Protokoll der Sitzung vom 29.01.2015

Ist es zeitgemäß und notwendig, wenn wir neben den Ansätzen des gemeinsamen Lernens an einem vollständig und umfassend ausgebauten Förderschulsystem festhalten, das Kinder aussondert und von der normalen Lebenswelt trennt?

(Zuruf von Frau Feußner, CDU)

Wenn zum Beispiel an einer Sekundarschule in Burg - von der Schüler heute zufällig da oben sitzen, aber wirklich nur zufällig - mehr als 77 % der Schülerschaft, die ihre Schullaufbahn mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf begonnen haben, am Ende einen höheren Abschluss erreichen als den eigentlich erwarteten, dann ist das nur eines von vielen Zeichen, dass Inklusion und gemeinsames Lernen gelingen können.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜ- NEN)

Diese Jungen und Mädchen kamen mit dem Stempel, anders zu sein, den normalen Anforderungen nicht zu genügen, an die Schule. Sie wurden unter

guten Rahmenbedingungen gefördert und stehen heute in Ausbildungsberufen wie dem Landwirt oder der Altenpflegerin ihren Mann oder ihre Frau. Diesen Schulen, die sich den Herausforderungen des gemeinsamen Lernens öffnen, müssen wir mehr Vertrauen und Sicherheit geben.

(Zustimmung bei der SPD). Diese ermutigenden Modellversuche mit einem inklusiven Schulkonzept sind daher unverzüglich zu evaluieren, damit diese Konzepte landesweit übertragen werden können. Einen wirkungsvollen Beitrag zur Teilhabe stellt in diesem Zusammenhang die Bereitstellung eines festen sonderpädagogischen Fachpersonals an allen Schulen dar. Damit wären die Fachfrau, der Fachmann für Problemlagen nicht mehr in einem abgegrenzten System nur für die sogenannten Problemfälle da, sondern stünden im allgemeinen Schulsystem allen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Deshalb muss man darüber nachdenken, ob mit einer Kopfpauschale von zwei Wochenstunden sonderpädagogischer Begleitung und mit einem vertreterähnlichen Herumreichen der Fachkräfte und damit mit einer sinkenden Arbeitszufriedenheit endlich Schluss gemacht werden kann. (Zustimmung von Frau Feußner, CDU)

Die Weiterentwicklung des Inklusionsgedankens macht auch Änderungen in anderen Bereichen erforderlich. Leisten die Universitäten einen ausreichenden Beitrag im Rahmen der Lehrerausbildung? Ist das Ausbildungssystem überhaupt noch praxisnah und ausreichend für die Vorbereitung künftiger Pädagoginnen und Pädagogen?

Die Verwirklichung gesellschaftlicher Teilhabe erfordert eine ressortübergreifende Zusammenarbeit wie beispielsweise bei der lange und heftig diskutierten Frage der Hort- und Ferienbetreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung in einem Alter von mehr als 14 Jahren.

(Zustimmung von Frau Zoschke, DIE LINKE)

Muss es hierfür Sonderregelungen geben oder ist es nicht an der Zeit, dass das Sozial- und Kultusministerium gemeinsam eine flächendeckende Ganztagsbetreuung aller Schülerinnen und Schüler, ob nun mit oder ohne Förderbedarf, schaffen?

(Zustimmung bei der SPD, von Frau Hoh- mann, DIE LINKE, von Frau Zoschke, DIE LINKE, und von Herrn Striegel, GRÜNE)

Als Nächstes muss ein besonderes Augenmerk auf den Übergang von der Schule zum Beruf gelegt werden. Die Berufsorientierung muss in den Lehrplänen eine größere Relevanz bekommen. Arbeitskräftepotenziale müssen rechtzeitig erkannt, gefördert und stärker genutzt werden. Das allgemeine und pauschale Abschieben von Schülerin

nen und Schülern mit Förderbedarfslagen, die den gemeinsamen Unterricht ohne Erreichen eines anerkannten Schulabschlusses durchlaufen haben, in das Berufsvorbereitungsjahr ist keine zukunftstaugliche Lösung.

Vielmehr muss durch das Entdecken, das Fördern und das Stärken der Einzelnen ein qualifizierter Berufsabschluss möglich werden. Das ist ein Gebot der Stunde, gerade auch angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels.

