Protokoll der Sitzung vom 09.09.2011

(Herr Borgwardt, CDU: Ich habe den Antrag gelesen! Allein das Lesen hat zehn Minuten gedauert!)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Wir schreiben das Jahr 2011. Die Zeit, in der Menschen, die Straftaten begangen haben, bei Brot und Wasser hinter Gittern büßen müssen, gehört in unserem Land zum Glück der Vergangenheit an. Das ist gut und das ist auch richtig so.

Doch erlauben Sie mir einen kurzen Blick in den Alltag unseres Strafvollzuges im Jahr 2011. Realität ist, dass selbst Gefangene, die Langzeitstrafen abzuleisten haben, keine oder nur eine geringe Möglichkeit haben, einen Schulabschluss bzw. einen Berufsabschluss nachzuholen. Realität ist, dass nur wenig Raum für Tataufarbeitung und Wiedergutmachung und entsprechende Maßnahmen existiert. Das Personal fehlt hierfür.

Realität ist, dass der offene Vollzug in SachsenAnhalt nicht ausgelastet ist. Denn auch hierfür fehlt das Personal. Realität ist, dass nicht allen Gefangenen die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit gegeben werden kann. Diese traurige Bilanz könnte ich noch fortsetzen. Das sind keine Einzelfälle, keine vereinzelt auftretenden Probleme.

Sehr geehrte Damen und Herren! Menschen im Strafvollzug werden im Strafvollzug zusätzlich

asozialisiert; sie verlernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Das im Erwachsenenstrafvollzug fehlende Behandlungskonzept und in der Folge ein möglicher und in der Realität nicht selten eintretender Rückfall in die Straffälligkeit werden zu einem zunehmenden und nicht wegzudiskutierenden Problem in unseren Anstalten und vor allem gegenüber allen betroffenen Opfern.

Opfer erwarten und dürfen zu Recht vom Staat einfordern, dass unter den Bedingungen des Strafvollzuges die Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass alles dafür getan wird, dass ein Straftäter nicht wieder straffällig wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch der Umgang einer Gesellschaft mit Menschen, die straffällig geworden sind, zeigt, wes Geistes Kind sie ist und welche Werte ihrem sozialen Gefüge sowie dem menschlichen Zusammenleben zugrunde liegen.

In Europa, in Deutschland sind rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention, im Grundgesetz und in Sachsen-Anhalt in der Landesverfassung verankert. Oberster Grundsatz ist dabei, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Alle Handlungen des Staates und alle Gesetze müssen sich an diesem Grundsatz messen.

Doch wie soll ein Staat Menschen behandeln, die gerade diesen Grundsatz in der Gesellschaft nicht beachten oder bewusst dagegen verstoßen haben? - Ein Beispiel der jüngsten Geschichte für dieses Problem sind die Vorfälle in der Gemeinde Insel in der Altmark. Menschen haben natürlich ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit. Gerade verunsicherte, verängstigte Menschen sind leicht beeinflussbar, wie wir an diesem Beispiel erneut sehen können. Ich erinnere an die Debatte zur Forensa hier in Magdeburg, aber auch an die Suche nach einem Standort für die jetzige JVA BurgMadel.

Meine Damen und Herren! Es sind all jene, die politisch Verantwortung tragen, an genau diese Verantwortung mit allem Nachdruck zu erinnern, wenn sie eine Stimmungsmache unterstützen, die Ängste schürt.

(Beifall bei der LINKEN)

Jeder Mensch hat nach der Verbüßung seiner Haftzeit das Recht auf eine zweite Chance. Das schließt unwidersprochen ein, dass man die Sorgen und Ängste von Menschen ernst nimmt. Das schließt aber auch ein, dass Menschen nach ihrer Haft ihr Recht auf eine freie Wohnortwahl behalten. Die Alternative hierzu wäre: wegschließen für immer, und das möglichst auf einer weit entfernten Insel, aber eben nicht in Insel. - Doch das hätte mit einem Rechtsstaat nichts mehr zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun reden wir hier in diesem Hause nicht zum ersten Mal über das Thema Strafvollzug; denn seit der Entscheidung durch die Föderalismuskommission ist dieses Thema in die Zuständigkeit der Bundesländer gefallen. Das ist keinesfalls ein glücklicher Umstand; denn Strafvollzug sollte nicht in 16 Bundesländern unterschiedlich geregelt sein.

