früher die noch abweichende Rentenberechnungsformel an die im Westen gültige angeglichen würde, desto niedriger würden die Rentenansprüche werden.
Es ist in unserem Interesse, diesen Prozess zu prolongieren. Aber damit wächst auch die Zahl der Personen mit Grundsicherungsansprüchen an ihre jeweilige Kommune überproportional. Unsere Gemeinden, die durchschnittlich lediglich über 51 % des Gewerbesteueraufkommens der westdeutschen Gemeinden verfügen, werden dies nicht leisten können.
Diejenigen, die schon vor 20 Jahren gegen die Wiedervereinigung Deutschlands gestimmt haben, erklären das jetzt zu einer glatten Katastrophe. Diejenigen aber, die sich heute noch über das erlebte Wunder der Wiedervereinigung freuen, werden sich auch dadurch nicht entmutigen lassen.
Meine Damen und Herren! Als ein noch zu lösendes Problem dürfen wir es aber auch nicht unterschätzen.
Es gibt auch noch andere Formen der Teilung und der Wiedervereinigungspolitik, aus denen Handlungsbedarf resultiert. Fast all diese Probleme werden sich umso schneller und umso besser lösen lassen, je schneller die eigene Wirtschaftskraft und dadurch das eigene Steueraufkommen wachsen werden. Deshalb müssen wir uns auf diese Aufgabe schwerpunktmäßig konzentrieren.