Am Ende des Jahres 2014 waren von den ca. 2,89 Millionen Arbeitslosen in Deutschland 177 828 Menschen mit Behinderungen arbeitslos. In Sachsen-Anhalt sind Ende 2014 insgesamt 125 559 Personen arbeitslos gemeldet gewesen, davon 4 790 Menschen mit einer Behinderung.

Trotz des Aufschwungs am Arbeitsmarkt hat sich die Lage der Menschen mit Behinderungen bislang nicht wesentlich verbessert. Die Beschäftigung von Schwerbehinderten ist in den letzten Jahren zwar gestiegen, die Arbeitslosigkeit jedoch auch. Dabei muss bedacht werden, dass ca. zwei Fünftel der arbeitslosen Menschen mit Behinderungen älter als 55 Jahre sind.

In Anbetracht der uns vorliegenden Prognosen sollten wir die verfügbaren Potenziale von Menschen mit Behinderungen besser nutzen und sie in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingliedern.

Hauptgrund für viele Arbeitgeber, von einer Beschäftigung von Menschen mit Behinderung abzusehen und lieber eine Ausgleichsabgabe zu zahlen, ist - es tut mir leid, dies an dieser Stelle sagen zu müssen - die fehlende Qualifikation von Menschen mit Behinderungen.

Wir müssen daher berufliche Aufstiegs- und gezielte Qualifizierungsmöglichkeiten schaffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen vermehrt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kommen und auch anspruchsvollere Aufgaben bis hin zu Leitungsfunktionen übernehmen können.

Für einen bestimmten Kreis von Betroffenen ist es sinnvoller, nicht aufwendig und teuer eine Beschäftigung außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes zu organisieren, sondern für ihre tarifgerechte Entlohnung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu sorgen.

Motivieren wir jetzt, qualifizieren wir jetzt, damit der vorausgesagte Arbeitskräftebedarf von morgen mit vielen hoch motivierten Menschen mit einer Behinderung abgedeckt werden kann.

Dazu sind sicherlich Rahmenbedingungen notwendig, die teilweise rechtlich, aber auch organisatorisch geschaffen werden müssen. Beispielsweise müssen die Schwerbehindertenvertretungen ge

stärkt werden. Diese sind für Arbeitgeber wichtige Partner in der betrieblichen Gesundheitsvorsorge, der Arbeitsplatzgestaltung oder auch im Bewerbungsverfahren.

Die Praxis zeigt, dass Betriebe mit einer starken Schwerbehindertenvertretung deutlich mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Sie spielen eine entscheidende Rolle, wenn Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung erhalten oder neu geschaffen werden. Der Einsatz der Schwerbehindertenvertretungen verdient höchste Anerkennung und Unterstützung.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Arbeitgeber müssen für die Potenziale von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert werden. Zudem - diese Forderung besteht schon, seit ich dem Parlament angehöre - muss den Beschäftigten einer Werkstatt der Übergang zum ersten Arbeitsmarkt erleichtert und gleichzeitig müssen die Rückkehrmöglichkeiten in die Werkstatt garantiert werden.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Dabei müssen wir auch als Land beispielgebend vorangehen. Für unsere Fraktion war es wichtig, einer Entnahme von 10 Millionen € aus der SalusRücklage schon deshalb nicht zuzustimmen, weil wir das Geld nutzen wollen, um Integrationsbetriebe und Projekte zu initiieren, die Menschen mit Behinderungen in Beschäftigung bringen.

(Zustimmung von Herrn Erben, SPD)

Blickt man allein auf die Rechtslage, dann ist unsere Gesellschaft in Sachen Selbstbestimmung auf einem guten Weg. Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbieten Benachteiligungen aufgrund von Behinderungen und zielen auf selbstbestimmte Teilhabe in allen Lebensbereichen ab.

Auch das Sozialgesetzbuch IX wurde mit dem Ziel geschaffen, die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen zu fördern.

Sachsen-Anhalt war das zweite Bundesland mit einem Behindertengleichstellungsgesetz. Es ist inzwischen novelliert und der UN-Behindertenrechtskonvention angepasst worden. Damit nehmen wir eine Vorbildrolle in der Bundesrepublik Deutschland ein.