Es war und es ist uns ein Anliegen, dass Personen aus Sachsen-Anhalt, die in anderen Bundesländern ihre Haftstrafen verbüßen, ebenfalls in diesem Bundesland eine Behandlung erfahren, die ihnen zukünftig ein straffreies Leben ermöglicht. Dieser fachliche Anspruch begründet unsere Motivation und unsere Forderung nach einem abgestimmten Konzept zwischen möglichst allen Bundesländern hinsichtlich analoger Fachstandards und eines gleichwertigen menschenwürdigen Behandlungsvollzugs.

Daher begrüßt meine Fraktion ausdrücklich die pünktlich vor unserer Landtagsdebatte erschienene Pressemitteilung des Justizministeriums, wonach nach eineinhalbjähriger Beratung ein Musterentwurf für neue Strafvollzugsgesetze von zehn Ländern vorgelegt wurde.

Frau Ministerin, wir stimmen natürlich mit Ihnen darin überein, dass Resozialisierung in den Fokus unserer Entscheidungen gerückt werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Genau dieser Fokus muss angewendet werden bei dem von uns zu beratenden Gesetzentwurf, bei sämtlichen Personalentscheidungen und auch bei Strukturveränderungen.

Mit dem vorliegenden Antrag haben wir Überlegungen der länderübergreifenden Zusammenarbeit und Vorschläge aus anderen Ländern aufgegriffen. Unser heutiger Antrag lehnt sich an bzw. basiert auf Konzepten aus Niedersachsen und Brandenburg, die im Übrigen dort von der CDU, den GRÜNEN und der FDP unterstützt wurden.

Wir wollen diese parlamentarische Debatte aber auch, um dem nachhaltigen Opferschutz durch eine qualifizierte Straffälligenhilfe zu entsprechen. Wenn alle Systeme im Vorfeld gescheitert sind, muss spätestens hier auf Netzwerkarbeit und Nachhaltigkeit in der Arbeit des Strafvollzuges gesetzt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir keine von den Inhalten losgelöste Strukturdebatte für den Strafvollzug in Sachsen-Anhalt.

Es geht um ein tragbares Gesamtkonzept, von dem die Gesellschaft zu Recht erwarten kann, dass im Strafvollzug eine Tataufarbeitung und Behandlung erfolgt, die ihrem Bedürfnis nach Sicherheit tatsächlich entspricht.

Und natürlich muss es für den, der hinter Gittern sitzt, spätestens jetzt einen letzten Rettungsanker geben, der Möglichkeiten zur Neuorientierung seines Lebens bietet. Wir müssen akzeptieren, dass

es 100-prozentige Sicherheit nie geben wird, aber wir müssen zumindest alles dafür tun, um uns diesem Ziel zu nähern.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Im Vorwort des Sozialatlasses des Landesverbandes für Straffälligen- und Bewährungshilfe berühren die Worte des Staatsministers Herrn Robra. Er führt dort treffend aus:

„Hilfe für Straffällige ist für uns ein Wert. Sie ist Ausdruck einer hohen ethischen Verantwortung, in der sich der Einzelne oder die Gemeinschaft auch dem nicht verschließen, der sich durch die Straftat unbewusst oder bewusst gegen sie stellt. Ausdruck einer gesellschaftlichen Hochkultur ist es, zulassen zu können, dass es Menschen gibt, die sich nicht normgerecht verhalten, dass wir Anderssein akzeptieren und nicht ausgrenzen, aber auch einschreiten, wenn der im Strafrecht formulierte... Minimalkonsens verletzt wird, und wir dennoch Chancen zur Wiedereingliederung, zur Resozialisierung eröffnen.“

Der Umgang und die Rahmenbedingungen in unserem Land werden sich an diesen zutiefst humanen und ethischen Grundsätzen messen lassen müssen. Dem wollen wir mit unserem Antrag entsprechen und bitten dafür in diesem Haus um breite Unterstützung.

Es ist sicherzustellen, dass eine behandlungsorientierte Verbüßung der Haftstrafe im Mittelpunkt aller Bemühungen des Strafvollzuges steht. Inhaftierte Männer werden als Familienväter in Familien entlassen. Ihr Einfluss in diesen Familiensystemen und ihre Vorbildwirkung prägen in einem nicht zu unterschätzenden Maß auch die Entwicklung ihrer Kinder. Dem muss man unbedingt gerecht werden.

Der Umstand, dass der Erwachsenenvollzug im Gegensatz zum Jugendstrafvollzug ein erzieherisches Moment nicht vorsieht, bedeutet nicht, man brauchte in dieser Hinsicht nichts zu tun. Ich habe zu Beginn meines Redebeitrages darauf hingewiesen, dass dem Element der Bildung und Ausbildung auch unter den Bedingungen des Erwachsenenvollzuges dringend entsprochen werden muss. Es fehlt im Vollzug an Arbeitsmöglichkeiten, und wir müssen fehlende Arbeit mit entsprechenden Alternativen kompensieren. Ziel muss es dabei letztlich sein, dass die in Freiheit Entlassenen nicht am Tropf der Sozialkassen hängen.

Bereits zum Zeitpunkt der Entlassungsvorbereitung sind daher freie Träger und andere Sozialdienste in die aktive Vollzugsplanung der Entlassungsvorbereitung so einzubeziehen, dass sie an den Vollzugskonferenzen teilnehmen und so eine störungsfreie Wiedereingliederung sichern. Damit würde die vorhandene Netzwerkstruktur, die wir als Landtag finanziell jedes Jahr fördern, optimal

im Zusammenwirken genutzt. Netzwerkarbeit kann aber nur erfolgen, wenn auch Netzwerkpartner vorhanden sind. Dem Problem der Struktur liegt immer auch ein inhaltliches Problem zugrunde.

Wir müssen zudem unbedingt gemeinsam verhindern, dass der bestehende Personalnotstand die zukünftige Struktur für den Strafvollzug vorgibt. Man würde hier sozusagen die Struktur den misslichen Zuständen anpassen. Damit, Frau Ministerin, würde das richtige Ziel, die Resozialisierung in den Fokus zu stellen, verfehlt.

Der Staatssekretär im Justizministerium hat nun 20 zusätzliche Stellen versprochen. Was damit kompensiert wurde oder wird, ist spannend zu erfahren. Im Ergebnis wäre dann zu beurteilen, ob man damit dem Anspruch nach Sicherheit und Resozialisierung tatsächlich gerecht wird.

Ich erinnere daran, dass die Landesregierung in der letzten Legislaturperiode mitteilte, dass das Problem der fehlenden Psychologen in den Anstalten damit gelöst werde, dass die Vollzugsbeamtinnen und -beamten entsprechende Fortbildungen erhielten. Die Realität beschreibt der Landesvorsitzende des Bundes der Strafvollzugsbeamten Herr Bülau jedoch mit folgenden Worten: Wir sind personell ausgeblutet, stehen mit dem Rücken an der Wand.

Eine falsche, nämlich eine viel zu geringe und zu undifferenzierte Planung zur Personaldecke und die nicht ausreichend berücksichtigte hohe durchschnittliche Altersstruktur der Vollzugsbeamten mit einem damit einhergehenden hohen Krankenstand sind der Hintergrund dieser Aussage.

Diese Bediensteten leisten täglich eine außerordentliche Arbeit in einem sehr belastenden Arbeitsumfeld. Sie haben zu Recht die Erwartung und die Forderung, dass sich diese Landesregierung mit ihren Problemen beschäftigt und nicht nur ein Fachministerium, dem ihre Probleme seit Langem bekannt sind, das aber im engen Korsett des Personalentwicklungskonzeptes gefangen ist.