Dennoch setzt sich Teilhabe im Bereich des Lebens und Wohnens bislang nicht so durch, wie wir es uns wünschen. Bestes Beispiel dafür ist das persönliche Budget. Wir sind mit einem Bundeskongress in Magdeburg gestartet, um Modellland

für diese Teilhabeform zu werden. Es wird Zeit, sich diesbezüglich der Realität zu stellen.

Ein trägerübergreifendes pauschales Budget gibt es nur selten, da die Reha-Träger zu wenig zusammenarbeiten. Behindertenverbände beklagen zudem, dass Entscheidungen über Anträge auf das persönliche Budget häufig verzögert werden. Diesbezüglich ist die Arbeit der Sozialagentur unseres Landes zu hinterfragen. Die Kritik, die landesweit geäußert wird, nehme ich persönlich - und ich denke, auch meine Fraktion - sehr ernst. Wir wissen um die Probleme der Leistungsbezieher. Der mühselige Klageweg kann nicht die Lösung für das Erreichen notwendiger Leistungen sein.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Individuelle Probleme erfordern eine personenzentrierte Bewertung. Das heißt, wir brauchen eine Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. Zudem sind die Aufgaben der Sozialagentur neu zu definieren.

Ein zweiter oft geäußerter Kritikpunkt ist, dass das Wunsch- und Wahlrecht nach § 9 SBG IX allzu häufig durch den Kostenvorbehalt in § 13 SGB XII ausgehebelt wird; denn dieser Paragraf räumt den Leistungsträgern den Ermessensspielraum ein, ob eine Leistung zumutbar ist oder nicht, zum Beispiel, ob ein Antragsteller entgegen seinem Wunsch auf ambulantes Wohnen in einer vollstationären Einrichtung untergebracht soll.

Wenn wir statt ständiger Fürsorge und Bevormundung Teilhabe konsequent um- und durchsetzen wollen, muss die derzeitige Eingliederungshilfe grundlegend neu geregelt werden.

(Zustimmung von Frau Hohmann, DIE LIN- KE)

Das ist eine Aufgabe des Bundes und die Signale aus Berlin für ein Bundesteilhabe- und ein Bundesleistungsgesetz sehen erfolgversprechend aus.

Mit dem Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen können wichtige Weichen gestellt werden. Wir als Land werden und müssen diese Reform begleiten und aus der Eingliederungshilfe eine einkommensunabhängige Teilhabeförderung werden lassen.

Die SPD setzt dabei auf die Gestaltung einer Sozialpolitik, die weniger institutionell denkt, sondern unterschiedlichste Menschen, Lebensweisen und Arbeitsformen auf die gleiche Art und Weise wertschätzt, sichert und unterstützt. Dazu gehört die Prüfung eines Teilhabegeldes zum pauschalen Ausgleich von Nachteilen und von Wegen zu mehr Unabhängigkeit von Einkommen und Vermögen.

Es geht darum, für alle Menschen einen gleichen und gleichartigen Zugang zu Unterstützungsstrukturen und Sicherungssystemen zu gewährleisten. Daher begrüßen wir jedenfalls auf Landesebene

den umfangreichen Konsultationsprozess mit allen Verbänden und Institutionen im Bereich der Behindertenpolitik, der hoffentlich im Jahr 2016 in einen Entwurf für ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen münden wird.

Es bleibt also festzustellen: In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. Jeder ist willkommen, und davon profitieren wir alle durch den Abbau von Hürden, durch Barrierefreiheit und Zugänglichkeit für uns alle.

Auch an dieser Stelle ist eine veränderte Denkweise anzumahnen. Barrierefreiheit bezieht sich nicht mehr nur auf den abgesenkten Bordstein, die Rampe oder die richtige Türbreite. Der Begriff muss sich wie ein roter Faden durch alle Lebensbereiche ziehen. Beispielhaft ist die Nutzbarkeit des Internets zu nennen, um uneingeschränkt Zugang zu wichtigen Informationen für alle zu gewährleisten. An dieser Stelle ist auch der Landtag heute gescheitert.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Wir sind noch nicht so weit, dass Gebärdensprachdolmetscher unseren Debattenverlauf gleichzeitig im Internet darstellen können, aber wir arbeiten daran. Wir wollen versuchen, dies im nächsten Jahr zur Verfügung zu stellen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)