Meine Damen und Herren! Bereits im Jahre 2009 legte eine Expertenkommission einen Bericht zur Prüfung der Organisation des Justizvollzugs in Sachsen-Anhalt vor. Im Ergebnis stand fest, dass die Vollzugsanstalten in Sachsen-Anhalt zum Teil unübersichtlich sowie mit maroder Bausubstanz ausgestattet seien und einen großen Anteil an Gemeinschaftsunterkünften besäßen. Ferner wurden Sicherheitsrisiken, ein ausgeprägtes Hierarchiedenken zwischen Aufsichtsbehörde und Anstalten und eine restriktive Haushaltspolitik festgestellt, die keinen Spielraum für notwendige Maßnahmen der Personalentwicklung böten.

Von der Expertenkommission wurde eine am konkreten Bedarf orientierte Personalentwicklung gefordert, nicht eine fiktive. Gefordert wurde zudem, dass der Justizvollzug komplett aus den personal

wirtschaftlichen Sparmaßnahmen der Landesregierung herausgenommen werden muss. Gefordert wurde, dass mit den Anstalten verbindliche Zielvereinbarungen abgeschlossen werden sollten, die Spielraum für Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten böten.

In der Folge des Berichts beschloss, wie Sie alle wissen, der Landtag die Schließung der Anstalten in Stendal und Halberstadt und folgte damit bereits in Teilen den Empfehlungen der Expertenkommission und veränderte die Vollzugslandschaft.

Nunmehr bedarf es einer erneuten Evaluation der Vollzugslandschaft und entsprechender Maßnahmen. Dies soll jedoch nicht im Geheimen und ausschließlich auf exekutiver Ebene erfolgen, sondern aus der Sicht der Linken unter Beteiligung des Landtages.

Ich habe erfreut festgestellt, dass im Juli 2011 vom Justizministerium wieder eine Expertenkommission einberufen wurde, um die Strukturen in SachsenAnhalt auf den Prüfstand zu stellen. Zustände wie im offenen Vollzug, der mangels Personal nicht ausgelastet wird, müssen ausgewertet werden und sollten der Vergangenheit angehören.

Ich denke, es ist auch im Interesse der Strafvollzugsbeamten, dass wir hier schnell Klarheit über die künftigen Strukturen schaffen. Die Eröffnung von Burg-Madel hat gezeigt, dass persönliche Schicksale und familiäre Situationen damit eng zusammenhängen. Familien müssen gegebenenfalls einen neuen Lebensmittelpunkt finden. Deshalb sollte schnell Klarheit darüber bestehen, welche Justizvollzugsanstalten in Sachsen-Anhalt erhalten bleiben und welche geschlossen werden. Auch das verstehe ich unter Fürsorgepflicht des Dienstherrn.

Das Thema Strafvollzug sollte zumindest im Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung regelmäßig auf der Tagesordnung stehen. Unsere besondere Verantwortung habe ich Ihnen gerade dargestellt. Sie besteht sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch gegenüber den Opfern, aber auch gegenüber den Häftlingen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank für die Einbringung, Frau von Angern. - Bevor wir in die Fünfminutendebatte eintreten, spricht für die Landesregierung Frau Professor Kolb. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Frau von Angern hat in ihrer Einbringungsrede Defizite aufgezeigt, die tatsäch

lich im Bereich des Strafvollzuges bestehen. Ich verstehe natürlich, dass die Opposition nicht dafür verantwortlich ist, auch die positiven Dinge, die in den vergangenen fünf Jahren gemeinsam, auch in diesem Hohen Haus, erreicht worden sind, darzustellen.

Wir haben gemeinsam ein Jugendstrafvollzugsgesetz verabschiedet. Wir haben ein Gesetz für die Untersuchungshaft verabschiedet. Wir haben Burg-Madel gemeinsam mit Leben erfüllt. All das sind Beispiele dafür, dass sich im Strafvollzug in den letzten Jahren vieles verändert hat, aus meiner Sicht auch zum Positiven verändert hat.